Tino Seeber: Weblogs - die 5. Gewalt?
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 08.01.2010
Tino Seeber: Weblogs - die 5. Gewalt? Eine empirische Untersuchung zum emanzipatorischen Mediengebrauch von Weblogs.
Hülsbusch
(Boizenburg) 2008.
128 Seiten.
ISBN 978-3-940317-23-0.
D: 25,50 EUR,
A: 26,21 EUR,
CH: 39,90 sFr.
Reihe: Web 2.0.
Wäre Brecht heutzutage ein „Blogger“?
Wahrscheinlich, denn bereits in den 1920er Jahren forderte Bertolt Brecht in seiner bekannten »Radiotheorie«, dass der Rundfunk sich von einem Distributions- zu einem Kommunikationsapparat entwickeln müsse, um gesellschaftlichen Wandel voranzubringen. Seine Idee vom Hörer als „Mitspieler“ und das In-Beziehung-Setzen der Rezipienten, sprich Zuhörer, scheint rückblickend weniger durch den Rundfunk als durch das Internet eingelöst worden zu sein. Und zwar in Gestalt des Web 2.0, welches auch den rasanten Aufstieg der so genannten „Weblogs“, kurz „Blogs“, befördert hat. In diesen Web-Logbüchern zu privaten, sozialen, politischen oder kulturellen Themen vermutet der Autor Tino Seeber eine neben der traditionellen Presse erstarkende Mediengattung. Mit Hilfe seiner empirischen Untersuchung unter aktiven Bloggern und Blog-Lesern möchte er die Hypothese überprüfen, ob sich Blogs tatsächlich als Formen eines emanzipatorischen Mediengebrauches erweisen.
Autor
Tino Seeber, Jahrgang 1978, studierte Medienwirtschaft, lehrte an der Universität Madrid und lebt derzeit in Berlin. Seeber ist als Betreiber des Weblogs „NYblog [1]“ selbst ein aktiver Teil der Szene, über die er schreibt. Weniger bekannt ist, dass Seeber aufgrund seiner kritischen Blogger-Tätigkeit im Jahre 2007 beinahe eine Abmahnung seiner Universität, der TU Ilmenau, riskiert hätte [2]. Weitere Informationen über den Autor unter http://tinoseeber.de.
Entstehungshintergrund und ergänzende Materialien
Die Veröffentlichung basiert auf einer Diplomarbeit, die der Autor 2007 an der TU Ilmenau vorgelegt hat. Weitere Materialien zum Buch (z.B. das Inhaltsverzeichnis, die Weblinks des Literaturverzeichnisses und der Fragebogen zur empirischen Erhebung) lassen sich auf der Webseite des Verlages [3] abrufen.
Aufbau und Inhalt
Die Veröffentlichung ist im Stil einer wissenschaftlichen Arbeit aufgebaut:
In einer knappen Einleitung skizziert Seeber die Relevanz sowie das Ziel seiner Abhandlung und gibt einen kurzen Überblick über den Aufbau der Arbeit. Mit Blick auf bestehende Ansätze der noch jungen Weblog-Forschung kommt der Autor zu dem Schluss, dass der emanzipatorische Aspekt der Blog-Nutzung bislang eine Forschunglücke darstellt.
Teil 2 – die “Beschreibung des Forschungsstandes“ – versucht, „Weblogs“ oder kurz: „Blogs“ aus einer technischen Perspektive zu definieren. Da Seeber zugeben muss, dass es schwierig sei, eine knappe, eindeutige Definition (z.B. chronologischer Aufbau, fortlaufende Aktualisierung durch eine Person oder eine kleine Gruppe) anzuführen, ergänzt er diese Beschreibung um typische Strukturmerkmale (wie z.B. Posts und Permalinks). Im Ergebnis wird der Begriff „Blog“ recht anschaulich herausgearbeitet.
“Das Weblog-Phänomen“ ist Thema des dritten Teils. Hier geht Seeber bis auf die Anfänge der Blogosphäre, Mitte der 1990er Jahre, zurück und stellt Weblogs unter dem Aspekt einer sich verändernden Online-Kommunikation dar. Des Weiteren geht der Autor auf verschiedene individuelle Motive von Bloggern ein, wie z.B. Aufmerksamkeit und Anerkennung zu gewinnen oder Öffentlichkeit für Themen herzustellen. Anschließend fasst Seeber die Blog-Landschaft nach Typologien zusammen, z.B. zu Experten-Blogs, Warblogs oder Corporate Blogs als Medien der Außendarstellung von Firmen.
