Gesine Kulcke: Identitätsbildungen älterer Migrantinnen
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 30.12.2009

Gesine Kulcke: Identitätsbildungen älterer Migrantinnen. Die Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
154 Seiten.
ISBN 978-3-531-16946-0.
24,90 EUR.
Reihe: VS rearch.
Thema
Bisherige, aber auch aktuelle Leitlinien der Migrationsforschung sind immer noch von pathologisierenden und klientelisierenden Paradigmen im Hinblick auf die Lebenswelt von MigrantInnen bestimmt. Insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund werden oft als hilflose und passive Anhängsel der patriarchalischen Herkunftsmilieus betrachtet. Darüber hinaus wurden ältere Migrantinnen in der bisherigen Migrationsforschung ebenfalls kaum beachtet. Das hängt auch mit dem jahrzehntelang gültigen Paradigma „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ der bundesrepublikanischen Ausländerpolitik zusammen. Die Population der MigrantInnen wurde vor allem als ökonomisches Provisorium betrachtet, in dessen Rahmen Einwanderungs- und Alternsprozesse keinen Platz hatten. Doch die zunehmende Verstetigung der Arbeitsmigration und das Vorhandensein älterer Migrantinnen macht Neuausrichtungen sowohl in sozialpolitischer als auch sozialwissenschaftlicher Hinsicht erforderlich. Es fehlen nach wie vor Arbeiten, in denen die MigrantInnen selbst zu Wort kommen und ihre soziale Realität so konstruieren, wie sie sie selbst wahrnehmen. Im Rahmen einer „doppelten bzw. dreifachen Marginalisierung“ (Paß 2006, S. 82, vgl. die Rezension) werden ältere Migrantinnen immer noch mit Problemen des Ausländerseins, Frauseins und Altseins etikettiert.
Entstehungshintergrund
Gesine Kulcke, M.A., studierte Amerikanistik an der Universität Hamburg und am Smith College in Northampton (USA), sowie Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie ist freie Mitarbeiterin am Institut für Medien und Bildung (PH Freiburg).
Die Autorin setzt bei der kurz skizzierten Problemlage innerhalb der Migrationsforschung an. Der spezifische Ausgangspunkt dieser Forschungsarbeit ist insbesondere die generalisierte Darstellung von Migrantinnen und ihrer Herkunftskulturen im Sinne einer kulturalistischen Defizitorientierung. Zentrale Kritikpunkte sind hauptsächlich kulturell legitimierte soziale Ungleichheiten und kulturalistisch vermittelte Annahmen über Parallelgesellschaften.
Kulcke beschreitet mit ihrer Arbeit eine Terra incognita. Ihre qualitative Arbeit ordnet sich mit ihrem explorativen, subjektzentrierten Forschungsansatz in die neuen kritisch-innovativen Forschungsrichtungen der Migrationsforschung ein, indem nicht nur eine Forschungslücke geschlossen wird, sondern auch komplexe, dynamische und ambivalente Lebenswelten älterer Migrantinnen aus einer neuen Perspektive (hier: interkulturelle Medienforschung) betrachtet werden.
In Abgrenzung zur gängigen Bevormundungspraxis in Theorie und Praxis möchte die Autorin in ihrer Arbeit die Migrantinnen selbst zu Wort kommen lassen. Hierzu haben ältere Migrantinnen aus verschiedenen Herkunftskulturen fotografiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht ein exemplarisches Foto, das als „Ausdrucksmittel“ und „Erkenntnisquelle“ bildhermeneutisch analysiert wird. Zu den Fotografien wurden so genannte Fotointerviews geführt, in denen die Fotografinnen ihre eigenen Bilder erläutern: „Die Fotointerviews sind zudem der Einstieg in einen selbstreflexiven Dialog zur Überwindung unreflektierter Alltagsdeutungen in der pädagogischen Interaktion“ (S. 11).
Zentral ist dabei der Gedanke, dass Texte oder Interviews allein nicht ausreichend sind, da Identitätsbildung komplex und unbewusst ist. Erst durch lebensräumliche Fotografien verspricht sich die Wissenschaftlerin einen Zugang zu den Lebenswelten der Probandinnen. Sie konstatiert, „dass Fotografien, die Migrantinnen von für sie persönlich bedeutsamen Orten machen, Identitätsbildungen so offenbaren, dass eine Kommunikation über sie möglich wird. Dabei ist hier nicht allein über das Motiv – also die persönlich bedeutsamen Orte – ein Zugang zu individuellen Identitätsbildungen von Migrantinnen zu erwarten, sondern auch über den bildspezifischen Selbstausdruck“ (S. 10).
Als Methode zur Interpretation des bildspezifischen Ausdrucks werden die Bildanalyseverfahren von Holzbrecher/Tell herangezogen, die auf dem kommunikationspsychologischen Modell zur Analyse verbaler Nachrichten basieren. Um die Deutungspluralität zu erfassen werden vier Ebenen betrachtet: die Sachebene, die Selbstoffenbarungsebene, die Beziehungsebene und die Appellebene.
Kulcke will transkulturelle Identitätsbildungen jenseits von Kulturfixierung und Assimilation aufdecken. Dabei geht sie mit der gesellschaftlichen Zuschreibungsebene und der individuellen Aktivität von einer beidseitigen Öffnung von Identität und Identitätsbildung aus.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus insgesamt sieben Kapiteln (mit verschiedenen Unterpunkten). Nach der themen- und problemfokussierenden Einleitung wird in Kapitel 1 „Identitätsbildung von Migrantinnen“ eine ressourcenorientierte, aktivistische Annahme über den Identitätsbildungsprozess unter Migrationsbedingungen generiert.
