Wolfgang Sander: Über politische Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 27.11.2009
Wolfgang Sander: Über politische Bildung. Politik-Lernen nach dem "politischen Jahrhundert". Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2009. 64 Seiten. ISBN 978-3-89974-565-8. 14,80 EUR.
Autor
Wolfgang Sander war Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit Beginn des Wintersemesters 2008/09 ist er Inhaber des neu eingerichteten Lehrstuhls für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Wien.
Schrift und Schriftenreihe
Die vorliegende Broschur enthält die Antrittsvorlesung Wolfgang Sanders an der Universität Wien; zugleich wird damit eine neue Schriftenreihe eröffnet, die sich „Wiener Beiträge zur Politischen Bildung“ nennt.
Genius loci
Sander erinnert zu Beginn seiner Darlegungen an Alfred Exner, der im Oktober 1891 zum Rektor der Wiener Universität gewählt wurde und seiner Inaugurationsrede den Titel „Über politische Bildung“ gab. Damit prägte er einen Begriff, der bis dahin unbekannt war. Von „staatsbürgerlicher Erziehung“ und „Gesellschaftskunde“ war wohl schon die Rede, aber noch nicht von „politischer Bildung“. Sander nimmt den Vortrag Exners zum Anlass, um eine kritische Zwischenbilanz nach über einhundertjähriger Erfahrung mit „politischer Bildung“ als wissenschaftlichem Gegenstand und universitärer Aufgabe zu ziehen.
Aufbau
Sander geht in vier Schritten vor:.
- Zunächst rekapituliert er die beginnenden Fachdiskussionen um die politische Bildung im ausgehenden 19. Jahrhundert.
- Dann zeichnet er die Entwicklung des Fachs im 20. Jahrhundert nach, die bis zur Ausdifferenzierung eines eigenständigen Fachgebietes führt, das sich,
- „Didaktik der politischen Bildung“ nennt.
- Schließlich skizziert er einige Zukunftsaufgaben der politischen Bildung in der sich entwickelnden Weltgesellschaft.
Nachdenkenswert
Die Vermittlung politischen Wissens gehört zur Kernaufgabe politischen Bildung, ist aber doch nur notwendige Voraussetzung dafür, dass sich ein „politischer Sinn“ entwickeln kann, durch den man erst begreift, dass z. B. die Programme und Parolen der Realpolitik nicht wortwörtlich zu nehmen, sondern unter den Bedingungen der Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu interpretieren sind. Ein durch die Kunst der politischen Hermeneutik entwickelter „politischer Sinn“ ist auch eine effektive Prävention gegen vorschnelle Resignation und Politikverdrossenheit. (vgl. S. 23)
Gegenstandsbereich der Didaktik politischer Bildung ist das „politische Lernen“ mit dem Ziel der „Mündigkeit“ der Lernenden. Denn die „wünschenswerte politische Ordnung“, die Demokratie, ist auf „politisch urteils- und handlungsfähige Subjekte“ angewiesen. (vgl. S. 36)
Politische Bildung in der Schule kann nicht allein Aufgabe eines Faches sein, sondern muss zugleich als Unterrichtsprinzip in allen Fächern sowie als Aufgabe der Schulkultur verstanden werden. (vgl. S. 44) „Politisch sind eben nicht nur das politische System, seine Institutionen und seine Ebenen, politisch können … auch die Arbeitsteilung im Haushalt …, das Tragen von Kopftüchern, die Aussaat gentechnisch veränderter Pflanzen … oder die Beschriftung von Ortstafeln sein.“ (S. 43) – Da der Mensch seit Aristoteles als „zoon politikon“ angesehen wird, kann man das Politische als eine anthropologische Universalie des Menschengeschlechts betrachten.
Aussichten
Das 20. Jahrhundert als ein „politisches Jahrhundert“ zu etikettieren, wie im Untertitel der Schrift, fällt nicht schwer. Zwischen 1917 und 1991 prägte die ideologische Bipolarität zwischen den USA und der Sowjetunion die Zeitläufte.
Dem 21. Jahrhundert wurde vorausgesagt, ein „ökonomisches Jahrhundert“ zu werden, weil die ökonomische Eigenlogik des sich im Zuge der Globalisierung abzeichnenden „freien Weltmarktes“ politische Regulierungen überflüssig machen werde. Doch schon jetzt, in der Frühzeit des neuen Jahrhunderts, hat die akute Kapital- und Finanzmarktkrise diese neoliberalen Prophezeiungen widerlegt. Ohne allerdings den Neoliberalen parteipolitisch zu schaden, wie wir wissen; aber das zu verstehen, ist einem gebildeten „politischen Sinn“ vorbehalten, siehe oben! Auch das 21 Jahrhundert zeichnet sich als ein „politisches Jahrhundert“ ab. (vgl. S. 52ff) Aufgabe der politischen Bildung sollte es sein, so Wolfgang Sander, ihren Beitrag zu leisten, damit der Bürger als nationalstaatlicher Citoyen sich zum weltgesellschaftlichen Citoyen emanzipieren kann. Ökologische Herausforderungen und das „Überleben der Gattung in Würde“ (Club of Rome) rufen nach einer „Weltinnenpolitik“, zu deren Gelingen auch die politische Bildung ihren Beitrag an Fakten- und Orientierungswissen aufbieten sollte, an normativer Menschenrechtsbildung und einer Interaktionskompetenz, die den kategorischen Imperativen Immanuel Kants und Hans Jonas‘ folgt.
Fazit
Das kleine Buch ist ein kompaktes Dossier über Geschichte und Aufgaben der politischen Bildung. Darüber hinaus erfüllt es die Funktion einer Legitimationsschrift, denn die politische Bildung als Gegenstand eigenständiger universitärer Lehre und Forschung scheint noch nicht überall anerkannt zu sein.
Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 27.11.2009 zu:
Wolfgang Sander: Über politische Bildung. Politik-Lernen nach dem "politischen Jahrhundert". Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2009.
ISBN 978-3-89974-565-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8765.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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