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Clemens Bohrer, Bernadette Schwarz-Boenneke (Hrsg.): Identität und virtuelle Beziehungen im Computerspiel

Rezensiert von Dipl.-Soz.Päd. Thomas Molck, 03.09.2010

Cover Clemens Bohrer, Bernadette Schwarz-Boenneke (Hrsg.): Identität und virtuelle Beziehungen im Computerspiel ISBN 978-3-86736-082-1

Clemens Bohrer, Bernadette Schwarz-Boenneke (Hrsg.): Identität und virtuelle Beziehungen im Computerspiel. kopaed verlagsgmbh (München) 2010. 208 Seiten. ISBN 978-3-86736-082-1. 16,80 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Grundlage des Sammelbandes war die Tagung „Leben im Netz - Identitäten und virtuelle Beziehungen im Computerspiel“, die 2009 an der katholischen Akademie des Bistums Mainz in Kooperation mit der Uniklinik Mainz stattfand. Basis der interdisziplinären Arbeit auf dieser Tagung waren Forschungsergebnisse der Ambulanz für Spielesucht der Universitätsklinik Mainz. Auf der Tagung wie auch im Sammelband beschäftigen sich daher sehr unterschiedliche WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Blickwinkeln mit Computerspiel und Computerspielsucht. Der Entstehungshintergrund und die Ergebnisse werden von den HerausgeberInnen in ihrer Einleitung erläutert und zusammengefasst.

HerausgeberInnen und AutorInnen

HerausgeberInnen des Sammelbandes sind Dr. Clemens Bohrer, Referent für Neue Medien am Zentrum für Lehrerbildung und Schul- und Unterrichtsforschung der Universität Frankfurt und Dr. Bernadette Schwarz-Boenneke, Studienleiterin für Philosophie und systematische Theologie an der katholischen Akademie des Bistums Mainz.

Die AutorInnen der einzelnen Beiträge sind u.a. Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Medienwissenschaftler und Theologen. Sie werden im folgenden Abschnitt im Kontext ihres Beitrages kurz vorgestellt.

Inhalt

Prof. Dr. Manfred E. Beutel ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Pyschosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz und Dipl.-Pysch. Klaus Wölfing ist dort der psychologische Leiter der Ambulanz für Spielsucht. Gemeinsam mit den MitarbeiterInnen der Klinik Julia Hoch, Kai Müller und Anke Quack führen sie mit dem Beitrag “Computerspiel und Internetnutzung“ in die Thematik ein. Sie erläutern die Faszination und das Suchtpotential von Computerspielen, insbesondere von Online-Spielen. Ausgehend von der internationalen Klassifizierung des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-IV-TR) formulieren sie sieben Kriterien um ein missbräuchliches und abhängiges Computerspiel abzugrenzen und stellen Ergebnisse entsprechender empirischer Studien vor.

Prof. Dr. Winfred Kaminski ist Professor für Kulturpädagogik an der der FH Köln. In seinem BeitragSpielerischer Ernst oder ernste Gefahr?“ setzt er sich mit dem grundlegenden Charakter des Spiels und der Differenz zwischen Spiel und Lernen auseinander. Spielen funktioniert für ihn nur um des Spielens willen und lässt sich daher nicht sinnvoll für schulische Zwecke nutzen, da hier ein anderes Ziel verfolgt wird und damit eine andere Haltung nötig ist. Die Grundprinzipien des Spiels sieht er im Computerspiel auf technologischer Basis fortgeführt und fordert daher, Computerspiele ebenso als Kulturgut zu verstehen und zu archivieren, wie ältere Spiele.

