Dominik Krinninger: Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung
Rezensiert von Dr. Marc Schulz, 21.01.2010

Dominik Krinninger: Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung. Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung. transcript (Bielefeld) 2009. 275 Seiten. ISBN 978-3-8376-1287-5. 30,80 EUR.
Autor
Dr. phil. Dominik Krinninger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück, Institut für Erziehungswissenschaft. Seine Schwerpunkte sind Bildungstheorie, Ästhetische Bildung, Pädagogik und Pragmatismus
Thema
In seinem Buch untersucht Dominik Krinninger einen intersubjektiv ausgerichteten Bildungsbegriff, den er empirisch anhand von Gesprächsaufzeichnungen mit drei männlichen Freundespaaren, die sich über Popmusik unterhalten, rekonstruiert und diese Analysen mit bildungstheoretischen Perspektiven u.a. der Phänomenologie und des Pragmatismus verknüpft. Die Art der Verknüpfungen zwischen Empirie und Theorie sind für die erziehungswissenschaftliche Bildungsdiskussion besonders aufschlussreich, da der Autor zeigt, wie Bildung als theoretisch geführter Begriff empirisch abgesichert präzisiert und weiter vertieft werden kann.
Aufbau und Inhalte
Die Publikation ist in fünf Kapitel untergliedert.
Im ersten Kapitel führt der Autor zunächst in das Themengebiet Freundschaft ein, indem er sowohl den Forschungsstand zu Freundschaft resümiert, als auch auf relevante bildungstheoretische Perspektiven der Untersuchung eingeht. Verschiedene Disziplinen legen Freundschaftskonzepte vor, die sich auf bildungstheoretische Perspektiven wie Geselligkeit, Atomsphäre, Leiblichkeit und Sozialität, Performativität und Biographie beziehen lassen. Jedoch können, wie der Autor nachweist, die vorliegenden Untersuchungen nur zum Teil als bildungstheoretisch unterfüttert und empirisch gesättigt gelten. Das Hauptanliegen des Autors, die Diskurse um Bildung und Freundschaft sowohl theoretisch als auch empirisch aufeinander zu beziehen – also eine bildungstheoretische Perspektive auf Freundschaft zu entwickeln, die die Praxis von Freundschaft als intersubjektive Bildungspraxis sowohl empirisch rekonstruiert, als auch theoretisch kontextualisiert – ist plausibel. Der von Krinninger vorgelegte Überblick zeigt jedoch auch, um welches schwierige Theoriegelände es sich hierbei handelt: Neben der bislang nicht geleisteten Verknüpfung sind die beiden Begriffe Freundschaft und Bildung alltagssprachlich idealisiert und als präzise theoretische Begriffe nur noch schwerlich zu fassen – dies lässt sich etwa am Bildungsbegriff rekonstruieren, der in seiner historischen Begriffsentwicklung und aktuellen politischen Vereinnahmung kaum jenseits des Verständnisses von subjektiven und individuellen Bildungsprozessen gefasst werden kann. Folglich liegt die Schwierigkeit der Verknüpfungen zwischen empirischem Material und theoretischer Sättigung darin, sowohl mit Begriffen präzise umzugehen, die gewissermaßen „re-theoretisiert“ werden müssen, andererseits mittels den empirischen Hinweisen diese Begriffe weiter zu entwickeln, ohne dass die Empirie als illustratives Belegmaterial fungiert. Vor diesem Hintergrund erweist sich das zweifach ausgerichtete Programm der Publikation als anspruchsvolles Unterfangen.
Im zweiten Kapitel stellt der Autor seine Überlegungen zu Methodologie und Methode vor. In dessen Mittelpunkt stehen sprachtheoretische Überlegungen, dabei insbesondere das hermeneutische Konzepte im Anschluss an Ricoeur. Die Freunde sollen nicht primär nach reflexiver Bedeutung befragt werden, die sie ihrer Beziehung zuschreiben, sondern es soll v.a. ihr Verhalten zueinander im Gespräch beobachtet werden. Diese Konzentration auf die Prozessualität der Sprechakte und die methodischen und methodologischen Begründungen sind für den Lesenden, der mit dem Duktus von erziehungs- und sozialwissenschaftlichen qualitativ ausgerichteten Studien vertraut ist, ungewöhnlich, aber umso interessanter, da sie ein Alternativprogramm gegenüber aktuell populären Forschungsverfahren wie dem narrativ-biographischen Interview oder der Ethnografie aufzeigen.
