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Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamentesüss

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.12.2009

Cover Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamentesüss ISBN 978-3-424-35016-6

Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente. Von Platon bis Sartre. Diederichs (München) 2009. 128 Seiten. ISBN 978-3-424-35016-6. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 27,50 sFr.

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Intellektuelle Signale gegen die entfesselte Geistlosigkeit

Die Klagen über die „Verseichung“ der intellektuellen und kulturellen Ansprüche in der (Alltags-)Gesellschaft, nicht nur in unserer, kommen oft daher als resignatives Achselzucken, aber auch als Programmatiken. Der 1947 geborene Peter Sloterdijk, Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung und Kulturphilosoph an der Wiener Akademie der bildenden Künste, ist einer, der sich mit Achselzucken nicht zufrieden gibt. In seinen Werken, die zu den geistvollsten, akzeptierten wie umstrittenen Darstellungen über philosophisches Denken und Handeln in unserer Zeit gehören, nimmt er immer wieder Bezug auf das Sosein des Menschen im Dasein der Welt, die von medialer Öffentlichkeit (scheinbar) dominiert wird. Dabei hält er es mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814), der festgestellt hat, welche Weltanschauung und „Lebenslehre“ man auch wähle, hänge davon ab, was für ein Mensch man sei. Sloterdijk ist sicherlich einer, der im Gewirre und in den gesellschaftlichen, politischen Auseinandersetzungen in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt nicht nur zuschaut und beobachtet, sondern sich auch öffentlich lautstark äußert; auch als Moderator, zusammen mit Rüdiger Safranski, bei der alle zwei Monate ausgestrahlten ZDF-Kultur-Talkshow „Das Literarische Quartett“, in dem mit jeweils zwei weiteren Gesprächspartnern Grundsatzfragen der Gesellschaft diskutiert werden – und in der „Philosophen“- Reihe des Diederichs Verlags.

Inhalt

Sloterdijk kommt es dabei darauf an, Philosophie verstehbar zu erklären, als „Hör“- Geschichten und in „Lese“- Büchern. Er ist davon überzeugt, dass es in die Philosophie keine (gelehrsame) Einführung geben könne – „vielmehr muss von der ersten Minute an die philosophische Disziplin selber sich vorstellen, als Modus des Denkens fürs erste, als Modus des Lebens in der Folge“. Also: Zuerst kommt das Denken (des zôon logon echon, des sprach- und vernunftbegabten Lebewesens Mensch). Die Nachschau bei den großen Denkern in der Menschheitsgeschichte, von der Antike bis heute, und die Auseinandersetzung mit ihren philosophischen Temperamenten und Querverweisen ist sicherlich ein Wegweiser dafür, zum eigenen Denken zu kommen; und das ist es ja wohl, was philosophieren ausmacht. Wie aber wählt man aus der Bibliothek der Meisterdenker diejenigen und dasjenige aus, was den Logos, das über die Grenzen gehende Denken bemerkenswert macht? Nun: Es ist Dasjenige, das einen Zugang zum originären philosophischen Denken ermöglicht.

Es sind 19 (warum 19?) Philosophen des Abendlandes und damit der europäischen Philosophiegeschichte, mit dem Sloterdijk den „Fackellauf des Denkens“ einleitet: Es ist der griechische Philosoph Platon (427 - 347 v. Chr.) und das „Corpus Platonicum“, das er als das „Gründungsdokument für das gesamte Genre der europäischen idealistischen Philosophie als Schreibweise, als Lehre und als Lebensform“ preist und als einen Meilenstein der Ideengeschichte darstellt. Seine und die seines Lehrers Sokrates deutlichen Verweise darauf, dass der Mensch in der Lage und aufgefordert ist, mit seinem Denken „zur Aufhellung des Zwielichts, das wir bevölkern“, zu verhelfen. Mit einem „Wieder denken“ setzt Sloterdijk einen Halt gegen die Haltlosigkeit unserer Zeit, und mit dem „neu lesen“ eine Mahnung zur „Aktualisierung unserer Intelligenz“.

Mit Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) folgt Platons Schüler, Alexander des Großen (gescheiterter?) Lehrer und „Maestro aller Wissenden“ (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, 2005). Mit der über Jahrhunderte hinweg manifestierten Berufung – „ut ait philosophus“, wie der Philosoph sagt - wird das Werk von Aristoteles zu einer „Portalfigur… am Eingang zu den europäischen Hohen Schulen des Wissens“. Holt man ihm vom akademischen Sockel herunter und befragt ihn nach seiner Bedeutung für das Hier und Jetzt, so wird deutlich „Aristoteles (war) ein Mann der Mitte, (der) als Naturforscher wie als Ethiker … das Wunder des Seins im Stetigen und Normalen verherrlicht (hat)“.

Der Kirchenlehrer Aurelius Augustinus (354 – 430 n. Chr.) gilt als ein bedeutender Philosoph an der Wende zwischen Antike und Mittelalter. Seine Bedeutsamkeit für die Philosophie- und Denkgeschichte sei, so Sloterdijk, dadurch zu begründen, „weil er sich selbst ernst nahm als Exempel eines Menschen, der mit Gottes Hilfe Gott schließlich doch ernster nahm als sich selbst“. Mit der urschuldhaften Bestimmung, „dass sich selbst missfallen muss, wer Gott gefallen soll“, löst Augustinus „die Philosophie von ihrer antiken manischen Konstruktion… und (stellt) sie unter das Patronat der Depression“.