Olaf Zimmermann ist Geschäftführer des deutschen Kulturrates. In seinem Beitrag “Kunst hat ein gewisses Suchtpotenzial“ hebt er hervor, dass Computerspiele auch ein neues künstlerisches Medium sind und ebenso wie ältere Kunstgattungen – wie z.B. Romane – auch süchtig machen können. Ebenso wie bei den Romanen geht er davon aus, dass sich die Sorge über das Suchtpotential von Computerspielen relativieren wird, denn „Kunst hat, und das ist das Schöne daran, ein gewisses Suchtpotential“ (S. 41).

Prof. Dr. Dr. Klaus Müller ist Professor für Philosophische Grundfragen der Theologie an der Universität Münster. In seinem Beitrag “Von Parmenides zu Ovid“ unterzieht er Neue Medien einer „philosophischen Daten-Kritik“ (S. 50). Er setzt sich auseinander mit der Bedeutung der Virtualität, der Frage nach Schein und Sein, wahr oder falsch, unter Bezugnahme auf entsprechende Diskussionen in der Philosopie und Theologie.

Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs ist Professor für Psychiatrie und und Psychotherapie an der Universitätsklinik in Heidelberg. In seinem Beitrag “Der Schein des Anderen“ beschäftigt er sich ebenfalls mit Virtualität, indem er sie der leiblichen Realitätserfahrung gegenüberstellt. Nur die leibliche Erfahrung, in der die Realität dem Individuum als etwas widerständiges gegenübertritt und die Kommunikation alle Sinne einbezieht, ermöglicht für ihn sinnliche Erfahrung, Empathie und emotionales Engagement.

Prof. Dr. Mike Sandbothe ist Mitbegründer der neuen Disziplin der Medienphilosophie/Mediologie. Er lebt und arbeitet als freier Autor und kulturpolitischer Medienberater in Hamburg. In seinem Beitrag “Computerspielsucht und Suchtkultur“ kritisiert er eine zu starke Orientierung an Klassifikationssystemen wie z.B. dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-IV-TR) aus der Sicht des Pragmatismus. Entscheidend sei nicht die Frage, aufgrund welcher Klassifikation Computerspiel als Sucht bezeichnet werden kann, sondern inwieweit es der Heilung dient, von einer Sucht auszugehen. Die von Beutel et al. im ersten Beitrag entwickelten Kriterien der Sucht sieht er auch in vielen nicht pathologisierten Tätigkeiten des Alltags.

Dr. Alexander Gröschner ist wiss. Assistent am Lehrstuhl Pädagogische Psychologie des Instituts für Erziehungswissenschaft der Universität Jena. In seinem Beitrag “Suchtkultur versus Lernkultur?“ stellt er „Pragmatische Überlegungen zu den Risiken und Chancen von Computerspielen im Kindes- und Jugendalter“ (S. 83) an. Zunächst stellt auch er die Motivation und Faszination der Computerspiele für Kinder und Jugendliche auf der Grundlage einschlägiger Studien dar und verortet Computerspiele damit zunächst jenseits pathologisierender Zuschreibungen um dann das Suchtrisiko davon abzugrenzen und einen sinnvollen ganzheitlichen therapeutischen Umgang damit einzufordern.
Auf der anderen Seite nimmt er aber auch medienpädagogische und –didaktische Chancen von Computerspielen für eine neue Lernkultur in den Blick, z.B. im game-based-learning. Diese differenziert er in eher auf kognitive und eher auf motivational-affirmative Lernprozesse zielende Lernarrangements und zitiert Studien, nach denen die Vorteile des Lernens mit games eher im motivational-affirmativen Bereich liegen. Auf dieser Grundlage formuliert er abschließend zusammenfassend eine pragmatische Perspektive zu den Risiken und Chancen von Computerspielen bei Kindern und Jugendlichen.

Dipl.-Psych. Klaus Wölfling, Kai W. Müller und Prof. Dr. Manfred E. Beutel fassen im abschließenden Beitrag “Computerspiel- und Onlinesucht“ die Diskussion der Tagung und des Sammelbandes zusammen und beziehen sie noch einmal explizit auf die psychotherapeutischen Erfahrungen, die sie in der Ambulanz für Spielsucht an der Uniklink in Mainz gesammelt haben.

