Reinhard Stähling, Barbara Wenders: Ungehorsam im Schuldienst
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 25.02.2010
Reinhard Stähling, Barbara Wenders: Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle.
Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2009.
255 Seiten.
ISBN 978-3-8340-0550-2.
19,80 EUR.
CH: 34,60 sFr.
Reihe: Grundlagen der Schulpädagogik - Band 66.
Thema
In dieser Publikation kommen Pädagoginnen und Pädagogen zu Wort, die zum Wohle ihrer Schülerinnen und Schüler über pädagogische Ungehörigkeiten den pädagogischen Wert ihrer Arbeit steigerten.
Herausgeber
Reinhard Stähling, im Jahre 1956 geboren, leitet die Grundschule Berg Fidel in Münster. 1998 promovierte er an der Universität Münster mit einer Arbeit über Beanspruchungen im Lehrerberuf: Einzelfallstudie und Methodenerprobung.
Die 1952 geborene Barbara Wenders ist Grund- und Hauptschullehrerin und Lehrerin für Sonderpädagogik. Gegenwärtig arbeitet sie im Gemeinsamen Unterricht der Grundschule Berg Fidel in Münster.
Nähere Informationen zur Grundschule Berg Fidel in Münster sind unter der URL http://www.ggs-bergfidel.de/ abrufbar.
Entstehungshintergrund
Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer beklagen das existierende Schulsystem. In der vorliegenden Publikation haben sich einige von diesen "querulatorischen Psychopathen" vereint, um den Linientreuen einen Weg aufzuzeigen, der zu einer Schule für alle führt.
Aufbau und Inhalt
Drei Teile umrahmen das Gesamtwerk eigenwilliger Autoren.
Der erste Teil befasst sich mit dem steinigen Weg zur Ungehorsamkeit im Dienste der Bildung:
- Zunächst befasst sich der 1933 geborene und sich seit 1995 im Ruhestand befindende ehemalige Schulamtsdirektror Gerhard Sennlaub mit der amtlich angeordneten Kinderschädigung.
- In einem pädagogischen Exkurs fragt der Erstherausgeber danach, ob man wegschauen oder eingreifen soll, wenn z. B. der 7-jährige Boban seit Wochen nur selten zur Schule kommt, sehr schleppend lernt, unkonzentriert und kaum zugänglich ist.
- Die 1947 geborene Irmtraud Schnell erzählt aus ihrer Arbeit als Sonderpädagogin und Integrationsforscherin: „Integration wurde schulgesetzlich geregelt, ich hielt Integration für den richtigen Weg, Eltern wollten es auch, aber der Schulleiter versuchte abzuwehren. Er sagte den Eltern, wir hätten keine Stunden zur Verfügung, um schwierige Kinder in allgemeinen Schulen zu unterstützen. Das war allerdings gelogen; es waren nämlich Stunden im Plan gesteckt, die nicht stattfanden. Die Sonderschule war ein Schonraum für Lehrkräfte“ (S. 39).
- Reinhard Stähling fragt in einem juristischen Exkurs danach, ob wir über illegale Schüler oder illegale Schulverhältnisse verfügen.
- Die ehemalige nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete, Gymnasiallehrerin und heutige dreiundsechzigjährige Integrations- und Inklusionsforscherin Brigitte Schumann erzählt von ihren Defiziterfahrungen im Schuldienst.
- Über normabweichende Kinder führt Barbara Wenders an Schumanns Erzählung einen Exkurs über den Widerstand gegen gymnasiale Selbstverständlichkeiten.
- Das die Angst vor Autoritäten unbegründet ist berichtet die sich seit 2001 im Ruhestand befindende und 1937 geborene ehemalige Schulleiterin einer Brennpunktschule in Münster Ada Fuest.
- Einen Exkurs über die List widerspenstiger Eltern führt Reinhard Stähling durch, woraufhin Getraud Greiling, Jahrgang 1936, aus ihrem Leben als Gründerin des Gievenbecker Projekts berichtet: „Im Sinne von Öffnung der Schule (1979 – CR) hat sich […] eben manches verändert“ (S.96).
- Einige praktische Beispiele für ungehorsames Handeln aus der Schule werden stichwortartig in tabellarischen Übersichten zusammengetragen. „Die Beispiele beziehen sich auf Veränderungen der Lehrerrolle vom Einzelkämpfer zum Teammitglied […] (Reinhard Stähling, Manfred Pollert, Jahrgang 1939), auf integrative Beschulung anstelle von Aussonderung in Sonderschulen […] (Reinhard Stähling, Raimund Patt, Jahrgang 1953) und auf die sinnvolle Übernahme von Zuständigkeiten, z. B. der Jugendhilfe, durch die Schule […] (Reinhard Stähling, Astrid Kaiser, Jahrgang 1948). Die Übersicht praxiserprobter Ungehörigkeiten beginnt […] (Reinhard Stähling, Walter Hövel, Jahrgang 1949) mit einem Blick auf den Unterricht, der den vorauseilenden dienstlichen Gehorsam ‚abschüttelt‘ und sich zu einer humanen und couragierten Gemeinschaftsveranstaltung für alle Schüler verwandelt“ (S. 102).
Im zweiten Teil des Buches ist der Skandal perfekt. Hier wird der von den Medien begleitete Ungehorsam im Dienste der Bildung aufgeführt. Das geschieht in einem Lehrstück über eine Disziplinarmaßnahme am Fall des 1943 geborenen Grund- und Hauptschullehrers Heinz Kreiselmeyer, im Amt eines Schulaufsichtsbeamten.