In Kapitel 2 „Generalisierende Identitätszuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft“ wird dieser Ansatz mit den dominierenden Paradigmen der Medien, Migrationsforschung und pädagogischen Praxis kritisch konfrontiert.
Im 3. Kapitel „Identitätsbildung sichtbar machen“ wird in die Fotografie als sozialwissenschaftliche Erkenntnisquelle eingeführt. Zudem wird die spezifische Methode präzisiert.
Kapitel 4 „Pädagogisches Setting“ befasst sich mit dem Kontext der Bilderentstehung. In
Kapitel 5 „Exemplarische Bildanalyse“ wird ein ausgewähltes Bild näher betrachtet.In
Kapitel 6 „Fotointerview“ wird die Einzelbildanalyse um ein Fotointerview ergänzt.
Kapitel 7 schließt schließlich mit dem „Resümee“ ab.
Abgeschlossen wird mit dem Anhang und dem Literaturverzeichnis.
Zielgruppen
Das Buch richtet sich an SoziologInnen, ErziehungswissenschaftlerInnen, MedienpädagogInnen und SozialpädagogInnen insbesondere aus dem Bereich der altenspezifischen Migrationsforschung. Sowohl DozentInnen als auch StudentInnen werden darin wichtige Anregungen für ihre Arbeit in der Theorie, aber auch Praxis finden.
Diskussion
Die Autorin zeigt sowohl Chancen als auch Risiken auf, die mit der vorliegenden speziellen Untersuchung verbunden sind. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Bildanalyse als sozialwissenschaftliche Methode nicht unumstritten ist. Verstärkt wird dieser Umstand durch die interessierende Gruppe der älteren Migrantinnen als bisher stark vernachlässigte und fehlinterpretierte Population. Mit der Kombination von Bildanalyse und Interview werden aber hier Fotografien als eine und nicht die Erkenntnisquelle für erziehungswissenschaftliche Fragen im Migrationszusammenhang herausgestellt und somit Kritikpunkte aus dem Weg geräumt. „Die Feststellung, dass es nicht eine Migrantin gibt, sondern viele Frauen mit unterschiedlichen Identitäten, die in Deutschland in der Migration leben“ (S. 9) ist eines der zentralen Ergebnisse dieser Untersuchung. Durch die Fotografien werden die Lebenswelten und damit auch die Identitäten der Menschen kommunizierbar und objektivierbar. In der Arbeit findet ein selbstreflexiver Dialog in und mit der Migrantin statt. Eine besondere Stärke der differenzierten Arbeit zeigt sich in der Erkenntnis, dass in den Bildern und Texten neue Identitäten der Migrantinnen sichtbar werden. Dabei zeigt sich ein wahrgenommenes Bewusstsein für Transkulturalitäten, indem Migantinnen nicht nur einfach Fremde sind, sondern zu „neuen Deutschen“ geworden sind (vgl. Jurecka 1998, S. 65, Mecheril/Teo 1994, S. 9, Brucks 1994, S. 54).
Die besondere Leistung dieses Buches liegt vor allen Dingen darin, dass ein vorurteilsfreier Raum für Selbstdefinitionen und damit zusammenhängende Auseinandersetzungsprozesse geschaffen wird. Mit dieser Arbeit wird die zentrale Idee realisiert, dass das Individuum mit seiner Identität nicht nur fremddefiniert ist, sondern auch die Möglichkeit hat und auch real bekommt, selbst Identitäten zu schaffen und im gesellschaftlichen Zusammenhang präsentieren kann. Damit werden inszenierte Wirklichkeiten zu wahrgenommenen Wirklichkeiten. Die Frauen nehmen ihre Welt in Besitz. Dadurch bekommen sie hier nicht nur eine Sprache (Text), sondern auch Gesichter (Fotos).
Fazit
Es ist zu hoffen, dass weitere MigrationsforscherInnen denselben wissenschaftlichen Mut und dieselbe objektive Perspektive aufbringen, neue Gruppen mit neuen Methoden zu untersuchen. Der Paradigmenwechsel, der sich seit einigen Jahren innerhalb der Migrationsforschung abzeichnet, muss insbesondere im Hinblick auf ältere MigrantInnen weiter forciert werden, da neue Problemlagen neue Perspektiven und Verfahren bedingen. Es wäre schön, wenn diese Arbeit im Rahmen einer größeren Bearbeitung (z. B. als Dissertation) ausgebaut werden könnte, da sie neue Sichtweisen und innovative Verfahren einbringt.
Literatur
- Paß, R.: Alter(n)svorstellungen älterer Migrantinnen: eine explorative Studie über deren biografische Lebensentwürfe, Hamburg 2006
- Jurecka, P.: Ausländische Arbeitnehmer der ersten Generation im Saarland. Eine empirische Untersuchung zu ihrer Lebenslage im Alter. In: IZA, Heft 1, 1998 (S. 64–68)
- Mecheril, P./Teo; T.:Zur Einführung: Andere Deutsche. In: Mecberil, P./Teo, T. (Hrsg.): Andere Deutsche: zur Lebenssituation von Menschen multiethnischer und multikultureller Herkunft, Berlin 1994 (S. 9–23)
- Brucks, U.:Psychosoziale und gesundheitliche Probleme der Migration. In: Cropley, A. J./Ruddat, H./Dehn, D./Lucassen, S. (Hrsg.): Probleme der Zuwanderung: Bd. 1: Aussiedler und Flüchtlinge in Deutschland, Göttingen 1994 (S. 53–71)
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher.
Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe
Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.
Zitiervorschlag
Yalcin Yildiz. Rezension vom 30.12.2009 zu:
Gesine Kulcke: Identitätsbildungen älterer Migrantinnen. Die Fotografie als Ausdrucksmittel und Erkenntnisquelle. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-16946-0.
Reihe: VS rearch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8752.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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