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Ghodsi Hejazi: Pluralismus und Zivilgesellschaft

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.01.2010

Cover Ghodsi Hejazi: Pluralismus und Zivilgesellschaft ISBN 978-3-8376-1198-4

Ghodsi Hejazi: Pluralismus und Zivilgesellschaft. Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. transcript (Bielefeld) 2009. 371 Seiten. ISBN 978-3-8376-1198-4. 29,80 EUR.
Reihe: Pädagogik.

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Bürgertums- und Migrationsforschung – zwei Seiten einer Medaille

Wie der und das Fremde in einer Gesellschaft wahr- und angenommen oder abgelehnt wird, hat viel damit zu tun, wie das jeweilige sozio-kulturelle und politische Ordnungssystem funktioniert und welchen Stellenwert Fragen nach dem Anderen im ethisch-moralischen wie im alltagskonkreten Denken und Handeln haben. Die Frage nach dem Anderen als dem eigenen Selbst oder dem abzulehnenden Fremden ist schließlich eine nach der individuellen und gesellschaftlich-politischen Bildung und nicht zuletzt nach hegemonialen und/oder pluralen Bewusstseinszuständen. Das Konzept der Interkulturellen Pädagogik, als ein Teilgebiet der Erziehungswissenschaft, wird auch als Kompetenz zur Interkulturellen Erziehung, zum Interkulturellen (oder Globalen) Lernen verstanden. Es basiert auf einer dynamischen Kulturauffassung und hat zum Ziel, im eigenen kulturellen Denken und bei der Bildung der eigenen kulturellen Identität den Perspektivenwechsel zur kulturellen Identität des Anderen, des Fremden, zu ermöglichen und ein friedliches, multiethnisches Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft herzustellen.

Entstehungshintergrund und Autorin

Die an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. lehrende Erziehungswissenschaftlerin Ghodsi Hejazi setzt sich in ihrer, im Jahr 2008 als Dissertation eingereichten Arbeit „Pluralismus und Zivilgesellschaft“ unter anderem mit der Frage auseinander, welche Strukturen, Auffassungen und Motive in ausgewählten Einwanderungsgesellschaften – Kanada, Frankreich, Deutschland - auf Zugewanderte wirken und damit Integration erschweren oder erleichtern. Die These, dass die Selbstbilder, die Mitglieder von Mehrheitsgesellschaften von ihrem Land und ihrer (Volks-)Gemeinschaft haben und dem sie sich zugehörig fühlen („Ich bin ein Deutscher!“), sowohl historische Wurzeln haben, als auch die Möglichkeiten und Grenzen beim praktischen Umgang mit Fremdheit bestimmen, ist ja nicht neu; sie aber in den Kontext von Nationalstaatenbildung und Nationalitätsbildern zu stellen und diese zu vergleichen, kann als ein weiterführender Ansatz des Diskurses um Migration verstanden werden. Die Autorin hinterfragt dabei zum einen den Begriff der „Zivilgesellschaft“, der in der Migrations- und Integrationsforschung und –politik vielfach als demokratisches Versprechen für die Anerkennung des Anderen verstanden wird. Dabei ordnet sie die Metapher den Wertevorstellungen von bürgerlichen Gesellschaften zu, kombiniert „unterschiedliche Denk- und Theorietraditionen zum Konzept des Bürgerlichen und verbindet sie mit system- und handlungstheoretischen Gesichtspunkten". In den drei Länderstudien werden deshalb sowohl Fragen nach den historisch-kulturellen Traditionen, als auch nach den jeweils politisch-gesellschaftlichen Realitäten gestellt, und zwar mit dem Fokus auf Eingewanderte muslimischer Herkunft. Das ist nicht nur deshalb interessant, weil sich die Ängste und Befürchtungen in den (westlichen) Mehrheitsgesellschaften – wie nicht zuletzt die kürzliche Volksabstimmung gegen den Bau von Minaretten in der Schweiz zeigt – vor „Überfremdung“ häufen, sondern auch durch die Beobachtung, dass sich mit der historisch-soziologischen Analyse der Entstehung von westlichen Gesellschaften eine doppelte Selektivität verbindet: Selektiv sowohl in ihrer Begrenztheit auf die Anpassungs- und sogar Assimilationsansprüche an die westlichen Kulturen, als auch in sozialer Hinsicht, etwa bei der Verweigerung oder Erschwerung von staatsbürgerlicher Partizipation (vgl. dazu die Rezension zu Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept).

Aufbau und Inhalt

Die Autorin reflektiert zuerst die Entwicklungen und Strukturen der „bürgerlich-modernen Gesellschaft des Okzidents“. Dabei arbeitet sie heraus, dass das Konzept der Zivilgesellschaft in der sozial- und geistesgeschichtlichen Tradition der europäischen Moderne seit dem 18. Jahrhundert verankert ist. Klar wird, dass sich Migrantinnen und Migranten, die sich in diese westlichen Kulturen integrieren wollen und sollen, ohne dabei ihre eigene kulturelle Identität und herkunftskulturellen Wertvorstellungen aufgeben zu müssen, gewissermaßen auf ein unsicheres und gefährliches Terrain begeben. Weil aber die ethische Basis der Zivilgesellschaft die jeweilige politische Kultur ist, bedarf es für ein pluralistisches, interkulturelles Denken ein freiheitlich-demokratisches Bewusstsein. Wo findet die Autorin das?

