Loretta Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.03.2010
Loretta Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung. über Oligarchen, Hedge Fonds, ´Ndrangheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme. Riemann Verlag (München) 2008. 382 Seiten. ISBN 978-3-570-50090-3. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 33,90 sFr.
Die Schurkenwirtschaft ist unter uns
Die Euphorien sind verflogen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, der Jahrzehnte lang die politischen und wirtschaftlichen Mächte der Welt in Konfrontation zueinander gefangen hielt, keimten Hoffnungen auf, dass nunmehr eine Entwicklung der Zusammenarbeit und des Friedens auf der Erde einkehren würde. Auch in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt, in der nationale Egoismen keine Chance mehr haben sollten und an deren Stelle die globalen Visionen der Gerechtigkeit und der Menschenrechte endlich den erstrebten „ewigen Frieden“ einläuten würden, hat die globale, insbesondere die ökonomische Entwicklung, den Menschen auf der Erde nicht das Wohl gebracht. Entgrenzung wurde zur Maßlosigkeit auf den Gebieten der Wirtschaft, der Ausplünderung und Knechtschaft, der Kriminalität. Der „Raubtierkapitalismus“ (vgl. dazu: Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“ ? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, Psychosozial-Verlag / Haland & Wirth, Gießen 2004) hat die Illusionen einer neuen Werte- und Ethik-Diskussion hinweg gefegt und dafür Terrorismus, Gewalt und Unmenschlichkeit etabliert. Die „Globalisierungsmacher“ als die „neuen Herren der Schöpfung“ (siehe: Nicola Liebert, Barbara Bauer, Die Globalisierungsmacher, taz-Verlag, Berlin 2007, vgl. die Rezension) haben die Welt unter sich aufgeteilt, die Privatisierung, Kommerzialisierung und Kriminalisierung auf der Erde schreitet voran (siehe dazu: Matthias Lutz-Bachmann / Andreas Niederberger, vgl. die Rezension) und die Konfrontationen haben sich auf die Trennungslinien West-Süd verlagert (siehe dazu: Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen, C. Bertelsmann Verlag, vgl. die Rezension).
Autorin
Die italienische Journalistin Loretta Napoleoni lebt mit ihrer Familie in London und in den USA. Sie gilt als eine der best informierten ExpertInnen über Terrorismus und deren Finanzierungsquellen. Ihre verlässlich und seriös recherchierten Informationen über die Verflechtungen von wirtschaftlicher und staatlicher Macht mit den kriminellen Strukturen der „Schurkenwirtschaft“ lesen sich wie eine Horrorgeschichte von Unmenschlichkeit und Macht. Die Autorin will ihr Buch nicht als Antiglobalisierungshandbuch verstanden wissen, auch nicht als ein „Manifest einer Konsumrevolution“; es geht ihr darum, „die Verbraucher zu stärken mit Wissen über die Welt, in der wir leben“.
Aufbau und Inhalt
Die „Schurkenwirtschaft (ist) nicht die Ausnahme, sondern endemisch: eine dunkle Kraft, die in unsere gesellschaftliche DNA eingeschrieben ist und ständig im Hintergrund einer Gesellschaft lauert“; nicht fatalistisch ausgedrückt, sondern als Gefahr beschrieben, die nur dann bekämpft und abgewendet kann, wenn die Menschen über sie Bescheid wissen. Sie gliedert ihr Buch in zwölf Kapitel und formuliert im Epilog die Strukturen für einen neuen Gesellschaftsvertrag.
