Al Gore : Wir haben die Wahl
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 09.02.2010

Al Gore : Wir haben die Wahl. Ein Plan zur Lösung der Klimakrise.
Riemann Verlag
(München) 2009.
Dt. Erstausg., 1. Auflage.
416 Seiten.
ISBN 978-3-570-50115-3.
D: 21,95 EUR,
A: 22,60 EUR,
CH: 38,90 sFr.
Originaltitel: Our choice.
Sind wir noch zu retten?
In der neueren Geschichte der Weltzustandsbeschreibungen, die beginnen mit den „Szenarien zum Erschrecken“, den Berichten an den Club of Rome (ab 1968), die sich fortsetzen mit dem „Bericht an den Präsidenten“ (1980), dem „Bericht der Nord-Süd-Kommission“ (ebenfalls 1980), dem „Bericht der Südkommission“ (1990), der „Agenda 21“ (1992) und der Warnung des WorldWatch Institute „Zur Lage der Welt 2009“ (vgl. dazu die Rezension), reiht sich ein Horrorszenario an das andere; wie wir an den deprimierenden und enttäuschenden Ergebnissen der Weltklimakonferenz vom Dezember 2009 in Kopenhagen erkennen können, offensichtlich mit geringer Überzeugungskraft für die Menschheit. Einer der unermüdlichen Mahner in dieser Reihe der Weckrufer für eine humane, menschengerechte und lebenswerte Welt ist der ehemalige Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Al Gore.
Autor und Inhalt
Der derzeitige Vorsitzende der 2006 gegründeten US-amerikanischen „Alliance for Climate Protection“, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Lösung der Klimakrise in der Welt einsetzt, Al Gore, wurde 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. In mehreren Büchern, wie dem Bestseller „Earth In The Balance“ (1992), legt Al Gore politische und wirtschaftliche Lösungsstrategien vor. Mit seinem, ebenfalls 2006 produzierten Dokumentarfilm „An Inconvenient Truth“, der auch in mit dem Titel „Eine unbequeme Wahrheit“ in den deutschen Kinos gezeigt wird und zu dem der Riemann-Verlag als „Weckruf zum Umdenken“ den informativen und mit eindrucksvollen Fotos, Grafiken und Statistiken ausgestatteten Band „Eine unbequeme Wahrheit. Die drohende Klimakatastrophe und was wir dagegen tun können“ vorlegt, gilt Al Gore mittlerweile als der ernstzunehmende Weltmahner.
Mit dem im Film von Melissa Etheridge gesungenen Song „I need to wake up“ und der 2007 von Gore initiierten neuen Umweltbewegung „Save Our Selves“ (SOS), etabliert sich in der Welt eine alternative Initiative zu den bisherigen global-ökologischen Aktivitäten. Dabei versteht sich Al Gore in keiner Weise als Einzelkämpfer: „Wenn du schnell gehen willst, geh alleine; wenn du weit gehen willst, geh zusammen“ – dieses afrikanische Sprichwort ist es, was ihn motiviert, sich einzumischen, mitzugehen und immer wieder Vorschläge zu unterbreiten, wie die Welt gerettet werden kann. Dabei fehlt auch nicht der mahnende Zeigefinger, wenn er darüber nachdenkt, was man in hundert Jahren (!) denjenigen von uns, die wir ausgestorben sind, hinterlassen könnte: „Vielleicht hätten wir uns retten können, aber wir waren zu faul, es ernsthaft anzupacken … und zu kleinkariert“. Aus dem jahrelangen Dialog mit Experten der „Neuro- bis zu den Wirtschaftswissenschaften, von der Informationstechnologie bis zur Landwirtschaft“, legt Al Gore einen neuen und einzigartigen Lösungsvorschlag vor mit dem hoffnungsvollen Ansatz vor: „Wir können die Klimakrise bewältigen“. Damit erhalten die Aufforderungen, wie sie in den oben genannten Prognosen und im Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) eindringlich ins Stammbuch der Menschheit geschrieben wurden – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ – eine zusätzliche Argumentationskraft. Denn „Wir müssen uns entscheiden“, wir alle, die wir auf der Erde leben, die Regierenden und Regierten, die Mächtigen und Machtlosen, die Besitzenden und Habenichtse, in unserem Denken und Handeln, Jetzt! „Wir müssen uns dafür entscheiden, die Rettung der Zivilisation zum Dreh- und Angelpunkt unseres politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handelns zu machen“.
