Tilly Miller: Sozialarbeitsorientierte Erwachsenenbildung
Rezensiert von Prof. Dr. Bernd Dewe, Dipl.-Päd. Jens Winterling, 02.12.2003

Tilly Miller: Sozialarbeitsorientierte Erwachsenenbildung. Theoretische Begründung und Praxis.
Luchterhand Fachverlag
(Köln) 2003.
192 Seiten.
ISBN 978-3-472-05230-2.
20,00 EUR.
CH: 40,00 sFr.
Reihe: Grundlagen der Weiterbildung.
Über die Autorin
Tilly Miller, Dr. phil., Studium der Politikwissenschaften (Dipl.sc.pol.Univ.) und der Sozialpädagogik mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung (Dipl.Sozialpäd.FH). Studium der Literaturwissenschaft und 2-jährige abgeschlossene Weiterbildung in Literatur; derzeit Professorin für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Politikwissenschaft an der katholischen Stiftungsfachhochschule München, leitet dort den Studienschwerpunkt Erwachsenenbildung, davor knapp 10jährige Tätigkeit zunächst als Organisationsreferentin, dann als wissenschaftliche Assistentin an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing.
Ziele und Aufbau
Die zu besprechende Arbeit zählt zu den wenigen Studien, die sich der gesellschafts- und sozialpolitisch induzierten Annäherung von Sozialarbeit und Erwachsenenbildung widmen und theoretisch wie empirisch Übergangs- und Konvergenzprobleme zwischen bildungs- und sozialpolitischen Aufgaben moderner Sozialarbeit beleuchten. Die Autorin hat ihr Buch in drei Teile gegliedert: erstens einen theoretischen Begründungsteil, der aus systemischer Perspektive das Profil einer sozialarbeitsorientierten Erwachsenenbildung und die Elemente einer darauf bezogenen Didaktik vorstellt. Zweitens werden in einem Praxisteil anhand von 13 Beispielen aus dem Münchner Raum gezeigt, mit welchen Zielgruppen, Aufgaben, Vorgehensweisen, Herausforderungen und Kompetenzanforderungen die Erwachsenenbildung in der Sozialen Arbeit konfrontiert wird. Der dritte Teil dient der Reflexion über Ausbildung und Studium der Erwachsenenbildung.
Inhalte
Laut der Autorin liegen die Ursachen für eine notwendige Ausdifferenzierung der Sozialen Arbeit in der Patchworkbiografie, sowie den Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismen verschiedener sozialer Systeme und dem bleibenden Anspruch an einer gerechten Teilhabemöglichkeit, um seine existenziellen Bedürfnisse (Maslow) befriedigen zu können. Im theoretischen Begründungsteil wird das "aktuelle Paradigma" der Sozialen Arbeit, das Systemische, betont, vor allem mit Luhmanns Ansatz samt der konstruktivistischen Perspektive, aus der die Unumgänglichkeit von Deutungsvielfalt abgeleitet wird. Wegen ihrer vernetzten Problemsichtweise und ihrem dem entsprechenden Arbeiten ist Soziale Arbeit als Kontext-, Kommunikations-u. Beziehungsarbeit zu verstehen. Desweiteren kritisiert die Autorin die implizite Defizithypothese der aus den USA stammenden Sozialen Gruppenarbeit und klagt u.a. den dortigen fehlenden Bezug zu erwachsenen Teilnehmern und kultur- und bildungspolitisch hervorgerufenen Themenstellungen ein. Folglich insistiert sie auf die Notwenigkeit der Erwachsenenbildung in einer professionellen Sozialen Arbeit aufgrund von ausdifferenzierten Zielgruppen und Themenfeldern. Da ganzheitliche Bildung in der Sozialen Arbeit im Mittelpunkt steht, stellt Tilly Miller die Spezifik der sozialarbeitsorientierten Erwachsenenbildung in neun Punkten und einer entsprechenden Bildungsressourcentabelle dar. Auch werden die interaktionale, formale und die Identifikationsmacht der SozialpädagogInnen als Fach- und Kommunikationsexperten reflektiert, sowie die systemische Qualität der Gruppe, die sich in vier typischen Phasen äußern.
Als die für das Konzept grundlegenden didaktischen Prinzipien werden Teilnehmerorientierung und Handlungsorientierung genannt. Dabei handelt es sich um Strukturprinzipien mit prozessualer Offenheit, um Komplexität zu bewältigen. Desweiteren dient eine Zielorientierung als Navigationsinstrument, während Identitätsorientierung als ein Stück Biografiearbeit den Inhalt und das Selbst der Teilnehmer/innen aufeinander beziehen soll. Die Ressourcenorientierung fragt wiederum nach den Fähigkeiten des Einzelnen und der Gruppe. Hinzu kommen Kontextorientierung, Selbstverantwortung als Anleitung zur Selbstachtung und Selbstaufmerksamkeit (Cohn) und die Rückbindung von geprüften Theorien an das Alltagswissen als sogenannte Wissensorientierung. Thematisiert werden zudem die auf Demokratie und Menschenwürde ausgerichtete normative Orientierung und das Gendermainstreaming. Ebenfalls beschreibt die Autorin kurz elf Methoden einer kreativen Didaktik, die u.a. der Gedächtnisunterstützung dienen sollen und fordert ein breites Methodenrepertoire wie auch eine als Verknüpfung von Bildung mit Gemeinwesenarbeit verstandene Methodenintegration. Eine vorgeschlagene Seminarevaluation soll sich auf Qualitätssicherung, Angebotslegitimierung, Aufwand-Nutzen-Relation konzentrieren. Dazu werden drei Tabellen zu Bereichen und Methoden angeboten. Insgesamt soll sich die Evaluation an der Relevanz, der Effizienz und an der methodischen Passung orientieren. Bezüglich einer Öffentlichkeitsarbeit mahnt die Autorin, zu Kontinuität und gliedert neben sieben Leitfragen die dazu üblichen Instrumente in eine Tabelle.
