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Eike Bohlken, Christian Thies (Hrsg.): Handbuch Anthropologie

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 08.07.2010

Cover Eike Bohlken, Christian Thies (Hrsg.): Handbuch Anthropologie ISBN 978-3-476-02228-8

Eike Bohlken, Christian Thies (Hrsg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. 460 Seiten. ISBN 978-3-476-02228-8. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.

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Herausgeber

Bohlken und Thies sind beide Mitglieder des „Forschungsinstituts für Philosophie Hannover“, haben sich kürzlich mit einschlägig philosophischen Themen habilitiert (2009 und 2007), wobei Thies stärker sozialwissenschaftlich und Bohlken eher kulturwissenschaftlich ausgerichtet ist. Die Idee zu dem Handbuch resultiert aus einer Tagung „Anthropologische Grundlagen von Moral und Recht“ aus dem Jahr 2004.

Thies ist seit 2009 Professor für Philosophie an der Universität Passau.

Konzeption, Zielsetzung, Aufbau

Ein allgemein anerkanntes Konzept für Handbücher gibt es m.E. nicht. Die Herausgeber gliedern das Handbuch in fünf – im engeren Sinne: drei – Teile:

I. Einleitung“, verfasst von Bohlken und Thies, mit den Kapiteln:

  • „Was ist Anthropologie?“
  • „Grundzüge einer integrativen Anthropologie“ und
  • „Zur Konzeption des Handbuchs Anthropologie“ (S. 1 –10)

sowie die drei Hauptteile

II. Klassiker“ (S. 11 – 97 oder von Kant bis Rousseau – also vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart),

III. Ansätze“ (S. 99 – 282 oder von „Behaviorismus“ bis „Verhaltensgenetik“ – also alphabetisch) und

IV. Begriffe“ (S. 283 – 445 oder von „Aggression“ bis „Zoon politikon“) und zuletzt

V. Anhang“ mit Autorenverzeichnis (N = 75), Personenregister und Sachregister (S. 447 – 460).

Die Herausgeber intendieren mit diesem Handbuch „einen kritischen Vergleich und eine integrative Zusammenführung der verschiedenen Wissensbestände, Forschungsrichtungen und Fragestellungen“, wobei der „Schwerpunkt auf der Gegenwart liegt“ und die „Pluralität“ bzw. die „durchaus verschiedenen, ja teilweise gegenläufigen Ansätze“ der Anthropologie(n) zum Ausdruck kommen sollen, damit „neue Diskussionen entfacht“ werden (Vorwort, S. VII).

Inhaltlich-thematische Aussagen in der Einleitung

Bei einem Handbuch mit Dutzenden von Autoren bzw. mit 15 Artikeln zu „Klassikern“, 23 Beiträgen zu „Ansätzen“ sowie 41 Abhandlungen zu „Begriffen“ kann auf einzelne Ausführungen und Diskussionen nicht eingegangen werden; es empfiehlt sich m.E. daher, einen kurzen Blick auf die „Einleitung“ zu werfen, in der Aspekte und Kontroversen einer integrativen Anthropologie genannt und diskutiert sowie die relevanten Fragestellungen skizziert werden.

Grundfragestellung einer modernen Anthropologie ist nach wie vor die Frage von Kant: „Was ist der Mensch?“ bzw. was ist das „Wesen“ und die „Natur“ des Menschen, der sich seit dem 19. Jahrhundert etliche Spezialanthropologien widmen. Zu erinnern wäre hier an die berühmte und kontrovers interpretierte 6. Feuerbach-These von Marx („Das menschliche Wesen ist …“), woran sich Generationen von Philosophen abgearbeitet haben.

Die Herausgeber entpuppen sich m.E. in der Einleitung als Vertreter einer Philosophischen Anthropologie (mit großem P!) als einer interdisziplinären und „typisch deutschen“ Disziplin, deren Begründer zwischen 1920 und 1940 Scheler, Plessner und Gehlen waren. So schreiben sie auch: „Die Herausgeber sind der Auffassung, dass sich aus einer undogmatisch verstandenen Philosophischen Anthropologie in Auseinandersetzung mit den gegenwärtig bedeutsamen Humanwissenschaften ein aussichtsreiches und anregendes Forschungsprogramm entwickeln lässt“ (S. 2). Warum sie dennoch immer wieder auf eine „integrative Anthropologie“ rekurrieren, bleibt mir verschlossen. Deren Auffassung einer umfassenden (interdisziplinären und integrativen) Anthropologie impliziert ein „Projekt, das vielfältiges Wissen über den Menschen in systematischer Absicht zusammenführt“ (S. 2). Genau dies beansprucht m.E. die Philosophische Anthropologie – allerdings mit dem zusätzlichen (!) Ziel, das gesammelte Wissen der empirischen Wissenschaften vom Menschen philosophisch zu interpretieren, um einen Zugang zum „Wesen und zur Natur des Menschen“ zu erhalten.