Es sind die drei großen Weltkrisen, die unser Dasein bedrohen: Die Sicherheitskrise, die Wirtschaftskrise und die Klimakrise. Die unterschiedlichen Ursachen beruhen dabei auf einem gemeinsamen Bindeglied: „Unsere extreme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern“. Deshalb sieht Al Gore die Lösung aus den Krisensituationen in einer konzertierten Aktion, um „die Infrastruktur und Technologie bereitzustellen, die für einen umfassenden und raschen Wechsel von Kohle, Öl und Gas hin zu erneuerbaren Energien notwendig sind“. Dabei unterliegt Al Gore nicht der naiven Meinung, dass Argumente und Informationen allein schon ausreichen würden, um die Menschen von der Notwendigkeit des Perspektiven- und Handlungswechsels überzeugen zu können. Er unterschätzt nicht die Haben- und Machtpositionen derjenigen, die, aus Egoismus, Kalkulation, Besitzstandswahrung oder Denkfaulheit nichts ändern wollen oder sich gar nicht vorstellen können, etwas zu ändern; er ist aber auch überzeugt, dass es keinen anderen Weg gibt als den der Überzeugungskraft und des Optimismus, dass der Mensch doch ein vernunftbegabtes Lebewesen ist.
In insgesamt 18 Kapiteln, die er unterteilt in die im Buch auch grafisch gekonnt gekennzeichneten Bereiche „Unsere Energiequellen“ (Kap. 2 bis 8), „Lebende Systeme“ (9 – 11), Wie wir Energie nutzen“ (12 + 13), „Welche Hindernisse müssen wir überwinden?“ (14 – 16) und „Weit und schnell gehen“ (17 + 18), diskutiert der Autor anhand von zahlreichen Beispielen und wissenschaftlichen Untersuchungen, dass sich die menschliche Zivilisation und das ökologische System der Erde auf einem Kollisionskurs befinden, bei dem sich die Klimakrise als die offenkundigste und bedrohlichste Erscheinungsform des Konflikts darstellt.
Mit der Metapher „Alles fällt auf uns zurück“ – die Treibhausgase, die wir erzeugen – findet er eine griffige Formel für die Tatsache, dass jeder Mensch, mehr oder weniger, Anteil an der Krise hat.
Im zweiten Kapitel fragt er „Woher kommt unsere Energie? Und wohin fließt sie?“ Dabei wird deutlich, dass die Energie, die von den Turbinen erzeugt wird, „schmutzig“ oder „sauber“, als Dampf, Gas, Wasser oder Wind in die Atmosphäre, die wir zum Leben benötigen, gelangt und dass es lebensnotwendig ist, Alternativen zu den dampf- und gaserzeugenden Technologien zu finden.
In Kapitel drei wird „Strom aus der Sonne“ vorgestellt, und es werden die verschiedenen Systeme zur Erzeugung und Nutzung von Solarenergie, bis hin zum Solar-Passivhaus, bewertet.
Im vierten Kapitel wird der Energieträger mit dem Slogan „Frischen Wind ernten“ charakterisiert. Dabei setzt sich Al Gore auch mit einer anschaulichen Grafik mit dem volkstüm(m)lichen Märchen auseinander, dass Windräder eine Gefahr für Vögel seien und macht überzeugend deutlich, welche Energiemengen und –kraft in dieser alternativen Technologie stecken.
Kapitel fünf befasst sich mit der Aufforderung „Erdwärme aufnehmen“ und mit einer „tatsächlich unbegrenzt“ vorhandenen und weitgehend unbekannten und ungenutzten Energie.
Mit „Energie anbauen“ wird im Kapitel sechs Energie aus Biomasse diskutiert. Gores Position ist eindeutig: „Biomasse als erneuerbare Energie kann nur dann sozial- und umweltverträglich genutzt werden, wenn das pflanzliche Rohmaterial wirklich nachhaltig erzeugt wird“.
Im siebten Kapitel geht es um „CO₂-Abscheidung und Speicherung“ und die Probleme, die sich bei der Entwicklung und Umsetzung der CCS-Technologie ergeben. Erwartungsgemäß sieht Al Gore in der „nuklearen Option“ ein „Milliardengrab“ und keine zukunftsfähige Energiequelle. Um den verführerischen und vielfach einfältigen Argumenten der Befürworter von Atomenergie etwas dagegen setzen zu können, bedarf es der Information über die Vor- und Nachteile beim Bau, beim Betreiben und beim Entsorgen von AKWs. „Wälder“ als ein lebendes System, sind durch Abholzung und Brandrodung gefährdet.
20 bis 23 Prozent der jährlichen CO₂-Emmissionen entstehen durch die Zerstörung und Abholzung von Wäldern, wird im neunten Kapitel argumentiert; wobei an positiven Beispielen von Wiederaufforstungsprogrammen Alternativen aufgezeigt werden „Die Böden der Erde erhalten“, das ist der Appell, den der Autor im zehnten Kapitel formuliert.
