Hans-Helmut Decker-Voigt, Eckhard Weymann (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie
Rezensiert von Prof. Dr. em. Christel Hafke, 13.03.2010

Hans-Helmut Decker-Voigt, Eckhard Weymann (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2009. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. 574 Seiten. ISBN 978-3-8017-2162-6. 59,95 EUR. CH: 99,00 sFr.
Thema und Absicht
Mit der zweiten Auflage des Lexikons Musiktherapie legen die Herausgeber H.-H. Decker-Voigt und E. Weymann eine überarbeitete und erweitere Fassung des zum VIII. Weltkongress Musiktherapie 1996 erschienenen ersten Bandes vor.
Es ist das erklärte Ziel der Herausgeber, wie in der ersten Ausgabe, „einen Überblick mit gewisser Tiefenschärfe in den einzelnen Stichworten zu vermitteln.“ (Vorwort S.VI). Obwohl sie sich zu ihrer „phänomenologisch-tiefenpsychologischen“ Ausrichtung bekennen, haben sie sich bemüht, „sich nicht in den Dienst einer bestimmten Musiktherapieschule oder musiktherapeutischen Strömung zu stellen.“ (ebd.) Gedacht ist dieses Lexikon oder auch „Lesebuch“ für Praktizierende und in Ausbildung/Studium befindliche MusiktherapeutInnen, Interessierte aus den angrenzenden kreativen Therapien und Gesundheitswissenschaften und „Wissenschaftsjournalisten aus dem Gesundheitswesen“ S. VII).
Entstehungshintergrund
Zum Entstehungshintergrund dieses Buch-Projekts ist leider explizit nichts zu erfahren. Dies wäre interessant, würde dies doch möglicherweise die etwas beliebig scheinende Zusammenstellung der Stichworte erhellen helfen.
Aufbau und Inhalt
Die im Lexikon auf jeweils wenigen Seiten behandelten Stichworte sind meist (leider wie in der ersten Auflage auch hier nicht konsequent!) alphabetisch geordnet. Im Vorwort nennen die Herausgeber zumindest für die Neuzugänge eine gewisse systematisierende Orientierung.Zu den neu hinzugekommenen Praxisfeldern gehören
- „Suchtkrankenberatung und –Behandlung“ (H. Kapteina),
- „Abhängigkeitserkrankungen“ (H. Kapteina),
- „Onkologie“ (U. Hennings),
- „Kardiologie“ (F.-K. Maetzel) und
- „Psychodynamische Psychiatrie“ (I. Engelmann).
Die musiktherapeutische Arbeit mit Kindern wird gleich mit mehreren Beiträgen bedacht:
- „Kindermusiktherapie“ (Th. Stegemann),
- „Hyperaktive und verstummte Kinder“ (W. Barnowski-Geiser),
- „Schreibabys“ (G. M. Lenz),
- „Musiktherapie in der Schule“ (R. Tüpker) und
- „Musikschule“ (G. Peters).
Die Herausgeber sehen in diesen neuen Behandlungskontexten gleichsam „einen Spiegel in die Zukunft“ (S. V), im Sinne sich ausweitender Arbeitsfelder für MusiktherapeutInnen.
- „Behandlungsschritte“ (R. Tüpker),
- „Berufsrecht“ (St. Flach),
- „Beratung, Supervision und Coaching“ (H. Jahn) und
- „Berufständische Organisationen“ (H. Schirmer/I. Wolfram)
dürfen da nicht fehlen.
Eine theoretische Unterfütterung für eine „Musiktherapie als Gesundheitswissenschaft“ (S. VI) sollen folgende Beiträge liefern, die auch die Verbindung zu Nachbarwissenschaften thematisieren:
- „Selbstpsychologie“ (R. Tüpker) und
- „Musikmedizinische Forschung“ (R. Spintge) nennen die Herausgeber.
Es scheint folgerichtig, dass Themen wie
- „Indikation/Kontraindikation für Musiktherapie“ (Frohne-Hagemann),
- „Gruppentherapie“ (T. Weber) und
- „Kurzzeitmusiktherapie“ (D. Storz)
nicht fehlen dürfen. Als weitere „praxeologische Themen“ (S. VI) erscheinen die
- „Leiborientierte Musiktherapie“ (U. Baer/G. Frick-Baer) und die
- „Community Musik Therapie“ (Th. Wosch).
Zu einem Blick in die Geschichte der Musiktherapie, die sich nach einem halben Jahrhundert als etablierte Gesundheitswissenschaft verstehen möchte, gehören die Themen
- „Geschichte der Musiktherapie/Musikmedizin nach 1945 in Deutschland“ (A. Ster) und die
- „Geschichte der ostdeutschen Musiktherapie“ (P. Jürgens).
