Karina Weicholdt, Rainer K. Silbereisen: Suchtprävention in der Schule
Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Volker Happel, 09.09.2014

Karina Weicholdt, Rainer K. Silbereisen: Suchtprävention in der Schule. IPSY - Ein Lebenskompetenzprogramm für die Klassenstufen 5-7.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2014.
150 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2129-9.
36,95 EUR.
Mit CD-ROM.
Thema
Das Präventionsprogramm IPSY (Information und psychosoziale Kompetenz gleich Schutz) hat das Ziel, den Beginn des Gebrauchs und Missbrauchs von Alkohol und Zigaretten im Jugendalter hinauszuzögern und zu verhindern. Dies soll durch die Förderung von Kompetenzen, die eine positive Auseinandersetzung mit anstehenden allgemeinen Entwicklungsaufgaben ermöglichen (sogenannte Lebenskompetenzen) bzw. spezifisch in Konsumsituationen bedeutsam sind, umgesetzt werden.
Das Programm ist ausgelegt für die Jahrgangstufen 5 bis 7.
Aufbau und Inhalt
Zunächst werden allgemeine epidemiologische Zahlen zum Alkohol- und Zigarettenkonsum bei Jugendlichen, hier insbesondere die Altersgruppe von 12 bis 17 Jahren vorgelegt. Obwohl in den letzten vier Jahren im Vergleich zu den 70er Jahren ein anhaltender Rückgang des regelmäßigen Alkohol- und Zigarettenkonsums feststellbar ist, bleibt der Anteil der Jugendlichen mit hohem und häufigeren Konsum der letzten Jahre nahezu konstant. Angesichts der Tatsache, dass der Konsum dieser Substanzen eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben für dieses Alter darstellt ist eine frühzeitige Präventionsintervention notwendig,.
Die Faktoren und Dimensionen für die Entwicklung riskanter Konsumformen werden kurz angerissen, wie beispielsweise früher Einstieg, ein schnelles Ansteigen der Konsummengen und -frequenzen, familiäre Probleme oder Kontakt zu normabweichenden Peers. Bei der Frage der Konsummotive wird deutlich, dass auch Jugendliche den Alkoholkonsum eher als soziales Ereignis einstufen (gute Stimmung, Befangenheit gegenüber dem anderen Geschlecht, um das Leben zu genießen) während problembezogene Konsummotive (Stressbewältigung, Langeweile) kaum genannt werden. Der Zusammenhang zwischen Entwicklungsaufgaben und Funktionen des Substanzkonsums werden knapp aber nachvollziehbar dargestellt (Ausdruck des persönlichen Stils, Erleichterung des Zugangs zu Peer-Gruppen, Kontaktaufnahme zu Partnern, Unabhängigkeit von Eltern, gewollte Normverletzung, Teilnahme an subkulturellen Lebensstilen).
Die Erklärung des komplexen Zusammenhanges individueller und intrapersoneller Risikofaktoren einerseits sowie von gesellschaftlichen Faktoren andererseits werden am Beispiel unterschiedlicher Theorien expliziert (Theorie des geplanten Verhaltens, soziale Lerntheorien, Bedeutung konventioneller Verpflichtungen zu sozialen Bindungen, Theorie der Selbstabwertung, Problemverhaltenstheorie). Ausgehend von den epidemiologischen Zahlen und den theoretischen Vorüberlegungen wird dann das Lebenskompetenzprogramm IPSY entwickelt.
Interessierte Lehrer erhalten eine Ausbildung zur Anwendung des Programms in didaktischer und methodischer Hinsicht. Inhaltlich werden sowohl intrapersonale als auch interpersonale Kompetenzen vermittelt wie beispielsweise Selbstwirksamkeit, Selbstaufmerksamkeit, Umgang mit Stress und starken Emotionen, Empathie und erfolgreiches Problemlösen einerseits sowie andererseits effektive Kommunikation, Widerstand gegenüber Gruppendruck, selbstsicheres Verhalten in Gruppen. Zudem gibt es auch noch Informationen zu substanzspezifischen Kompetenzen (Übungen zum Nein sagen und zum Widerstehen gegenüber Gruppendruck).
In der Klassenstufe 5 beginnt die Vermittlung des Basisprogramms mit 15 unterschiedlichen Einheiten. In der Klassenstufe 6 und 7 werden dann im Sinne von Auffrischungssitzungen nochmals jeweils 7 Einheiten entsprechend dem Altersniveau wiederholt und spezifiziert. Erfreulicherweise ist das Programm bei 1.700 Thüringischen Jugendlichen im Verlaufe von viereinhalb Jahren im Rahmen eines quasiexperimentellen längsschnittanalytischen Designs evaluiert worden. Die Ergebnisdarstellung ist allerdings etwas zu kurz geraten, insbesondere deshalb, weil nur von den Daten berichtet wird, die gemäß der erwartungskonformen Interventionseffekte eine Wirksamkeit des Programms nachweisen, wie beispielsweise Wissen über selbstsicheres Verhalten, Beeinflussbarkeit durch Peers, Coolbindung, Lebenszeitprävalenz Raucher, Zigarettenmenge pro Tag bei Konsumenten und Bing-drinking unter Schülern.
„Bei 7 der 11 Variablen zeigten sich signifikante Befunde in der erwarteten Richtung (geringerer Konsum in der Interventiongruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe).“ Interessant wäre es sicherlich auch zu erfahren, bei welchen Indikatoren des Alkoholkonsums das Programm keine Wirkung erzielt hat, denn ein derartiger Befund könnte ja durchaus auch zu einer Verbesserung und Modifikation des Gesamtprogramms genutzt werden. Zudem wäre es auch noch interessant die Effektstärken der verschiedenen Programmpunkte für unterschiedliche Indikatoren kennen zu lernen.