Im dritten Kapitel stellt der Autor der Leserschaft drei männliche Freundespaare vor, die sich über ihre Freundschaft und das gemeinschaftliche Hören von Popmusik unterhalten. Diese Paare werden zunächst jeweils mit einem kurzen Portrait ihrer Freundschaftsgeschichte vorgestellt, denen Ausschnitte von Gesprächssequenzen und deren Interpretationen folgen. Dabei systematisiert der Autor die Sequenzen, indem er etwa die Gespräche unter dem Aspekt der Freundschaftsmuster analysiert und zwischen „Teamplay“, „Rhythmus“ und „Salon“ unterscheidet. Hierbei lässt sich nachvollziehen, wie die Freundespaare den jeweiligen sozialen Raum gestalten und wie dieser zum Erfahrungsraum wird. Besonders ertragreich sind hier die herausgearbeiteten Momente der Verzahnungen zwischen den persönlichen und gemeinsamen bildungsbedeutsamen Erfahrungen. Sie zeigen einerseits, wie individuelle Erfahrungen in Momenten wie einer „unterstützenden Anstiftung“ sozial situiert sind. Andererseits lässt sich durch die präzisen Analysen der Gesprächssequenzen nachvollziehen, wie in verschiedenen Praktiken der Individualität und Intersubjektivität als Überschneidungen von Subjekten, dem Vollzug autobiographischer Verknüpfungen und daran gekoppelten intersubjektiven Reflexionen gemeinsame bildungsbedeutsame Erfahrungen gemacht werden. Dabei wird die bildungstheoretische Position von John Dewey, insbesondere dessen Verständnis von ‚experience‘ und ‚habits‘, zum zentralen Bezugspunkt des Autors, anhand derer zwischen verschiedenen Aspekten von Bildungsprozessen differenziert wird. Dass der Autor die empirischen Rekonstruktionen hin und wieder umstandslos mit theoretischen Referenzen verbindet kann irritieren; jedoch ist dies dem Forschungsprogramm des empirisch gesättigten theoretischen Nachdenkens geschuldet. Letztlich zeigen die Analysen der Gesprächssequenzen im Vergleich zu anderen Formen der Interviews, dass das gewählte Verfahren die Prozessualität der Praktiken genauer in den Blick bekommt. Durch das Ausbleiben einer direkten Befragung entfalten die Freundespaare in der Art ihrer verschiedenen Gesprächspraxen auch performativ die Art ihrer Freundschaftsbeziehungen.
Das vierte Kapitel resümiert die drei Falldarstellungen, indem es die empirischen Ergebnisse einerseits knapp bündelt, dabei andererseits weitere theoretische Hinweise, die im fünften Kapitel vollends entfaltet werden, gibt. Dabei stellt der Autor als zentrale inhaltliche Bezüge zu Bildung die Arten der biographischen Reflexionen, die differenten Freundschaftskonzepte und die Entwicklung von Geschmacksurteilen als Reflexionsprozess heraus. Zentrale formale Aspekte sind die soziale Atmosphäre der Freundesgespräche, die gemeinsame Sinnkonstruktion und die Hervorbringung von Bedeutungen aus gemeinsam gemachten Erfahrungen, die auch intersubjektiv fungieren. „Intersubjektive Bildung in Freundschaften vollzieht sich als gemeinsame Tätigkeit der Freunde.“ (205) Indem der Autor Bildung in Freundschaften als Transfer zwischen unbestimmter und bestimmter Bedeutung definiert, arbeitet er die Qualität der symmetrischen und asymmetrischen männlichen Freundschaftspraktiken heraus, ohne diese zu hierarchisieren. Stattdessen entfaltet jede dieser Praktiken jeweils ihre eigenen Bildungsbewegungen. Diese Einsicht ist, gerade hinsichtlich eines auch normativ und latent moralisch aufgeladenen Bildungsbegriffes, eine zentrale Leistung der Publikation. Kritisch kann angemerkt werden, dass mit den vorliegenden Hinweisen zur Verknüpfung zwischen Männlichkeit und Freundschaftspraxen die Kategorie Geschlecht noch weiter hätte heraus gearbeitet werden können. In den drei Freundespaargesprächen wird zumindest von einer Seite des Freundespaares die Liebesbeziehung zu einer Frau thematisiert, die zugleich den Möglichkeitsraum der gleichgeschlechtlichen Freundschaftsbeziehung umgrenzt. Diese empirisch gesicherten Differenzierungspraktiken – gegengeschlechtliche Liebes- und gleichgeschlechtliche Freundschaftsbeziehungen – werden zwar als eine heterosexuelle Lesart der Freundschaftsbeziehung thematisiert, aber im kritischen Rekurs auf die Männlichkeitsforschung und insbesondere auf das Konzept der als männlich geltende „side-by-side“-Freundschaft nicht weiter vertieft. Inwiefern Konzepte wie die „side-by-side“-Freundschaft die Vorstellung einer heterosexuell orientierten Freundschaftspraxis weiter reproduziert anstelle ihre Herstellungsprozesse zu analysieren, müsste nach diesen Befunden noch weiter untersucht werden.