Diskussion und Fazit

Die Beiträge in diesem Sammelband führen Positionen, Praxiserfahrungen, Forschungsergebnisse und theoretische Modelle aus sehr unterschiedlichen Richtungen zusammen. So gelingt tatsächlich eine interdisziplinäre Diskussion zur Einschätzung und zum Umgang mit Computerspielsucht. Diese ist gut geeignet zum Einstieg in das Thema für Studierende, PädagogInnen und PsychologInnen und andere die sich professionell in der Praxis und/oder Forschung und Lehre mit dieser Sucht befassen wollen. Durch die unterschiedlichen Blickwinkel der AutorInnen werden auch offene Fragen und Widersprüchlichkeiten in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung deutlich, was eine aktive eigene Auseinandersetzung und Positionsbestimmung des oder der LeserIn befördert.

Allerdings wird in dieser Vielfalt auch deutlich, dass die AutorInnen sehr unterschiedlich ‚nah‘ an der Praxis der ComputerspielerInnen sind. Während die AutorInnen Manfred E. Beutel, Klaus Wölfing, Julia Hoch, Kai Müller und Anke Quack, die aus der Ambulanz für Spielsucht an der Uniklinik in Mainz berichten, u.a. mit vielen Beispielen von Betroffenen eine sehr praxisnahe Sicht aufzeigen und auch ihre theoretischen Ansätze der Klassifizierung, Diagnose und Therapie auf dieser Grundlage entwickeln, sind die Beiträge aus dem Blickwinkel des Pragmatismus von Mike Sandbothe und Alexander Gröschner, schon etwas theoretischer, wenngleich auch sie mit der Darstellung von Ergebnissen empirischer Studien einen Praxisbezug herstellen. Beide Sichtweisen sind aber für die praktische Arbeit mit süchtigen wie auch mit nicht-süchtigen ComputerspielerInnen hilfreich.

Mehr ‚von Außen‘, aus einem eher theoretischen Blickwinkel betrachten Winfred Kaminski, Olaf Zimmermann, Klaus Müller und Thomas Fuchs Computerspiele und Computerspielsucht. Dabei hilft der Einwurf Zimmermanns, Kunst habe eben ein gewisses Suchtpotential, im Computerspiel nicht nur noch die süchtig machende Droge zu sehen. Kaminskis Differenzierung von Spiel und Lernen kann für den pädagogischen Einsatz von Spielen hilfreich sein, auch wenn man seiner These nicht folgt, die Spielhaltung sei etwa für schulisches Lernen ungeeignet. Müller und Fuchs beschäftigen sich am wenigsten mit dem Computerspiel selbst sondern entwickeln eher theoretisch-philosophische Gedanken zur Virtualität, in der vor allem Fuchs die Gefahr des Verlustes der Leiblichkeit und damit des emotionalen Engagements und der sinnlichen Erfahrung sieht. Gerade diese Ausführungen erscheinen am stärksten aus der theoretischen Überlegung heraus und ohne wirkliche praktische Auseinandersetzung mit der virtuellen Welt der Computerspiele formuliert.

Abschließend bleibt zu bemerken, dass man unter dem Titel des Bandes mehr Auseinandersetzung mit „Identität und virtuellen Beziehungen im Computerspiel“ an sich und unabhängig vom Sonderfall der Computerspielsucht erwarten könnte, denn im Grunde orientieren sich alle Beiträge dann doch mehr oder weniger an der Entstehung, der Bewertung, der Diagnose oder der Therapie dieser Sucht.

Rezension von
Dipl.-Soz.Päd. Thomas Molck
Dozent für Neue Medien und Datenschutzbeauftragter der HS Düsseldorf
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Es gibt 10 Rezensionen von Thomas Molck.

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ISSN 2190-9245