IPSY ist ein universelles Präventionsprogramm, das bis auf einige kleinere Effektvarianten in verschiedenen Schultypen und bei Mädchen und Jungen weitgehend die gleichen Effekte erzielt. Bei Jugendlichen mit einem problematischen Entwicklungspfad (Risikofaktoren in der Kindheit und früher Konsumbeginn) war das Programm nicht wirksam. Es wird daher die Notwendigkeit der selektiven Prävention für diese Zielgruppe betont.
Durchführungsmodalitäten. Der organisatorische Aufbau des Programms ist durch eine didaktische Vielfalt gekennzeichnet, wobei verschiedene Materialien, Folien, Sitzordnung, Motivation, Auswertung und Transfer der erarbeiteten Positionen zum Einsatz kommen. Eine beigefügte CD ermöglicht die entsprechenden Materialien (Kopien, Instruktionen, Quiz, Rollenspielanleitung etc.) an die Schüler zu verteilen.
Diskussion
Es ist schon etwas verwunderlich, wenn im Theorieteil die funktionellen und motivationalen Aneignungsformen ausführlich beschrieben werden, dann aber bei der praktischen Umsetzung vorwiegend negative, abschreckende Aspekte des Alkohols aufgegriffen werden. Es ist davon auszugehen, dass bei Schülerinnen und Schülern der Alkoholkonsum bei der Selbstinszenierung und sozialräumlichen Aneignungsprozessen eine wichtige Rolle spielt. So ist es auch verwunderlich, dass die Studie von Stumpp et al. (2009) zum Thema Binge-Drinking keinen Eingang in die Planung der Substanzmodule gefunden hat. In dieser Studie wird deutlich, wie Jugendliche in der Gruppe, wenn sie Alkohol trinken, diese auch als Identitäts- und Risikoschutzraum organisieren. Hier entstehen Entwicklungs- und Identitätsmanagementprozesse, ein eigenes Austarieren und eine klare Ablehnung vom Trinken mit Kontrollverlust. Alkohol verstärkt dabei die positive Stimmung. Ein exzessiver Konsum gehört nicht zu einem gelungenen Trinkabend. Unangenehme Rauschbegleiterfahrungen werden von den Jugendlichen abgelehnt. Insofern wäre es wichtig, gerade für die Gruppe der siebten Klassenstufen (das sind keine Kinder mehr, sondern Jugendliche) den Prozess des Einstiegs in den Alkoholkonsum in einer entwicklungsförderlichen, sozial produktiven und gesundheitsverträglichen Weise zu gestalten (siehe dazu auch Sting 2010). Jugendliche mit einem mäßigen Alkoholkonsum zeichnen sich durch soziale Kompetenz und vielfältige soziale Kontakte aus. Sie sind deshalb nicht schon per se Problemträger.
Fazit
IPSY ist ein kompaktes Präventionsprogramm zur Entwicklung und Bearbeitung von Lebenskompetenzfähigkeiten. Es kann insgesamt über drei Schuljahre hinweg mit zunehmender Spezifikation und altersgerechten Angeboten durchgeführt werden. Die Moduleinheiten können auch im Kontext von Projektwochen zur Verbesserung der Klassenatmosphäre oder im Rahmen von Kommunikationsübungen als Einzeleinheiten genutzt werden. Allein die Module zum Thema Rauchen und Alkohol entsprechen nicht den aktuellen Präventionsansätzen. In diesen Abschnitten werden Zigaretten- und Alkoholkonsum als Drogengebrauch und Zuführung von Giften in den Körper beschrieben. Die mit Abschreckung und Gefahrenvermittlung arbeitende Prävention hat sich spätestens in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts als obsolet erwiesen.
IPSY ist ein Programm, das Anstoß zum selbstreflexiven Umgang mit dem eigenen Körper, dem Wohlbefinden, der Genusshaltung und der Rolle in der Gruppe der Gleichaltrigen geben kann. Gleichwohl bleibt die Qualität der Vorgaben für den Substanzkonsum im Vergleich zu den Kompetenzfähigkeitsübungen zurück. Anregungen für die Überarbeitung dieser Moduleinheiten können die Autoren bei Lindenmeyer (Lieber schlau als blau, 2012) finden.
Literatur
- Lindenmeyer, J. (2012): Lieber schlau als blau – Wie kann eine offensive auf Schadensminimierung abzielende Strategie der Thematisierung von Alkohol aussehen? In: Schmidt-Sehmisch, H.; Stöver, H.: Saufen mit Sinn? Harm reduction beim Alkoholkonsum. FH-Verlag Frankfurt.
- Sting, S. (2010): Suchtprävention im Kindes- und Jugendalter. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung. In: Sachverständigenkommission des 13. Kinder- und Jugendberichtes (Hrsg.): Materialien zum 13. Kinder- und Jugendbericht. Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen (DJI), München.
- Stumpp, G.; Stauber, B.; Reinl, A. (2009): Einflussfaktoren, Motivation und Anreize zum Rauschtrinken bei Jugendlichen. Endbericht für das Bundesministerium für Gesundheit. BMG-Bericht Nr. BMG-F-09 029.
Rezension von
Prof. Dr. Hans-Volker Happel
Emeritierter Prof. der Frankfurt University of Applied Sciences
Vorsitzender des Drogenhilfevereins “Integrative Drogenhilfe e. V.“
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