Yvonne Gassmann: Pflegeeltern und ihre Pflegekinder
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 16.04.2010

Yvonne Gassmann: Pflegeeltern und ihre Pflegekinder. Empirische Analysen von Entwicklungsverläufen und Ressourcen im Beziehungsgeflecht.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2009.
350 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2246-9.
25,50 EUR.
Reihe: Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie - 77.
Autorin
Yvonne Gassmann war in Schulheimen und beim Schulpsychologischen Beratungsdienst tätig, als wissenschaftliche Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Bern und als Dozentin und Bildungsbeauftragte der Fachstelle Pflegekinder-Aktion Schweiz.
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen.
Thema
Der Pflegekinderbereich stellt in der Schweiz, aber auch in anderen Ländern, ein forschungsmäßig wenig bearbeitetes Gebiet dar. Trotz wachsendem Forschungsinteresse mangelt es sowohl an verlässlichen statistischen Daten, an Längsschnittstudien, die über Verlauf und Erfolg Aussagen erlauben, sowie an verbindlichen Standards für die Platzierung und Begleitung. Oft, so die Autorin, sind Familienideologien handlungsleitend.
Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist eine Studie der Autorin aus dem Jahr 1998; in der Pflegeeltern aus 170 Pflegefamilien im Kanton Zürich befragt wurden. In dieser Follow-up-Studie lagen Daten über 101 Pflegefamilien/-kinder vor.
Aufbau und Inhalt
Als Ausgangspunkt wird die Untersuchung von 1998 vorgestellt. Yvonne Gassmann postuliert ein Mediatormodell mit dem Gelingen der Pflegebeziehung als abhängige Variable und den Ausgangsbedingungen, Ressourcen und Belastungen als unabhängige Variablen. Dabei spielen die Ressourcen als vermittelnde Variable eine besondere Rolle; in einem Regressionsmodell konnte die Variable „Niedrige Problemeinschätzung / pragmatischer Optimismus“ über 50 Prozent der Varianz erklären. Ein „ausgeprägtes Verständnis als Ersatzfamilie“ und „hohe Lebensfreude“ waren mit deutlichem Abstand die nächst wichtigsten Variablen.
Anschließend geht die Autorin auf die neuere Forschung zu Pflegebeziehungen in der Schweiz und in Europa ein, wobei besonders Forschungsergebnisse zur Entwicklung der Pflegekinder und Ergebnisse zur inner- und interfamilialen Beziehungsgestaltung referiert werden.
Für die eigene Untersuchung arbeitet sie zwei Perspektiven als theoretische und empirische Grundlagen heraus, auf der Ebene des Kindes entwicklungspsychologische Grundlagen und auf der Ebene der Familie Jugend- und Familienforschung und Familiensystemtheorien. Sie orientiert sich am Konzept der Entwicklungsaufgaben und unterscheidet allgemeine und pflegekinderspezifische Aufgaben, wobei die Identitätsbildung, die Beziehungsgestaltung mit zwei Familien und mögliche Loyalitätskonflikte besondere pflegekindspezifische Anforderungen stellen.
Unter anderem formuliert Gassmann als Hypothesen, dass die Bewältigung pflegekindspezifischer Aufgaben erst die Voraussetzung für das Gelingen allgemeiner Entwicklungsaufgaben schafft, dass eine gelungene Pflegebeziehung die Voraussetzung für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben darstellt und dass für die Eignung einer Pflegefamilien vorhandene Ressourcen entscheidender sind als Ausgangs- und Belastungsfaktoren.
Es werden Daten bei den Pflegeeltern, den Pflegekindern und von Behörden (Fachstellen, die den Auftrag der Bewilligung und Kontrolle von Pflegeverhältnissen haben) erhoben. Der Kontakt zu den (ehemaligen) Pflegekindern lief immer über die Pflegeeltern, die Befragung war an bestimmte Kriterien geknüpft (Alter, Status als Pflegekind, normale Beschulung, etc.).
Für jede der drei Gruppen wurden Fragebögen als Erhebungsinstrumente (Ratingsskalen, Freitextantworten) entwickelt:
- Fragebogen für Pflegeeltern (170 Items) mit den Schwerpunktthemen: Gelingen, Bewältigung von pflegekindspezifischen und allgemeinen Entwicklungsaufgaben, Kontextbedingungen, Belastungsfaktoren, Ressourcen
- Fragebogen für Pflegekinder (100 Items) mit den Themen: Gelingen, Bewältigung von pflegekindspezifischen und allgemeinen Entwicklungsaufgaben)
- Fragebogen für Behörden (30 Items) mit Fragen v. a. zu Kontextbedingungen.
Für die Auswertung lagen Fragebögen zu 101 Pflegefamilien/-kinder vor (von 97 Pflegeelternteile mit Angaben zu 78 Pflegekindern, von 22 Pflegekindern, von Behörden zu 94 Pflegeverhältnissen). Für 18 Kinder lagen Daten aus allen drei Quellen vor. Merkmale der Stichprobe und die angewandten Analysemethoden werden ausführlich und anschaulich dargestellt.