Als weitere, neu aufgenommene Themen sind zu nennen:
- „Archaische Musikinstrumente“ (J. Oehlmann),
- „Gruppenmusiktherapie“ (T. Weber),
- „Musik-imaginative Schmerzbehandlung“ (S. Metzner),
- „Polaritätsverhältnisse in der Improvisation“ (M. Deuter),
- „Schizophrenie“ (S. Kunkel),
- „Spiritualität und Seelsorge“ (H. Kapteina),
- „Tinnitus und Hyperakusis“ (E. S. Krausse),
- „Trauma und sexueller Missbrauch“ (G. Strehlow) und
- „Wiener Schule der Musiktherapie“ (E. Fitzthum).
Dass es an dieser Stelle nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist, auf alle Beiträge im Einzelnen einzugehen, versteht sich von selbst. Ich möchte im Folgenden exemplarisch etwas zu Konzept/Aufbau/Auswahl anmerken und ebenso exemplarisch auf die Frage inhaltlicher Qualität einzelner Beiträge eingehen:
Diskussion
1. Es wird den interessierten LeserInnen trotz alphabetischer Ordnung nicht gerade leicht gemacht, den versprochenen Überblick auch wirklich zu bekommen: Beispielsweise tauchen ethnologische Perspektiven in mehreren Beiträgen auf (es sind keine neuen Beiträge, lediglich ein Autor ist ausgetauscht worden): „Ethnologische Aspekte der Musiktherapie“ (T. Timmermann), Musikanthropologische und ethnologische Aspekte“ (W. Suppan), „Musikethnologie – Schamanismus – Musiktherapie“ (W. Mastnak) und „Archaische Musikinstrumente“ (J. Oehlmann); auch „Trance“ und „Verändertes Wachbewusstsein“ (S. Rittner/ J. Fachner/P. Hess) gehören eigentlich noch dazu. Dass diese Beiträge - ob der alphabetischen Sortierung - nun an verschiedenen Stellen stehen und erst bei systematischer Lektüre möglicherweise als thematisch verwandt erkannt werden, zeugt von einer gewissen Unübersichtlichkeit des gewählten Darstellungsverfahrens. Entsprechendes wäre an weiteren Themenstichworten zu demonstrieren. Hier mögen sich interessierte LeserInnen nach einer thematisch strukturierten Zusammenschau der Beiträge sehnen.
2. Von A – Z in einem Lexikon mag
suggerieren: Es ist alles oder von jedem etwas dabei! Aber dieser
Anschein trügt gewiss: Es ist so manches nicht mehr oder einfach
nicht dabei, und über diese Lücken wäre es sinnvoll zu
sprechen, weil sie Bestandteile des Diskurses sind. Gerade das
Benennen der Auswahl- oder Weglasskriterien würde offenbaren,
dass es eben keinen abgeschlossenen Wissenskanon „der“
Musiktherapie gibt, sondern hier, wie überall in der
Wissenschaft, sich in Diskursen Machtverhältnisse spiegeln, die
bestimmte Themen und Diskursstränge hervorbringen, pflegen oder
ignorieren.
„Ein Lexikon, ein Handbuch, ein
Nachschlagewerk ist immer ein Spiegel der Veränderung des
Faches, das ein Nachschlagewerk schildern will.“ (Vorwort S.V)
Insofern ist es spannend, neben der Lektüre der einzelnen
Stichworte zu schauen, welche Themen neu hinzugekommen sind, aber
auch, welche nicht mehr aufgenommen wurden. (Daneben ist es für
die Insider interessant, welche Autoren bleiben und welche nicht mehr
dabei sind. Denn wie M. Foucault in seiner „Ordnung des
Diskurses“ ja sehr anschaulich beschrieben hat: Wer darf zu wem
an welchem Ort, wann und unter welchen Bedingungen etwas sagen bzw.
schreiben.).
Beim Blick in die erste Auflage scheinen mir
von den nicht wieder aufgenommenen Stichworten die folgenden
erwähnenswert: Abwehr, Affektivität, Anders-Werden,
Familientherapie, Leiden-können, Paartherapie, Psychoanalyse und
Therapeutische Liebe. Es wäre lohnend, in dieser Abkehr und
veränderten Auswahl – und der Quasi-Naturalisierung des
musiktherapeutischen Diskurses als Lexikon - die eingebetteten
Diskussionen, Verwerfungen und Neuorientierungen auszumachen.