Dass „die moderne Landwirtschaft ( ) eine der bedeutendsten Quellen für Schadstoffe, die zur Klimaerwärmung beitragen (ist)“, und die Agrarindustrie 10 kcal an Energie aus fossilen Trägern benötigt, um 1 kcal Nahrung zu erzeugen, ist noch längst nicht in unserem Bewusstsein angekommen.
Weil die Weltbevölkerung von 1,6 Milliarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf derzeit rund 6,8 Milliarden Menschen angewachsen ist, kommt der Frage der Bevölkerungsentwicklung in der Welt eine große Bedeutung zu. Bildung und Aufklärung, Emanzipation und Mitbestimmung sind die Schlüssel für die Bewältigung der Problematik, wie sie in Kapitel elf diskutiert wird.
Kapitel 12 und 13 wendet sich der Frage zu, wie wir Energie nutzen. Energieeffizienz („Weniger ist mehr“) und Netznutzung („Supernetz“) sind die Themen.
Die erfahrungsgemäß schwierigsten Fragen, welche Hindernisse, Widerstände und Mächte überwunden werden müssen, um die Klimakrise bewältigen zu können, werden in den Kapiteln 14 bis 16 thematisiert. Die erste und wichtigste Aufgabe besteht natürlich darin, unser individuelles und kollektives Denken zu verändern, vom materiell orientierten Konsumdenken und –verhalten hin zu nachhaltigem Denken und Handeln; die zweite, eine echte intellektuelle und ökonomische Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Kosten, die die Erzeugung und Entstehung von Kohlendioxid verursachen. Und nicht zuletzt, wie politische Hindernisse überwunden werden können, im Erkennen von Macht- und Lobby-Positionen, den Macht-Möglichkeiten von „Graswurzelbewegungen“ und individuellen und gesellschaftlichen Kräften.
Die Metapher „Weit und schnell gehen“ nutzt Al Gore, um in den Kapiteln 17 + 18 Realitäten und Visionen zusammen zu bringen; etwa, um die Möglichkeiten der uns verfügbaren Informationstechnologien zu nutzen, den Menschen „das Problem der Erderwärmung in seinen wahren Ausmaßen anschaulich sichtbar (zu) machen“ und die Denk- und Handlungsinstrumente zu gewinnen, die Auswirkungen der Klimaveränderungen auf der Erde zu erkennen, durch Frühwarnsysteme Menschenleben zu retten und möglichst die Schäden zu minimieren.; denn: „Wir haben die Wahl“. Entweder wir machen aus der Einen Erde eine Wüstenei und einen für Menschen und andere Lebewesen unbewohnbaren Planeten, oder einen lebenswerten, humanen Raum, wenn auch nicht vielleicht für alle Menschen einen „Garten Eden“.
Fazit
Der in der Chaosforschung benutzte Begriff „Schmetterlingseffekt“ besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könne; was im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet, dass sowohl alles mit allem zusammen hängt, was Leben auf der Erde ausmacht, als auch, dass Aktivitäten an einer Stelle, zu einer Situation und zu einem Nutzen (potenzierte) Auswirkungen anderswo haben. Der abschreckende und missverständliche Begriff „Chaos“ in diesem Zusammenhang ist bedeutsam auch für die Frage, wie wir Menschen mit unserem Lebensraum umgehen: Chaotisch oder intelligent? Al Gore würde vermutlich sagen: chaotisch-intelligent! Denn wir müssen begreifen, dass es in unserem Denken und Handeln eines Wandels bedarf, eines Perspektivenwechsels – und zwar gemeinsam und konzertiert: „In der Praxis bedeutet dies, dass wir jetzt sofort mit der Rettung zukünftiger Generationen anfangen müssen“, mit allen möglichen Mitteln, mit aller unserer Kraft und mit unseren Hoffnungen.
Der „Plan zur Lösung der Klimakrise“ von Al Gore ist - das macht die mehrseitige Liste der Danksagungen an alle diejenigen, die zur Entstehung des Buches beigetragen haben deutlich – ist ein Gemeinschaftsunternehmen aus Dialog, Erfahrung und Vision. Es ist zu hoffen, dass das 416-Seiten starke, vom Verlag gut gestaltete Werk, die Aufmerksamkeit findet, die es verdient, um die Aufforderung „Wir haben die Wahl“ positiv beantworten zu können, lokal und global. Man kann sich vorstellen, dass Al Gores Werk neben dem „Atlas der Globalisierung“ (vgl dazu die Rezension) liegt und von allen denjenigen benutzt wird, die sich für eine bessere, gerechtere und lebenswertere EINE WELT einsetzen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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