Der Praxisteil besteht aus 13 Bildungsangeboten, die unter die Kategorie der sozialarbeitsorientierten Erwachsenenbildung fallen würden. Sie werden im weiteren Verlauf gleich gegliedert nach Trägern, Zielen und Angeboten, der Zielgruppe, Didaktik, den spezifischen pädagogischen Herausforderungen, Evaluationsmaßnahmen, Qualitätsmanagement und Prognosen, wie eventuell weiterführender Literatur. Außerdem wurde jeweils ein Mindmap des Anforderungsprofils für die EB in Bezug auf den einzelnen Fall entworfen. Die Beispiele selbst erstrecken sich von Angeboten für Pflegefamilien über Seniorenbildung, Sucht- und Aidsprävention- bzw. Hilfe, Schulungen für Langzeitarbeitslose, Angebote für geistig behinderte Menschen bis hin zu Stadtteilarbeit und Gemeindeentwicklung.
In einem leider knappen Reflexionsteil stellt die Autorin bezüglich Ausbildung und Studium der Erwachsenenbildung fest, dass die Fähigkeiten der weiterbildenden SozialpädagogInnen mehr in der Praxis erworben wurden als im Studium. Auf der Basis der vorher explizierten Beispiele formuliert sie schon erwähnte Leitprinzipien wie Methodenvielfalt, Kreativität, Selbstverantwortung, Selbstorganisation, Ziel-u. Wissensorientierung und sozialarbeiterische Methodenintegration. Die Autorin meldet einen Bedarf an Theorien Sozialer Arbeit an, die den Blickwinkel zur eigenen Profession aufzeigen sollen, um auf dieser Grundlage eine Schnittstelle zur Erwachsenenbildung aufzubauen. Als einen wichtigen Faktor im Studium empfindet Tilly Miller das Lernen am Modell, also an den DozentInnen. Im Schlusswort kritisiert Frau Miller lebenslangen Lernzwang (auch durch die Neuen Medien), sowie die Ökonomisierung des Bildungsbegriffs mit einhergehender sozialer Ungerechtigkeit. Stattdessen fordert sie eine Ganzheitlichkeit wie am Beispiel der sozialarbeitsorientierten Erwachsenenbildung.
Fazit
Tilly Miller hat eine kurze und prägnante Arbeit abgeliefert, die ein Thema bearbeiten soll, was bereits seit geraumer Zeit praktiziert wird, aber noch seiner theoretischen Reflexion harrt. Gerade der ausführliche Praxisteil, welcher von der sozialarbeitsorientierten Erwachsenenbildung ein vielfarbiges und konkretes Bild liefert und gleichzeitig anhand jedes einzelnen Falles die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten deutlich benennt, zwingt den vorausgehenden Theorieteil zu einer gewissen Dichte, in dem etliche wichtige Aspekte nur angerissen werden konnten, wie z.B. die Genese des Problems. Der Autorin kommt das Verdienst zu, dass sie durch die Verknüpfung von sozialarbeitsspezifischen und erwachsenenpädagogischen Perspektiven, die in der Sozialarbeit häufig anzutreffende defizitäre Betrachtung ihrer Klienten zugunsten einer eher für die Erwachsenenbildung typischen Differenzhypothese überwindet. Der häufige Bezug zu Luhmann ist gelungen, weil die an sich voraussetzungsreiche Theorie hier nur mit ihren grundlegenden Beschreibungsstrategien bemüht wurde. Insgesamt ist dieses Buch zu empfehlen für Fachhochschulen und den universitären Betrieb, immer dann, wenn die praktische Gestaltung von Seminaren in der Sozialen Arbeit thematisiert werden soll.
Rezension von
Prof. Dr. Bernd Dewe
Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg
Institut für Pädagogik
Website
Dipl.-Päd. Jens Winterling
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Es gibt 1 Rezension von Bernd Dewe.
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Zitiervorschlag
Bernd Dewe, Jens Winterling. Rezension vom 02.12.2003 zu:
Tilly Miller: Sozialarbeitsorientierte Erwachsenenbildung. Theoretische Begründung und Praxis. Luchterhand Fachverlag
(Köln) 2003.
ISBN 978-3-472-05230-2.
Reihe: Grundlagen der Weiterbildung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/896.php, Datum des Zugriffs 25.03.2023.
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