Im dritten Teil wird über den deutschen Tellerrand hinausgeschaut. Andere Länder – andere Sitten bieten ungeheure Horizonte für die Bildung.
- Der 1946 geborene kanadische Schulamtsdirektor und Hochschullehrer Gordon Porter berichtet über den Veränderungsprozess hin zu einer inklusiven Schule in der kanadischen Provinz New Brunswick.
- Die 1948 in Kanada geborene Jean Collicott berichtet von ihren kanadischen Inklusionserfahrungen als Method and Resource Teacher.
Diskussion
Das die Sonderschule als Schonraum für Lehrkräfte betrachtet werden kann, führte ich u. a. mal in einem Vortrag an der Universität zu Köln an. Das wurde mir von dem Veranstalter sehr krumm genommen, da ich die wertvolle Sonderpädagogik durch eine derartige Wortwahl degradieren würde.
Ich erinnere mich an mein Referendariat an der Schule am Marsbruch in Dortmund. Hierbei handelt es sich um eine Schule für Körperbehinderte im Bildungsbereich der Primarstufe und der Sekundarstufe I. Abitur sollen Behinderte ja nach Möglichkeit nicht machen (vgl. URL: http://www.zeit.de/2010/06/Streitgespraech-Integration [Download 09.02.2010]). An meiner Ausbildungsschule habe ich einmal die Soziale Problemlösemethode Zukunftswerkstatt (Burow/Neumann-Schönwetter 1997) durchgeführt und wohl in ein Wespennest gestochen. Eine derartige Methode war damals, also zwischen 1994 und 1996, meinen Ausbildungslehrerinnen unbekannt und aus diesem Grund für den Unterricht in einer Körperbehindertenschule nicht geeignet. Ich war ungehorsam und für den Schuldienst unbrauchbar, was dann schließlich in die Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst mündete. Wahrscheinlich ist es klug von den genannten Autorinnen und Autoren, dass selbige mit ihrem Ungehorsam erst zum Ende oder nach ihrer Dienstzeit (und das dieser Zeitpunkt erreicht ist kann man an den Geburtsjahrgängen ablesen) an die Öffentlichkeit gegangen sind. „Unsere Interviewpartner sind im Alter zwischen 56 und 76 Jahren. Viele von ihnen genießen inzwischen ihren Ruhestand und haben wegen ihrer hier veröffentlichten kritischen Äußerungen gegen Missstände im Schulwesen keine Sanktionen zu erwarten“ (S. 4). Ich jedenfalls wurde im Referendariat für Reformbestrebungen hin zu einer integrativen Schule – die Inklusion kannte damals noch niemand – von meinen Ausbilderinnen geschasst. Ein erfahrener Kollege und Begleiter sagte mir, als das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist: ‚In der Ausbildungszeit musst Du immer Deine Schnauze halten.‘
Die Hochschule Zittau/Görlitz bietet einen Zertifikatskurs Integrativer Unterricht an. Hierbei handelt es sich um ein Fortbildungsprogramm, welches Lehrerinnen und Lehrern aus dem allgemeinen Schulwesen des Freistaats Sachsen zu Integrationslehrern aus-, weiter- oder fortbildet (näheres hierzu ist unter der URL: http://www.hs-zigr.de/zint/ abrufbar). Es wäre zu wünschen, wenn bildungsreformerisches Handeln dann zu einer Revision des sonderpädagogisch überladenen Positionspapiers zum inklusiven Bildungssystem des Verbands Sonderpädagogik vom 19.09.2009 führt (URL: www.verband-sonderpaedagogik.de) – aber im Ernst, was erwartet man von der Sonderpädagogik anderes?! Dieses Papier wurde auf der 44. Hauptversammlung des Verbandes Sonderpädagogik im November 2009 eingebracht und beschlossen (VDS 2010). Zu wünschen bzw. zu fordern ist es das Menschen mit Marginalisierungserfahrungen diesen Prozess maßgeblich bis ausschließlich mitgestalten und dafür auch entlohnt werden. Dann können wir von gelebter Inklusion sprechen. Nein, wir bräuchten dann diesen Terminus nicht mehr, weil es dann endlich eine Pädagogik für alle gibt, in der nicht mehr nach einer Enthaltenseinsbeziehung gefragt wird. Ausschluss ist dann nicht mehr möglich.
Fazit
Bildungsreformerinnen und –reformern und das gegenwärtige Bildungssystem Kritisierenden sei die Lektüre dieser Schrift wärmstens empfohlen. Wünschenswert wäre es, wenn es noch mehr querulatorische Psychopathen in der Bildungslandschaft gibt, die reformerisch und zum Wohle der zu Bildenden tätig werden.
Literatur
Burow, Olaf-Axel/Neumann-Schönwetter, Marina (Hg.): Zukunftswerkstatt in Schule und Unterricht. Hamburg 1997, 2. Auflage.
Stähling, Reinhard: Beanspruchungen im Lehrerberuf: Einzelfallstudie und Methodenerprobung. Münster 1998.
VDS. Positionspapier Inklusives Bildungssystem. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 61(2010)72f.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 25.02.2010 zu:
Reinhard Stähling, Barbara Wenders: Ungehorsam im Schuldienst. Der praktische Weg zu einer Schule für alle. Schneider Verlag Hohengehren
(Baltmannsweiler) 2009.
ISBN 978-3-8340-0550-2.
Reihe: Grundlagen der Schulpädagogik - Band 66.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/8990.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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