3. Zum anderen ist die Qualität
der Beiträge als sehr unterschiedlich zu bezeichnen. Neben
zahlreichen sehr informativen und interessanten Ausführungen
gibt es auch Beiträge, die eigentlich kaum mit dem Anspruch der
Herausgeber, in die Tiefe zu leuchten, vereinbar sind. Hier seien
zwei Beispiele für ärgerliche Zumutungen genannt:
Auf S. 120/121 Stichwort „Denkprozesse“ (T.
Eschen): In einem Lexikon von 2009 mit dem genannten Anspruch
darf man doch erwarten, dass es zumindest einer Begründung
bedarf, warum weiterhin an völlig veralteten Modellen der
Gruppendynamik (z.B. Ammon 1975) festgehalten wird; warum in
einem wissenschaftlichen Lexikon „neuere Hirnforschung“
(die in sich ja durchaus kontrovers ist!) bemüht wird, ohne
jedweden Hinweis auf eine Quelle oder einen Autor zu geben. Ähnliches
gilt für das Stichwort „Empathie“ vom gleichen
Verfasser. Auch hier bleiben die aktuellen Diskussionen und
Erkenntnisse, z.B. über Spiegelneuronen, unerwähnt.
Im Aufsatz über Community Music Therapy (Wosch), dem
„neuen Mekka innerhalb der Musiktherapie“ 115) finden
sich nicht nur z.T. haarsträubende Formulierungen, sondern auch
inhaltliche Plattitüden: Völlig unkritisch wird der in
bestimmten Kreisen wieder hochgehaltene Gemeinschaftsbegriff
beschworen: „…dass Wissen in Diskussionen und Debatten
der Gemeinschaft produziert wird und nicht durch einzelne Menschen.“
(116) Der Gemeinschaftsbegriff hat ja gerade in Deutschland eine
Geschichte und es wäre mehr als angemessen, diesen belasteten
Begriff kritisch zu betrachten. Ungeachtet des problematischen
Gemeinschaftsbegriffs bin ich geneigt, musiktherapeutisch zu fragen:
Was ist eine Melodie ohne die einzelnen Töne?
An
anderer Stelle des Artikels heißt es: „Gemeinschaft oder
Ökologie wird in der CoMT insbesondere als Wesensmerkmal von
Musik verstanden,“ (116) Erstaunlich, was die neumodische
Begeisterung an neuen Kausalitäten hervorbringt! Gänzlich
unerträglich wird der Versuch, in Anlehnung an Stige eine
Definition der CoMT zu geben: „CoMT ist eine professionelle
Praxis von Musizieren und Gesundheit, die in einer Gemeinschaft als
geplanter Prozess der Zusammenarbeit zwischen Klient und Therapeut
mit der Förderung soziokultureller und Veränderungen der
Gemeinschaft durch einen teilnehmerzentrierten Ansatz angesiedelt
ist, in dem Musik als soziale Umwelt und Heimat in aufgeführten
Beziehungen im nichtklinischen und integrierenden Rahmen angewendet
wird.“ (117) Alles klar? Vielleicht wäre ein Blick in
Wikipedia doch angebrachter? Es mag bezweifelt werden, ob ein solcher
Text dafür geeignet ist, dass sich „Interessierte aus
Nachbarbereichen … oder Laienkreisen …einlesen oder
kundig machen.“ (S. VI)
Darin, dass derart
unterschiedliche Qualitäten redaktionell zugelassen werden,
spiegeln sich möglicherweise viele verschiedene Themen
persönlicher und inhaltlicher Art. Aber sollten die in einem
gebundenen teuren Lexikon Platz erhalten?
Die meisten, von mir jetzt nicht explizit erwähnten, Beiträge sind informativ und tatsächlich in die jeweilige Thematik einführend. Aber dort, wo auf Gesellschaft Bezug genommen wird, merkt man leider (!), dass nichts von den veränderten Diskussionen in den Sozial- und Kulturwissenschaften zur Kenntnis genommen wurde. Auch die Ausführungen zu ethnologischen Themen bleiben größtenteils einem Exotismus verhaftet, ohne dass die Chance genutzt wird, ethnomethodologisches Wissen auch auf musiktherapeutische Fragen anzuwenden.
Fazit
Ich habe mich während meines Schreibens an der Rezension gefragt, ob es sinnvoll ist, das neue Buch für unsere Bücherei anzuschaffen, zumal doch sehr vieles mit der ersten Auflage identisch ist. Ich komme zu dem Schluss, dass es lohnende Anstöße für eine Auseinandersetzung über just die oben angesprochenen Fragen bereithält.
Rezension von
Prof. Dr. em. Christel Hafke
em. Professorin der Fachhochschule Emden, lehrte schwerpunktmäßig im Bereich Kultur/Ästhetik/Medien, Soziologie und Ethik
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