Im ersten Kapitel zeigt die Autorin das Problem auf, das der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger, zusammen mit anderen, zum Jahrzehntbeginn in einem Appell an die Bundeskanzlerin formulierte, was sich 2010 ändern müsse; die Bundesregierung dürfe nämlich die Menschen nicht anlügen, u.a., dass die Politik den Machtkampf mit der internationalen Finanzindustrie verloren habe (vgl. dazu: Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel, Berlin Verlag 2009, in: socialnet Rezensionen 9004). Loretta Napoleoni stellt am skandalösen und maffiosen globalen Sex-Markt die Organisationsformen der russischen, europäischen und arabischen Sexunternehmer dar, die Prostituierte vor allem aus den osteuropäischen Ländern als „Waren für das globale Dorf“ verkaufen. Die Oligarchen und Maffiosi sind erfolgreich am Werk, wenn es darum geht, aus dem Zusammenbruch der Sowjetmacht Schurkenkapital zu schlagen.
Das zweite Kapitel setzt sich mit der Problematik auseinander, dass niemand die Schurkenwirtschaft kontrolliert. Finanzmanipulationen, Geldwäsche und Spekulationen mit Geld, das nur virtuell, aber nicht wirklich vorhanden war, haben nicht nur zu der weltweiten Finanzkrise geführt, sondern auch die rauschhaften und illusionären Vorstellungen der Menschen von hirnrissigen Zinsgewinnen, haben „das Unwissen über die Welt, in der wir leben (produziert)…, ein Labyrinth von Rauch und Spiegeln, das die Realität verbirgt, verzerrt und verhindert, dass wir begreifen, was passiert“. Die Herrscher und Manipulatoren von Hedge Fonds und Private-Equity-Firmen seien die Barbaren von heute, die anderen Geld abnehmen und von dem leben, was sie auf Raubzügen erbeutet hätten, anstatt selbst Waren herzustellen.
Kapitel drei deckt die Machenschaften der globalen Kriminalität auf, indem die Autorin über die Tricks und mittlerweile völlig in das Weltwirtschaftssystem integrierten Geldwaschsysteme etwa der ‘Ndrangheta, dem Zusammenschluss von kalabrischen Mafiosi informiert, die mittlerweile weltweit agiert und nach den Regeln der freien Marktwirtschaft ungeheuere Gewinne einheimst, genau so wie die bulgarische Nomenklatura, wie auch die anderen kriminellen Geldbeschaffungspforten. Sie alle setzen darauf und nutzen die Situation, dass korrupte und nicht zivilgesellschaftlich funktionierende politische Systeme und Staaten existieren.
Um die Entwicklungen im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, nein, nicht der USA sondern China, geht es im vierten Kapitel. In einem „Ritt mit dem Sturm“ zeigt Loretta Napoleoni auf, wie sich die Politik Chinas konsequent von dem „Paradox der Kulturrevolution“ hin zu der neuen (kapitalistischen) Parole „Werdet reich“ entwickelte. Es sind die drei typischen Eigenschaften, die an die Netzwerke des organisierten Verbrechens andocken: Gewalt und Machtausübung und damit die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen; die hegemoniale und machtpolitische Definition von „erleuchteter Führung“, die alles richtig weiß und danach handelt; und drittens die national(istisch) definierte „Einheit des Raumes“.
Im fünften Kapitel geht es um „Fälschungen“ von Markenprodukten, wie etwa am Beispiel von „Chanel No.5“ aufgezeigt wird, als die aus China stammenden, gefälschten Parfüms als „Chinel No.5“ identifiziert wurden. Die mittlerweile weltweit mit riesigen Umsätzen und Gewinnen agierende Fälscherindustrie profitiert nicht nur durch die (über-)markt- und markenorientierte Preis- und radikalen Privatisierungs- und Deregulierungspolitik der Hersteller von Originalwaren, sondern auch von den geförderten und immer wieder neu erfundenen Markt- und Gesetzeslücken durch mafiose Kräfte.