Vielleicht in Kanada, einem Land, dessen Bevölkerung überwiegend Einwanderer waren? Mit Kindern, die meist bilingual aufwachsen und Nachbarschaften mit positiven Einstellungen zur kulturellen Differenz und Fremdheit und einer offiziellen Multikulturalismuspolitik mit dem Ziel, ein friedliches und gerechtes Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller und ethnischer Herkunft in einem Nationalstaat zu ermöglichen. Wenn auch die idealtypischen, politischen und gesellschaftlichen Programme in der Alltagswirklichkeit nicht immer reibungslos funktionieren, so stellt die Autorin doch am Beispiel der multikulturellen Erziehung und der interkulturellen Pädagogik im kanadischen Schulsystem fest, dass „Kanada seit den 70er-Jahren wie kaum eine andere westliche Industrienation versuch, der demographischen Realität in der Selbstbeschreibung und den realen gesellschaftlichen Verhältnissen zu entsprechen“.

Im Gegensatz zu Kanada ist die Bevölkerung Frankreichs nicht nur in ihrer nationalen Mehrheitsgesellschaft heterogen und pluralistisch zusammen gesetzt (mit den Basken, Korsen, Aquitaniern, Bretonen, Flamen und Elsässern), sondern hat auch als ehemalige Kolonialmacht traditionelle Strukturen als Einwanderungsland aufzuweisen. Trotzdem kommt die Autorin zu dem Ergebnis: „Einwanderungsland: ja – multikulturelle Gesellschaft: nein!“. Die Autorin arbeitet heraus, dass im Bewusstsein der französischen Mehrheitsbevölkerung ein diffuses Misstrauen gegen Fremde, vor allem muslimischer Herkunft, herrscht, dem auch im schulischen Bildungssystem nicht entgegengewirkt wird; vielmehr stellt die leistungsorientierte, hochselektierende Schule, trotz der laizistischen Struktur, eher eine Barriere, denn eine Brücke für Integration dar; wobei im allgemeinen die Integrationserwartungen eher Assimilationsforderungen sind. Die öffentlich gewordenen Konflikte in den Banlieues sind nur ein Anzeichen dafür, dass die interkulturellen Konflikte in Frankreich von der offiziellen Politik eher ignoriert als gelöst werden.

Schließlich Deutschland, das nach der offiziell parteipolitischen Version kein Einwanderungsland war und nunmehr eher zögerlich zu einem solchen deklariert wird: Ein „verkanntes“ (oder „verhinderten“) Einwanderungsland? Der analytischen Einschätzung der Autorin, dass in Deutschland, auch aufgrund der Prozesse zur Nationentwicklung, dem deutschen Nationalitätskonzept von Beginn an eine gewisse Fremdenfeindlichkeit vorgeherrscht habe, wird man zustimmen können. Im deutschen Nationalbewusstsein wurden kulturell oder ethnisch Fremde überwiegend in der Rolle von negativen Abgrenzungsobjekten oder/und als Gegenstand kollektiver Überlegenheitskonstellationen wahrgenommen; insbesondere antisemitische und rassistische Einstellungen und Ideologien wirken in vieler Hinsicht bis heute nach. Von 1955 an kamen so genannte „Gastarbeiter“ als benötigte Arbeitskräfte ins Land, wobei im Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung die „Gäste“ früher oder später Deutschland wieder verlassen würden. Diese Einschätzung, verbunden mit der jahrzehntelangen, partei- und gesellschaftspolitischen Weigerung, Maßnahmen zu ergreifen und Regelungen zu treffen, die für eine Einwanderung zur Integration der Zugewanderten notwendig gewesen wären, hat enorme Schwierigkeiten für die Eingliederung der MigrantInnen und ihrer Nachkommen gezeitigt. Im wissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs wurde deshalb auch von „Ausländerpädagogik“ gesprochen, und „interkulturelle Erziehung“ in der Schule wurde überwiegend vom Defizitaspekt aus betrieben: Was die kleinen TürkInnen nicht können… (vgl. dazu auch die Rezension zu Lisa Rosen / Schahrzad Farrokhzad, Hrsg., Macht – Kultur – Bildung, Festschrift für Georg Auernheimer, 2008, sowie die Rezension Barbara Asbrand, Wissen und Handeln in der Weltgesellschaft).

Aus dem Vergleich der Länderanalysen entwickelt nun Ghodsi Hejazi ihr Konzept zur Interkulturellen Pädagogik mit dem Fokus auf die Vermittlung einer interkulturellen Kompetenz für in pädagogischen Berufen Tätige und von Strategien, wie eine neue Bildungspolitik in der sich immer interdependenter und entgrenzender bildenden (Einen) Welt aussehen sollte. Gewissermaßen als Blickrichtung orientiert sie die Einwanderungs- und Integrationssituation in Deutschland dabei an den Zugewanderten muslimischer Herkunft und ihren („in der Fremde“) geborenen Kinder.

Fazit

Für eine erziehungswissenschaftliche, lokale und globale bildungspolitische Analyse ist ein Ländervergleich der Einwanderungs-, Migrations- und Integrationsentwicklung hilfreich, um spezifische und allgemeinverbindliche Phänomene erkennen zu können. „Integration braucht Bildung“, diese Erkenntnis beginnt langsam in den traditionellen, wie in den „verhinderten“ Einwanderungsgesellschaften zu wachsen. Daraus muss sich, bei den Eingesessenen und bei den Zugewanderten, ein Perspektivenwechsel ergeben, der die humane Vielfalt als eine Bereicherung und einen Weg hin zu einem gerechten, friedlichen und demokratischen Zusammenleben in der Gesellschaft als Grundlage erkennt. Die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Ghodsi Hejazi, die selbst aus dem Iran stammt und in vielfältiger Weise gegen Unfreiheit, Unterdrückung und Erniedrigung eintritt, hat mit ihrer Dissertation einen wichtigen Baustein geliefert, um genau diese Vielfalt und die Würde der Menschen als unverzichtbare und nicht relativierbare Fundamente im „Einen Menschenhaus“ einzubauen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1707 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245