Interessant ist m.E. der Hinweis der Herausgeber, dass die beiden bekanntesten Vertreter einer Philosophischen Anthropologie, Plessner und Gehlen, „demonstrativ von der Philosophie zur Soziologie wechselten“ (ebd.) und dass Habermas den frühen Lexikon-Artikel zu „Philosophische Anthropologie“ (1958) verfasst hat, denn zum Thema „Soziologische Anthropologie“ (vgl. dazu Lepenies 1971, Claessens 1968 und später Griese 1976) findet sich kein Stichwort und auch keine Ausführungen. Ich will damit andeuten, dass eine (post-)moderne integrative und interdisziplinäre Anthropologie mit umfassendem (historisch-gesellschaftlichem) Anspruch, wie die Herausgeber dies intendieren, in jedem Fall auch soziologische Facetten beinhalten müsste.

Bohlken und Thies nennen „fünf Kontroversen“, die für sie quasi als „Leitfaden“ zur Orientierung im Handbuch in Bezug auf die darin präsentierten anthropologischen Ansätze fungieren und die sie kurz und fragend skizzieren (S. 3ff):

„1. Ist die Anthropologie ein ausschließlich empirisches oder ein rein apriorisches Projekt? …

2. In welchem Verhältnis steht nun die integrative Anthropologie zu den Wissenschaften vom Menschen? …

3. Eine dritte Kontroverse betrifft die Frage, ob Anthropologie nach naturwissenschaftlichem oder kultur- bzw. geisteswissenschaftlichem Muster zu betreiben sei …

4. Ein vierter Gegensatz betrifft die Frage, ob eine Anthropologie rein deskriptiv verfahren muss oder ob sie auch normative Aspekte beinhalten darf …

5. Eine letzte Kontroverse betrifft die Frage, ob es anthropologische Universalien oder nur partikuläre Typen gibt“.

In einer Philosophischen Anthropologie, wie ich sie oben kurz skizziert habe, sind m.E. all diese Kontroversen integraler Bestandteil der Theoriediskussion.

Das „Fazit“ der Herausgeber lautet: „Eine integrative Anthropologie erhebt weder den Anspruch, Fundament der Humanwissenschaften zu sein, noch beansprucht sie, eine neue Superdisziplin zu sein. Es geht ihr nicht um ein abschließendes Urteil von philosophischer Warte aus, sondern um Ansatzpunkte für disziplinübergreifende Gespräche und Projekte“ (S. 6).

Zusammenfassung und Ausblick: Im Untertitel kommt das Konzept des Handbuchs und damit das „Menschenbild“ (!) der Herausgeber am besten zum Ausdruck: „Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik“ – warum diese drei Termini bzw. Gedankengebäude und nicht z.B. „Geist“, „Arbeit“, „Sprache“, „Gesellschaft“? Ihrer Meinung nach soll die „Zusammenführung der drei Themenschwerpunkte Natur, Kultur und Technik … das Gesamtbild einer umfassenden und integrativen Anthropologie ergeben“ (S. 7). Die drei Termini stellen aber m.E. eine Einengung dar und sind für eine „umfassende“ (!) Anthropologie zwar keine Sackgasse, aber eben richtungsweisend und nicht „umfassend“.

Über das gegen Ende der Einleitung kurz erwähnte „transkulturelle Verständnis von Wissenschaft“ sowie die „interkulturellen Debatten über anthropologische Grundbegriffe und Menschenbilder“ (ebd.) sowie der notwendige Blick über den abendländisch-christlichen Zaun erfährt der neugierige Leser wirklich kaum etwas, obwohl damit gerade die aktuelle Debatte berührt wird. Der Philosoph der Transkulturalität, Wolfgang Welsch, wird dabei und auch in keinem anderen Beitrag des Handbuches erwähnt. Und wer verschiedene Menschenbilder erwähnt, sollte sich auch über die „allgemeinen (historischen, kontextuellen oder universellen?) Menschenrechte“ innerhalb einer umfassenden Anthropologie Gedanken machen. Hier wurde m.E. eine Chance der Reflexion mittels Anthropologie und der Hinweis auf global-politische Implikationen vertan.

Fazit

Das Handbuch beinhaltet eine Fülle von hochinteressanten informativen und anregenden Texten von renommierten Fachvertretern, ist m.E. aber zu wenig soziologisch ausgerichtet, gerade, wenn man wie die Herausgeber anmerkt, dass die „großen“ Vertreter der Philosophischen Anthropologie (Gehlen, Plessner - Habermas) sich letztlich als Soziologen verstanden (vgl. oben).

Literatur

Claessens, Dieter (1968): Instinkt, Psyche, Geltung. Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens. Eine soziologische Anthropologie. Köln und Opladen

Griese, Hartmut M. (1976): Soziologische Anthropologie und Sozialisationstheorie. Weinheim und Basel

Lepenies, Wolf (1971): Soziologische Anthropologie. Materialien. München

Welsch, Wolfgang (1995 - exemplarisch): Transkulturalität. In: Zeitschrift für Kulturaustausch Nr. 45

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.

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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 08.07.2010 zu: Eike Bohlken, Christian Thies (Hrsg.): Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. ISBN 978-3-476-02228-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9000.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.


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