„Marktmatrix“ nennt die Autorin das System im sechsten Kapitel. „Sie verbreitet den Virus der Schurkenwirtschaft und bringt ihn direkt zu uns nach Hause“. Es handelt sich um gefälschte Medikamente und Produkte, als „unheilige Allianz der schnell wachsenden Weltwirtschaft mit ihren Negativfolgen wie Illegalität und Kriminalität und den immer schwächeren Nationalstaaten“, bis hin zum „blutigen Geld“, den „Blutdiamanten“ aus Afrika und dem dabei florierenden neuen Sklavenhandel. Nicht zu vergessen die Handelsspannen, wie sie auch auf dem Agrarweltmarkt üblich sind: Der „Bananensplit“. Vom Verkauf der (billig) in den Supermärkten angebotenen Bananen erhalten der Supermarkt 45 Prozent, die Importeure 18 Prozent, die Plantagengesellschaft 15,5 Prozent und der Bananenpflücker 2,5 Prozent. Ähnliche Verteilungen sind bei Tabak, Südfrüchten und anderen agrarischen Produkten üblich.
Im siebten Kapitel geht es um „Hightech“ und die „Goldfarmer“ im globalen Netz. Online-Spiele mit ihren elektronischen Währungen, die sich bei den immer mehr werdenden abhängigen Spielern vom virtuellen Geld in konkrete Verluste verwandeln; bei denen Hausbesitzer ihre Besitztümer und Menschen ihre Ersparnisse und Existenzen verlieren; wo Spieler ihr armseliges Leben durch Internetpornographie aufpeppen; wo Abhängige ihr wirkliches Leben durch „second life“ vertauschen; bis hin zu den illegalen Geschäftemachern und Betrügern, die mittlerweile das Internat als „die erfolgreichste Kolonie der Schurkenwirtschaft“ werden lässt.
Direkt auf unsere Tische gelangt das, was Loretta Napoleoni im achten Kapitel „Anarchie auf hoher See“ bezeichnet. Es geht um den illegalen Fischfang und die Fischerei-Sweatshops im Meer, mit den sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen für die wiederum auf dem Weltarbeitsmarkt angeworbenen Seeleuten vor allem aus den ärmsten Ländern der Erde. Es sind aber auch die „modernen Piraten“, die in unsicheren Gewässern lohnenswerte Schiffe kapern und als professionelle Geschäftsleute Lösegeld in Millionenhöhe von den Schiffseignern und –gesellschaften erpressen; nicht zu vergessen in dieser Skandalchronik sind die Praktiken, die die Ozeane der Erde zu den größten Mülldeponien und Entsorgungsstätten werden lassen.
In dieser apokalyptischen Aufzählung bekommen ihr Fett auch Prominente ab und Könner von Statistik-Interpretationen, wenn sie in diesem Weltchaos Lichtblicke sehen wollen (vgl. dazu: Al Gore, Wir haben die Wahl, Riemann Verlag, München 2009, in: socialnet Rezensionen 8911). Ebenfalls die (westliche) Entwicklungspolitik gerät in den Fokus der Autorin. Wenn auch allzu holzschnittartig, so doch eindringlich stellt sie fest, dass „die Entwicklungshilfe für Afrika als Instrument der Schurkenwirtschaft (diente), das vor allem zur Finanzierung von Terroristen benutzt wurde“. Die Lösung sieht sie darin, dass „nicht Geld, sondern die richtige Regierung“ handelt. Vermutlich würde der Autorin das „Gebet“ des 1931 geborenen und 1982 gestorbenen ugandischen Künstlers und Schriftstellers gefallen, das er – „wäre ich ein gläubiger Christ“ – 1973 sprach: „Oh Gott, bewahre Afrika / Vor unseren neuen Herrschern; / Lass sie demütig werden / Öffne Ihre Augen, / Damit sie sehen, / dass der materielle Fortschritt / Nicht auf einer Stufe steht mit geistigem Fortschritt…“ ( vgl. dazu auch: Walter Eberlei, Afrikas Wege aus der Armutsfalle, Brandes und Apsel Verlag, Frankfurt/M., 2009, in: socialnet Rezensionen 8110).