Als erstes werden Ergebnisse zur Entwicklung der Pflegekinder vorgestellt. Häufig werden die Daten nach dem Status des Pflegeverhältnisses (Rückführung, Umplatzierung in andere Pflegefamilie oder Heim, Verselbständigung, und noch in der Pflegefamilie wie 1998) unterteilt. Als Ergebnisse sind bemerkenswert:
- Trotz erhöhten Vulnerabilitäten können die besuchten Schulen oder Ausbildungen als alters- oder behinderungskonform gesehen werden (9 der von den Pflegeeltern eingeschätzten Kinder sind geistig und/oder körperlich behindert).
- Für die Bewältigung von allgemeinen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (Skalen: Selbstsicherheit, Handlungsfähigkeit, soziale Kompetenz, Freundschaft) sind Pflegekindzufriedenheit und Pflegekindfamilienbindung als pflegekindspezifische Entwicklungsaufgaben entscheidend.
- Kinder in Verwandtenpflegschaft sind zufriedener.
- Einschätzungen von Pflegekindern und Pflegeeltern fallen ähnlich aus.
- Die Mehrheit der Kinder erlebte keine ausgeprägten Loyalitätskonflikte.
- Hinweise auf negative Verläufe finden sich bei umplatzierten Pflegekindern.
Im Kapitel zur pflegefamilialen Entwicklung werden Aufnahmemotive und Ausgang der Pflegebeziehung dargestellt. Es findet sich kein direkter Zusammenhang zwischen dem Motiv zur Inpflegenahme und dem „Outcome“. Pflegeeltern mit religiösen Motiven waren jedoch eher bereit, schwierige und behinderte Kinder aufzunehmen, verzeichneten aber auch mehr Umplatzierungen, weil sie anscheinend dazu neigten, ihre Ressourcen zu überschätzen. Bei umplatzierten Kindern finden sich schwächere Werte der Skalen „Entwicklungszufriedenheit“, „Integration“ und „Selbstentfaltung der Pflegeeltern“.
Das Selbstverständnis als Ersatzfamilie ist über die beiden Erhebungszeitpunkte konstant und korreliert mit der Einschätzung einer gelungenen Integration des Kindes. Fachliche Unterstützung und der Kontakt zu Behörde waren eher spärlich; die Pflegeeltern waren zwar mehrheitlich damit zufrieden, punktuell aber auch unzufrieden. Ausbildung und Supervision gingen mit einer eher kritischen Sichtweise einher, auch was die Zufriedenheit mit der Entwicklung des Pflegekindes betrifft.
Abschließend arbeitet Yvonne Gassmann Typen von Pflegebeziehung heraus, beschrieben durch die gegenläufigen Variablen „Pflegefamilienbindung“ und „Herkunftsfamilienbezug“ (von „Adoptionsähnlichen Pflegebeziehungen“ über „Sozialpädagogische Großfamilienbeziehung“ bis zur „Pflegebeziehung auf Zeit“), wobei zahlenmäßig die größte Gruppe „kontinuitätsorientierte Pflegebeziehungen“ umfasst; sie stellt strukturelle Bedingungen, Entwicklung der Pflegekinder und der Pflegefamilien bzgl. dieser Typen dar. Mit Regressionsanalysen ermittelt sie bedeutsame Bedingungen der vier Skalen der Pflegekindentwicklung.
Nach der Diskussion des methodischen Vorgehens und der Ressourcen im Beziehungsgeflecht und mit Blick auf entwicklungshemmende Umplatzierungen entwickelt die Autorin Schlussfolgerungen für die im Pflegekindbereich tätigen Fachpersonen, die sie als fachlichen Begleitprozess (mit den Schritten: Indikationsfrage klären, Passung zwischen Pflegefamilie und Pflegekind kommunikativ optimieren, „Wochenpflege plus“ planen und Beratung „bei Bedarf“ institutionalisieren) und als reflexiven Begleitprozess (mit den Schritten: Prozess- und Ressourcenwissen aktualisieren, normative Überzeugungen reflektieren, geteilte Verantwortung wahrnehmen und bei Bedarf Veränderung ermöglichen) formuliert.
Diskussion
In der vorliegenden Arbeit werden vielfältige Ergebnisse zum Erfolg von Pflegebeziehungen sowie vor allem Ressourcen präsentiert. Hervorgehoben sei dabei die Einbeziehung der Kindperspektive. Manche Ergebnisse sind zwar trivial (z.B. dass Wochenpflegeeltern mehr Kontakt zu den Herkunftseltern haben als Dauerpflegeeltern und der Herkunftsfamilienbezug stärker ausgeprägt ist), dennoch halte ich die Ergebnisse interessant und mit den Folgerungen für die Praxis relevant.
Die konzeptuelle Funktion der Pflegefamilie als „familienergänzend“ oder „familienersetzend“ ist nicht ideologisch zu entscheiden, sondern für jedes Kind nach den Voraussetzungen der Herkunftsfamilie zu treffen. Auch jede zukünftige Pflegefamilie hat diesbezügliche ihre Vorlieben, Stärken und Ressourcen, die es zu eruieren und zu beachten gilt.
Fazit
Eine gelungene Dissertation.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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