In Teil 4 wird ein “Theoretischer Bezugsrahmen“ aufgespannt, der vom Medienbegriff über psychologische Erklärungsmodelle der Mediennutzung bis hin zu politisch ausgerichteten Medienkonzeptionen, im Sinne der Aktivierung ansonsten passiver Medienkonsumenten (Brechts Radiotheorie, Enzensbergers medientheoretischer Baukasten), reicht und in Überlegungen zu einem emanzipatorischen Nutzungsmodell von Weblogs mündet. Dabei hält der Autor den Uses-and-Gratifications-Ansatz (Medien werden von Menschen absichtsvoll in einem Zweck-Nutzen-Zusammenhang verwendet) für „geradezu prädestiniert“ (Seite 46) zur Erforschung des Weblog-Phänomens.
Der eigentlichen Studie widmet sich dann Teil 5 – “Methodik der empirischen Untersuchung„: Anknüpfend an die Zielstellung aus Kapitel 2 formuliert Seeber hier seine drei Forschungshypothesen, die sich darauf beziehen, dass „Blogger“, d.h. aktive Weblog-Autoren
- eine den herkömmlichen Medien (wie Tageszeitung oder Fernsehen) kritische Haltung gegenüber vertreten,
- selbst mediale Inhalte produzieren und
- das Bloggen als alternative Mediennutzung verstehen (in diese Fragestellung sind auch die reinen Blog-Leser eingeschlossen).
Anschließend stellt der Autor verschiedene testtheoretische Aspekte seines Fragebogens dar, mit dessen Hilfe er zwischen Februar und Mai 2007 Daten von 676 aktiven Bloggern und 426 Blog-Lesern im deutschsprachigen Raum erhoben hat, um die vorgenannten Hypothesen zu überprüfen. Eine typische Fragestellung, die auf einer fünfstufigen Skala nach dem Grad der Zustimmung gewertet werden sollte, ist z.B.: „Ich blogge, um Diskussionen anzuregen“. Der gesamte Fragebogen kann separat zum Buch online [4] abgerufen werden.
Der sechste Teil bringt dann die ausführliche “Ergebnisdarstellung“, wobei die Hypothesen des Autors im Wesentlichen bestätigt werden – was die landläufige Betrachtung des Weblogs als ‚privates Tagebuch‘ ernsthaft in Frage stellt. Darüber hinaus werden zahlreiche Detailinformationen zur Blogger-Szene geliefert, etwa bezüglich der soziodemografischen Daten (z.B. Alter, Bildungsniveau) oder hinsichtlich der Motivationen, ein Weblog zu betreiben.
Die mit zwei Seiten äußerst knappe “Diskussion“ der Ergebnisse in Teil sieben fasst die wesentlichen Erkenntnisse der Studie noch einmal zusammen. Hervorhebenswert ist für Seeber insbesondere der Befund, dass die Blog-Anwendungen „massenhaften emanzipatorischen Mediengebrauch in Gang gesetzt“ (Seite 101) hätten.
Der knapp zehnseitige Anhang bringt Materialien, die nicht im Text der Arbeit untergebracht werden konnten: Grafiken zum “Stand der Blogosphäre“ (aus 2006/2007), Kurz-Interviews, die den Einsatz von Blogs im Marketing und einer Online-Redaktion zum Thema haben, sowie eine Reihe von Grafiken, benannt als “Sonstige Auswertungen“, die im Rahmen der Studie angefertigt wurden. Ergänzend zum Literaturverzeichnis sei auf ein separates Personen- und Sachregister hingewiesen, wobei Brecht und Enzensberger allerdings die beiden einzigen darin aufgeführten Personen sind.
Diskussion
Insgesamt macht Seebers Arbeit einen aufgeräumten, „smarten‘ Eindruck: „In der Kürze liegt die Würze“ – dieses Sprichwort scheint sich bei dieser Veröffentlichung zu bestätigen. Dies wird nicht nur durch den kompakten Umfang von rund 120 Seiten bewirkt, sondern auch durch eine stringente und flüssige Form der Darstellung.
Der Aufbau orientiert sich an einer klassischen wissenschaftlichen Arbeit, ohne jedoch trocken oder formal zu wirken. Stilistisch störend erscheint allenfalls der Gebrauch des Pluralis Majestatis im Untersuchungsteil oder ein gelegentlich gestelzt wirkender Gebrauch von Reflexivpronomen. Dies ist angesichts der ansonsten sehr engagierten und interessanten Darstellung aber leicht zu verschmerzen.