Im zehnten Kapitel werden einige Antworten darauf gegeben, weshalb die Lage der Welt so ist, wie sie ist (vgl. dazu: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, in: socialnet Rezensionen 7730). Es geht um die „Mythologie des Marktstaates“, die sich in einem zweifachen Dilemma darstellt: „Einer Krise der Rationalität und einer der Legitimation“. Es seien die Populismen, etwa eines Berlusconi in Italien, aber auch eines Chavez in Venezuela, die einen Kokon um die Gesellschaften bauen und so die Unfähigkeit zu Reformen (wohlig?) einweben.
Am Beispiel der „kriminellen Kolonisierung der Städte“ durch Banden wie den Maras und Pandillas in Mittelamerika, zeigt Loretta Napoleoni die kriminellen Strukturen auf, die sich als Folge der wirtschaftlichen Globalisierung ohne Kontrolle längst auch in anderen Stadtvierteln der Megastädte in der Welt etabliert haben. Die Autorin erkennt, mit einer interessanten Replik auf die historische Entwicklung des (griechischen) Staatendenkens, Parallelen zum heutigen Tribalismus mit der Tendenz, „ein System vertrauter Stereotypen“ zu bilden und die Sehnsucht nach „geschlossenen Gesellschaften“ in der „offenen Welt“ zu fördern.
Diese Formen des „wirtschaftlichen Tribalismus“ werden im zwölften Kapitel am Beispiel des islamischen Finanzwesens diskutiert, mit der (vagen und spekulativen) Aussicht, „eine neue Weltordnung zu definieren, die frei von der Anarchie des ungebändigten Kapitalismus ist“.
Im Epilog fasst Loretta Napoleoni ihre Fakten, Überlegungen, auch Spekulationen und Visionen, zusammen, indem sie Strukturen für einen neuen (globalen) Gesellschaftsvertrag darstellt. Es ist der „moderne Tribalismus“, der den „anarchischen Zustand der (Welt-)Wirtschaft“ erkennt und in der Lage ist, die kriminellen und egoistischen Imponderabilien der Schurkenwirtschaft zu verändern. Dabei setzt sie in erster Linie auf die in der Welt Ausgebeuteten und Verlierer, bis hin zu der Mittelschicht in der westlichen Welt: „Der moderne Tribalismus (bietet) ein erfolgreiches Rezept, mit den wirtschaftlichen Belastungen der Globalisierung fertig zu werden und eine sozioökonomische Struktur zu schaffen, die das Wohlergehen einer Gemeinschaft auch in der Anarchie der Schurkenwirtschaft garantiert“.
Fazit
Das Plädoyer der Journalistin und Ökonomin Loretta Napoleoni ist sicherlich für diejenigen, die der Meinung sind, es sei in unserer (Einen?) Welt alles gut und es könne nur besser werden, keine Lektüre, die sie aus ihrer Selbstgewissheit herausholen könnte. Für diejenigen aber, die sehen und erkennen, dass die Welt, wie sie ist und geworden ist, human nicht weiter existieren kann, sind die Gedanken und Recherchen der politischen Journalistin ein nachdenkenswertes Informations-, Geistes- und Wissensfutter. Man könnte sich gut vorstellen, dass die Auseinandersetzung mit ihren Thesen und Analysen in wissenschaftlichen Seminaren, aber auch in politischen Stammtischen und Zirkeln nutzbringend ist; denn „um das Wesen der Schurkenwirtschaft zu verstehen, müssen wir an ihrem Fundament beginnen: dem ewigen Kampf zwischen Politik und Wirtschaft, einem bösartigen Krieg, der die ganze (menschliche, J.S.) Geschichte hindurch geführt wird“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.03.2010 zu:
Loretta Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung. über Oligarchen, Hedge Fonds, ´Ndrangheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme. Riemann Verlag
(München) 2008.
ISBN 978-3-570-50090-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8975.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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