Simone Munsch: Binge Eating. Kognitive Verhaltenstherapie bei Essanfällen
Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Peter Michels, 10.06.2003

Simone Munsch: Binge Eating. Kognitive Verhaltenstherapie bei Essanfällen.
Beltz Psychologie Verlags Union (PVU)
(Weinheim) 2003.
244 Seiten.
ISBN 978-3-621-27531-6.
39,90 EUR.
(Materialien für die klinische Praxis).
Thema
Viele Menschen in Europa, den USA und weiteren Ländern mit einem Nahrungsüberangebot sind zu dick, übergewichtig oder gar adipös. Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder nehmen zu viel und zu fetthaltige Lebensmittel zu sich. Dazu kommt, dass in diesen Ländern ein Großteil der Erwerbsarbeit wenig Bewegung erfordert. Verhalten sich die Menschen dann noch in ihrer Freizeit passiv, führt das häufig zu einer unausgewogenen Energiebilanz.
Die Adipositas als solche gilt aber noch nicht als psychische Krankheit. Sollte sie jedoch mit unkontrollierbaren Essanfällen einhergehen, oder auf diese zurückzuführen sein, dann liegt eine psychische Störung bzw. Essstörung vor.
Im deutschsprachigen Raum werden diese Art der Essanfälle von einigen Forschern und Therapeuten - wie im Amerikanischen - als Binge Eating Disorder (BED) bezeichnet. "Binge" heißt wörtlich übersetzt "Sauferei", im hier abgehandelten Kontext bedeutet es soviel wie "Fressen".
Mit BED wird eine Essstörung bezeichnet, bei der die Betroffenen unterschiedlich große - meist riesige - Mengen Lebensmittel aufnehmen. Sie vertilgen wahllos verschiedene Nahrungssorten und hören häufig erst dann auf, wenn sie ein belastendes Völlegefühl verspüren. Die Essattacken scheinen fast zwanghaft und unkontrollierbar abzulaufen sowie mit Schuldgefühlen verbunden zu sein - analog zu denen bei Bulimia nervosa. Die Gegenmaßnahmen, die Personen mit BED treffen, sollen sich von denen von Bulimikern unterscheiden: Nach dem Anfall wird das Essen nicht erbrochen oder auch keine Abführmittel zur Gewichtsreduktion eingesetzt, sondern es werden eher "harmlosere" Kompensationsversuche unternommen: Zeitweise Einschränkungen im Essen oder auch kurzzeitige körperliche Aktivitäten, um Kalorien zu reduzieren.
Die BED ist als eigenständige Störungsform noch umstritten und bisher weitgehend unbekannt. Es wird berichtet, dass sie bei einem großen Teil Adipöser auftritt: In klinischen Populationen von Personen mit einem Body Mass Index (BMI) von über 30 sollen es im Schnitt ca. 30% und mehr sein. Auch manche Normalgewichtige können unter einer solchen Essstörung leiden.
Aufgrund unzureichender empirischer Befunde wird die BED noch nicht als offizielle Störung geführt (im DSM IV wird sie als vorläufige Kategorie angeführt, die weiterer Forschung bedarf; Munsch bezieht sich auf Kriterien des DSM-IV-TR). Manche Forscher sehen die BED weniger als eigenständiges Störungsbild, sondern als eine weniger ernsthafte Version der Bulima nervosa, weil zwischen ihr und dem Nicht-Purging-Typus der Bulimia (Gegenmaßnahmen bei diesem Subtypus sind Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung, um eine Gewichtszunahme zu verhindern) viele übereinstimmende Aspekte gefunden werden können.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil des Buches werden die Grundlagen der BED dargestellt: Munsch schildert das Erscheinungsbild der BED und informiert über Epidemiologie und Komorbidität. Prägnant werden die Klassifikation und Diagnostik erörtert. Sie stellt Erklärungsansätze vor, wobei sie auf auslösende und aufrechterhaltende Faktoren eingeht. Der erste Teil schließt mit einem Kapitel zur Therapieforschung ab.
In Teil II stellt Munsch ihr manualisiertes Therapiekonzept vor. Es ist störungsspezifisch und verhaltenstherapeutisch ausgerichtet.
Munsch hat ein 16 Sitzungen umfassendes Programm entworfen, das sich zur Gruppen- wie Einzeltherapie eignet. Die Behandlung der Essstörung steht am Anfang, im Anschluß daran wird erst auf die Adipositasproblematik eingegangen.
Zunächst sollen die Teilnehmer lernen die Auslöser ihrer Essanfälle zu identifizieren. Kennen sie ihre kritischen Situationen, lassen sich individuell abgestimmte Strategien entwickelt, die es den Betroffenen ermöglichen sollen
(1) vorbeugende Maßnahmen zu treffen oder
(2) wenn sie doch auf einen Anfall zu steuern, diesen im Prozeß aufzuhalten.
Weiterhin sollen die Betroffenen durch Übungen zum "Körperkonzept" eine positivere Haltung zu ihrem Körper bzw. zu sich selbst entwickeln.
Die Therapie der Adipositas basiert im wesentlich auf Strategien der Ernährungsumstellung, hin zu einer fettnormalisierten Ernährung, und Anleitungen zu Bewegungsformen, die auf "fatburning" zielen.
Fazit
Munsch hat ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual vorgelegt, das - ebenso wie viele andere Programme und Diätkonzepte - von den Patienten Kontrolle und Selbstkontrolle fordert.
Rezension von
Prof. Dr. Hans-Peter Michels
Dipl.-Psychol.
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