Das fünfte Kapitel entwickelt aus den zuvor verdichteten empirischen Hinweisen Anschlüsse zu einer sozialen Theorie der Bildung.
- Besonders aufschlussreich ist die empirisch gehaltvolle bildungstheoretische Rekonstruktion des Zusammenhangs von ‚habits‘ und ‚experience‘ bei Dewey. Dabei entwickelt der Autor eine produktive und auch für zukünftige Forschungsvorhaben als inspirierend zu bezeichnende Perspektive auf das konstruktive Verhältnis zwischen der Bildungspraxis des als nicht essentialistisch gedachten Subjekts und sozial vermittelten habituellen Dispositionen.
- Das pädagogische ‚habits‘-Konzept von Dewey wird mit dem soziologischen ‚Habitus‘-Konzept von Bourdieu verglichen. Dies ist deshalb gewinnbringend, da auf der Grundlage eines erweiterten Verständnisses von Verhältnis und Umgang des Subjekts zu bzw. mit seinem Habitus sich Bourdieus Habitustheorie in pädagogisch-bildungstheoretisches Denken integrieren lässt.
- Die Wechselbeziehung von somatischen und reflexiven Erfahrungsanteilen, so wie sie auch in den Überlegungen von Dewey zu finden sind, wird auf Grundlage phänomenologischer Bildungstheorien wie etwa von Meyer-Drawe weiter präzisiert. Produktiv sind dabei die empirischen Rückbezüge auf die Dimension der Leiblichkeit innerhalb der Freundesgespräche und deren Rolle, die sie bei der Entfaltung von Erfahrung spielen.
Fazit
Der allgemeinpädagogischen Bildungstheorie wird häufig vorgeworfen, dass sie auf einem hohen Abstraktionsniveau agiert und dabei kaum empirisch unterfüttert ist. Die zentrale Leistung des Buches liegt darin, eine empirisch gehaltvolle Bildungstheorie vorzulegen: Einerseits stellt es eine Verbindung der Diskurse zu Freundschaft und Bildung her, die bislang weitgehend ausgeblieben ist und andererseits erarbeitet es wichtige Aspekte einer Theorie der intersubjektiven und sozialen Dimensionen von Bildung, die auf der Basis der Verbindung der Diskurse erfolgt. Damit leistet der Autor einen wichtigen Beitrag, da Aspekte wie Leiblichkeit oder Bildung als Praxis sich einerseits rein begrifflich-theoretisch nicht adäquat diskutieren lassen und andererseits die aktuellen Bildungsdiskussionen zeigen, dass es nötiger denn je ist, diese Perspektiven auf Bildungsprozesse zu richten. Dies geschieht in Krinningers Buch auf einer sowohl sprachlich als auch inhaltlich ansprechenden Weise: Die Verknüpfungen zwischen den Gesprächen über Popmusik und den theoretischen Bezügen lassen das Lesen und Nachdenken zum Genuss werden. So kann das Buch nicht nur als inspirierender Beitrag für eine erziehungs- und sozialwissenschaftliche ‚Forschungsgemeinde‘ verstanden werden, sondern auch für Studierende empfohlen werden, die eigene bildungstheoretische Erkundungen empirisch gehaltvoll vornehmen wollen.
Rezension von
Dr. Marc Schulz
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