Der italienische Priester, Dichter und Philosoph Giordano Bruno (1548 – 1600) wurde von der römischen Inquisition als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt; 2000 haben der päpstliche Kulturrat und eine theologische Kommission die Hinrichtung als Unrecht deklariert. Sein philosophisches Denken, das Jahrhunderte lang in den kirchlichen Krypten und „Gift“-Kammern versteckt wurde, lässt sich als „die Geburt der Modernität aus dem Geist einer Imaginations-Philosophie“ lesen; dazu aber müsse „die Asche über Brunos Manuskripten weg(ge)blasen (werden), um … die leuchtende Buchstäblichkeit seiner wirklichen Gedanken … (freizusetzen)“.

Es war der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes [(1596 – 1650), der mit dem Bekenntnis „cogito ergo sum“ – ich denke, also bin ich – die Zeitgenossen und Interpreten auf eine Spur lenkte, die seine „Methode“ des Denkens als Rationalismus definierten. Wenn aus „wahren Sätzen immer einerseits gute Gesinnung, andererseits nützliche Maschinen folgen“ müssten, wird in der „Verschränkung von Wissenschaft und Besinnung“ heute mehr denn je philosophisches Denken notwendig.

Der französische Literat und Philosoph Blaise Pascal (1623 - 1662) spricht vom Menschen als einem „denkenden Schilfrohr“, gewissermaßen in der heutigen, neuzeitlichen Welt den „Widerspruch zwischen dem operativen und dem meditativen Geist“ verkörpernd. Seine Nachdenklichkeiten sind es, die der „modernen Verzweiflung“ Stütze geben.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), der „Wissenskünstler“ aus Hannover, jenem Prototypen eines Fürsten der Fürsten-Consultanten, stellt sich, für Sloterdijk, als „Unternehmer des Seienden“ dar; und in der Zukunftsschau als ein Prophet des Optimismus „oder zumindest (als) ein Prinzip des Nicht-Pessimismus“.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“; diese Aufforderung des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724 – 1804)diente sowohl bürgerlichen, als auch revolutionären Ideen als Antriebsriemen. Natürlich gehört Kant zu den Denkmeistern in der Philosophiegeschichte. Es ist die Unabhängigkeit menschlichen Denkens von göttlicher Macht, wie auch von herrschaftlicher Despotie, das ihm zum „Welt-Bürger“ macht, im freilich bürgerlichem und anthropologischem Sinne – indem er zur „Selbsterziehung verdammt“ ist.

Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814) hat als Philosoph und Lehrer des Idealismus uns eine Aufforderung aufgegeben, die heute, in der globalisierten Welt dringlicher und notwendiger denn je ist: „Du musst dein Leben ändern“; was mit dem lokal-globalen Verdikt des Perspektivenwechsels zum Ausdruck kommt. Dieser idealistische Anspruch reicht weit über die individuelle Verantwortlichkeit hinaus und mündet in die gesellschaftliche und globale Verpflichtung: „Verwende dich selbst für die Hervorbringung einer besseren Welt“. Es ist an der Zeit, sich an die Fichtesche Einheit von „Vernunft, Moralität und Weltlauf“ zu erinnern.

Wenn von Fichte die Rede ist, darf die über Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) nicht fehlen. Der „Vollendungsphilosoph“ setzte mit der Erkenntnis, dass man am Ende sein müsse, um die Wahrheit zu sagen, Platons Erkenntnislehre fort: Erkennen heißt sich erinnern – begreifen meint rekonstruieren“. Damit ist Geschichte nicht zu Ende, sondern sie ist nur mit einer „Zukunftsorientierung“ zu verstehen.

Als dritter im Bund der Vertreter der Philosophie des deutschen Idealismus ist Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von Schelling (1775 - 1854) zu nennen. Mit seinen, naturphilosophisch bestimmten „Weltgedanken“ entdeckt er „das Motiv jener ermöglichenden Vergangenheit…, ohne die es die für das Denken der Moderne maßgeblichen Kategorien des Unbewussten und der kognitiven Evolution nicht gäbe“.

Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) hat sich mit seiner „Lehre von der Resignation des Willens“ von der antiken Festlegung verabschiedet, dass das „Allerwichtigste … ein göttliches vernünftig-gerechtes Geistwesen“ sei. Vielmehr liege der „Welt ein unvernünftiges Prinzip zugrunde“. Seine Entdeckung der asiatischen Weisheitslehren, vor allem des Buddhismus, warten im westlichen, philosophischen Diskurs weiterhin auf Beachtung.