Mit dem Rückgriff auf Brecht und Enzensberger eröffnet Seeber eine interessante Perspektive auf das Phänomen Web 2.0 und zeigt, dass dieses Thema nicht erst seit 2004 präsent ist, sondern namhafte geistesgeschichtliche Vordenker besitzt. Ebenso stringent wie souverän zieht der Autor wissenschaftliche Erklärungsmodelle sowie aktuelle Forschungsergebnisse heran und schneidet sie auf seine Fragestellung zu.
Dabei ist es Seebers Verdienst, Weblogs auch im deutschsprachigen Raum als kritischen Gegenentwurf zu den traditionellen Medien fundiert nachzuweisen. Daher kann die Frage des Buchtitels insofern als beantwortet gelten, als dass dieser Spielart des Web 2.0 durchaus ein emanzipatorischer Aspekt innewohnt, der angesichts seiner gesellschaftlichen Reichweite durch den herkömmlichen Ausdruck „Web-Tagebuch“ nur unzureichend erfasst wird.
Was den Begriff „fünfte Gewalt“ im Buchtitel anbelangt, so wird diese allerdings nicht näher erläutert. Viel mehr scheint Seeber stillschweigend auf einen zitierten, ganz ähnlich betitelten SZ-Artikel [5] zu rekurrieren. Was diese fünfte Gewalt staatstheoretisch sein oder leisten soll, bleibt also nur zu vermuten.
In der empirischen Untersuchung überwiegt die deskriptive – und weniger die hypothesentestende – Statistik. Hier vermag Seeber interessante Einblicke in die Blogger-Szene zu geben, etwa in der Darstellung der oben erwähnten soziodemografischen Daten. Der Text wird durch zahlreiche Grafiken (teils farbig) und Tabellen unterstützt.
Wenn es auch nicht den Inhalt an sich betrifft, so fällt doch der solide Einband dieser Publikation positiv auf: Zusammen mit dem Index und der übersichtlichen Struktur lädt das Buch geradezu ein, auch nach der eigentlichen Lektüre als Arbeitsbuch oder Ideengeber zur Hand genommen zu werden. Bei dieser aufwändigen Aufmachung wäre es sogar stimmig gewesen, den Anhangteil um den Abdruck des gesamten Fragebogens zu erweitern.
Insgesamt schließt Seebers Forschungsarbeit zum emanzipatorischen Mediengebrauch am Beispiel Weblogs eine Forschungslücke. Zum einen geht der Autor mit seiner fundierten empirischen Untersuchung über das rein theoretische Postulat des „Mitmachnetzes“ Web 2.0 hinaus. Zweitens bringt er mit dem emanzipatorischen Aspekt unter Einbezug des Uses-and-Gratifications-Ansatzes eine interessante Perspektive in die wissenschaftliche Beschäftigung mit Weblogs in Richtung politische Partizipation und Bürgerjournalismus ein. Ob dies alles schon dazu berechtigt „massenhafte“ emanzipatorische Nutzung zu diagnostizieren (Seite 101), sei hier mal dahingestellt. Auf jeden Fall ist es Seebers Studie zu wünschen, dass sie in Zukunft eine Reihe weiterer – ebenso interessanter – Forschungsarbeiten anzuregen vermag.
Fazit
In seiner explorativen Studie zum emanzipatorischen Mediengebrauch verknüpft Tino Seeber interessante theoretische Perspektiven mit aufschlussreichen empirischen Befunden zur Funktion und Nutzung von deutschsprachigen Weblogs.
[1] http://nyblog.de [Stand: 22.12.2009]
[2] http://www.medienrauschen.de/archiv/ilmenauer-blogger-vom-rektor-abgemahnt-stipendium-gestoppt-exmatrikultion-angedroht/ [Stand: 22.12.2009]
[3] http://www.vwh-verlag.de/vwh/?p=206 [Stand: 22.12.2009]
[4] http://www.vwh-verlag.de/vwh/wp-content/uploads/2008/04/a_fragebogen.pdf [Stand: 22.12.2009]
[5] Petra Steinberger: Web-Blogging. Die fünfte Gewalt. Süddeutsche Zeitung vom 15.7.2004 http://www.sueddeutsche.de/kultur/317/406094/text/ [Stand: 22.12.2009]
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
Website
Mailformular
Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.
Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 08.01.2010 zu:
Tino Seeber: Weblogs - die 5. Gewalt? Eine empirische Untersuchung zum emanzipatorischen Mediengebrauch von Weblogs. Hülsbusch
(Boizenburg) 2008.
ISBN 978-3-940317-23-0.
Reihe: Web 2.0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8797.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.