Der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller Søren Aabye Kierkegaard (1813 - 1855), steht mit für die Datierung „nach Hegel“, als „Protest gegen die geschichtsphilosophische Idylle“. Die Erfahrung der Zeitgenossen, dass „das Vernünftige noch nicht das Wirkliche ist, und das Wirkliche noch nicht das Vernünftige“, lässt Kierkegaard nur die Möglichkeit, „im Akt des Glaubens… über den Abgrund der Unglaublichkeit christlicher Doktrinen hinweg(zu setzen)“ und damit das Zeitalter des Zweifels, des Verdachts und der schöpferischen Entscheidung einzuläuten.

Karl Heinrich Marx (1818 - 1883) hat mit seiner Kritik am Kapitalismus die (gefangenen) Menschen von der Herrschaft der Strukturen und Systeme befreien wollen. Sloterdijks Einordnung von Marx als Meisterdenker der Philosophiegeschichte korrespondiert mit dem Versuch „Marx gegen seine bewaffneten Liebhaber zu verteidigen“; gleichzeitig aber mit der Frage nach einem möglichen heutigen Sinn der Marxschen Schriften für den heutigen philosophischen Diskurs. Die kryptische Frage nach der Bedeutung der Marxschen „Kritik der proletarischen Vernunft“ bleibt vage.

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900) scheidet mit seinem Werk die Freunde und Gegner unversöhnlich voneinander. Einig sind sie sich darin, dass Nietzsches Schriften einen „geistesgeschichtlichen Wendepunkt zur ästhetischen Weltanschauung“ darstellen. Seine psychagogischen Lehren sind es, die das Individuum veranlassen sollen, „den Horizont ihrer bisherigen Erziehung zu überschreiten“ – und aus dem „Halbfabrikat, das Mütter und Lehrer in die Welt entsenden, ein autoplastisch sich fortbildendes Ich-Kunstwerk zu schaffen“. Für die (ungewisse) Zukunft der Menschheit hat er den Rat parat, dass die „aktuelle Kultur ein Erziehungs- und Selbsterziehungssystem erfinden muss, das globalwelttaugliche Individuen in hinreichend hohen Zahlen“ hervorzubringen imstande wäre.

Der österreichisch-deutsche Philosoph Edmund Husserl (1859 - 1938) hat mit seiner Phänomenologie, der „denkenden Selbstwahrnehmung“, in der Philosophie- und Intellekt-Geschichte Denken und Schreiben zur Synthese gebracht; gewissermaßen den Schreibtisch, an dem ein (wirklicher) Philosoph sitzt, als „Fenster zur Wesenswelt“ verwandelt.

Ludwig Josef Johann Wittgenstein (1889 - 1951), österreichisch-britischer Philosoph, hat Zeit seines Lebens darüber gestaunt, „nicht wie die Welt, sondern dass die Welt ist“. Seine Notizen, die selten zu fertigen Sätzen wurden, aber sind es, die den Meisterdenker des 20. Jahrhunderts zum „Sponsoren der künftigen Intelligenz“ machen.

Mit der Geschichte sich von der Geschichte entbinden, das war wohl das Motto von Jean-Paul Sartre (1905 – 1980), der als Vordenker und Hauptvertreter des Existentialismus gilt. Es war die Erkenntnis von der „bodenlosen Freiheit“ des Menschen, die ihm zu einem Meisterdenker der europäischen Freiheitsphilosophien machte.

Natürlich darf in dieser unvollständigen Aufzählung der französische Philosoph, Psychologe, Historiker, Soziologe und Begründer der Diskursanalyse, Michel Foucault (1926 - 1984), nicht fehlen. In der langen Linie der Philosophen, die in ihrem Denken „von unten“ das „von außen“ hinzufügten, die sich im 20. Jahrhundert in verschiedene Antworten ausprägten, wie sie Sloterdijk aufzählt: der relativistische Neopragmatismus, die postmarxistische Theorie des kommunikativen Handelns, die Leibphilosophie der neophänomenologischen Schule, die dekonstruktivistische Textkritik, die soziologische Systemkritik, die neokrynische Ästhetik des Alltäglichen, gelingt Foucault, eine „Geschichte der Blitze“ zu schreiben; neu zu schreiben, indem er die Theorie der Freiheit „nicht mehr im Stil einer philosophischen Theologie der Befreiung alias Entfremdungstheorie, sondern als eine Lehre von dem Ereignis (formuliert), das den einzelnen freigibt und in dem er sich selbst gestaltet und aufs Spiel setzt“.

Fazit

Die anspruchsvollen Skizzen dieser „Denker-Vignetten“ bringen in den Worten Sloterdijks Ausweise und Querverweise zu den Werken der ausgewählten „Meister-Denker“ in der Philosophiegeschichte zu Tage. Es sind dabei nicht die vielfach bekannten und in den Philosophiegeschichten vielfältig abgedruckten und zitierten Texte, sondern „Charakterstudien und intellektuelle Portraits“, die die Reflexionen des Meister-Denkers Sloterdijk über seine philosophischen Vorfahren und Widerparte zu einem bemerkenswerten und für „Denker-Lehrlinge“ und „Nach-Denker“, wie du und ich, hilfreiche Anregungen anbieten.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1633 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.12.2009 zu: Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente. Von Platon bis Sartre. Diederichs (München) 2009. ISBN 978-3-424-35016-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8795.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.


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