Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.01.2010

Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin Verlag (Berlin) 2009. 378 Seiten. ISBN 978-3-8270-0630-1. D: 26,00 EUR, A: 25,60 EUR.
Die Repräsentation bin Ich
Die missverständliche Metapher bedarf der Erläuterung: Als Repräsentation wird in der Erkenntnistheorie die Darstellung, Abbildung oder Vorstellung einer Gesamtheit durch ein Einzelnes verstanden, als mentale Vergegenwärtigung von etwas nicht Gegenwärtigen (vgl. dazu: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 623f, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/8464.php). Im Zusammenspiel von Philosophie, Psychologie und den Kognitionswissenschaften werden Repräsentationen als Spiegelungen und innere Vorstellungen von etwas, was der Mensch im Geist wahrnimmt, verstanden, als Teile von Erinnerungen der Wahrnehmung vom Ich und der Beschreibung der Vorgänge, die sich bei Sinnesreizen im Gehirn vollziehen. Es ist letztlich die Frage nach der Vorstellungskraft und –fähigkeit des Menschen angesichts seiner Selbstwahrnehmung. Wir sind bei der Frage der Fragen: „Wer bin ich?“, dieses uralte philosophische, immer auch kontrovers diskutierte Nachschauen, das sich etwa im aristotelischen tauton – heteron als Dasselbe und Andere darstellt, oder mit den Kantischen Fragen auf das philosophische Podest gehoben wird – „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ (vgl. dazu die populärwissenschaftliche philosophische Reise von Richard David Precht, Wer bin ich und wenn ja, wie viele? München 2007).
Autor
Thomas Metzinger, Professor für Philosophie und Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ist ein Philosoph, der sich nicht in seinem stillen Kämmerlein hehre Gedanken über sich und die Welt macht, sondern der sich im gesellschaftlichen und politischen Diskurs in vielfältiger Weise zu Wort meldet: mit Beiträgen in Zeitungen, im Rundfunk, Fernsehen und anderen öffentlichen Medien. Er gehört zu der Gruppe von Prominenten, die an die Bundesregierung („Was ich mir von Angela Merkel wünsche…“) einen Appell zum Jahreswechsel richteten: „Was sich 2010 ändern muss!“ (Spiegel online). Dort schreibt Metzinger: „Eine Regierung darf niemals dem eigenen Volk Beihilfe zur Verdrängung leisten, auch wenn das Volk sich das insgeheim wünscht. Über drei Tatsachen sollte die Bundesregierung uns im Jahr 2010 nicht anlügen. Erstens: Der Klimawandel kommt mit Sicherheit, und er wird nicht bei zwei Grad stehen bleiben. Zweitens: Die Politik hat den Machtkampf mit der internationalen Finanzindustrie verloren. Es wird deshalb weitere Krisen geben, und die Bevölkerung wird für sie bezahlen müssen. Drittens: Das traditionelle abendländische Menschenbild ist angesichts der evolutionären Psychologie und der Hirnforschung nicht mehr haltbar. Wir müssen uns rechtzeitig mit den ethischen und sozialen Konsequenzen auseinandersetzen“. Insbesondere die dritte Prämisse nimmt Metzinger zum Anlass, sein erstes populärwissenschaftliches Buch, das er nicht (nur) für die Experten und Wissenschaftler schreibt, nicht für Philosophieprofessoren oder Hirnforscher, sondern für eine breitere Öffentlichkeit, also auch für dich und mich, vorzulegen.
Inhalt
Das Phänomen, das unser Bewusstsein, also all das, was wir mit unseren Sinnesorganen sehen und hören, ertasten und erfühlen, riechen, schmecken…, ist nur ein Bruchteil dessen, was wirklich in unserer Umwelt passiert und existiert. Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel“. Das Schlagwort für seinen Buchtitel ist erfunden: Ego-Tunnel“. Und das Ego, von dem wir meinen, es sei unser „Selbst“, ist nichts anderes als „ein transparentes mentales Bild“, das uns ein Bild von der Wirklichkeit spiegelt. Denn in Wirklichkeit existiert so etwas wie „das“ Selbst gar nicht. Das ist die über die Maßen aufregende, beunruhigende und neue Betrachtung unserer „Gewissheiten“, wenn auch mit der tröstlichen Ankündigung, dass der Ego-Tunnel kein Gefängnis sei und wir den Ausgang nicht finden würden. Er gliedert seine Einführung in neue Denkweisen und Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung in drei Teile. Im ersten Kapitel diskutiert er das „Bewusstseinsproblem“; im zweiten stellt er neue Ideen und Entdeckungen vor; und im dritten Teil präsentiert er die „Bewusstseinsrevolution“. Er setzt an mit der Feststellung, dass Bewusstsein das Erscheinen einer Welt ist, und zwar sowohl als Teil der Welt, als auch ihr Bestand(teil). Es vermag den Menschen in einer besonderen Weise und mit unterschiedlichen Erscheinungsformen die Welt, also seine Wirklichkeit präsentieren und gewissermaßen situieren. Wenn wir davon ausgehen, dass diese wahr genommene Wirklichkeit nur eine simulierte „in unserem Gehirn ist und dass das Gefühl des Daseins selbst ein Teil dieser Simulation ist“, dann benötigen wir, um eine (neue) Theorie des Bewusstseins zu entwickeln, eine Reflexion in sechs Schritten dazu: Die Frage nach der Einheit des Bewusstseins – das Eine-Welt-Problem; die Betrachtung des Rätsels, wie das Erscheinen eines gelebten Moments bewusst werden kann – das Jetzt-Problem; die Frage, warum wir als naive Realisten geboren wurden – das Wirklichkeitsproblem; die Frage danach, worüber wir niemals sprechen können – das Problem der Unaussprechlichkeit; die Frage, wozu Bewusstsein notwendig war – das Evolutions-Problem; die Frage nach der Entität, die bewusste Erlebnisse in Wirklichkeit hat – das Wer-Problem. Diese sechs Problembereiche schlüsselt Metzinger nun auf, indem er das, was philosophisch, terminologisch und empirisch auf dem „Markt des Bewusstseins“ bisher gehandelt und in Theorien verpackt wird. In dem, dem Kapitel zwei angehängten Interview mit dem Hirnforscher Wolf Singer werden die vorher diskutierten Aspekte, Fragestellungen und Antwortversuche verdichtet durch die Feststellung, dass es, zur Klärung der vielfältigen Geist-Körper-Probleme einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den Neuro- und den Geisteswissenschaften bedürfe.
Im zweiten Teil setzt sich Metzinger mit neurowissenschaftlichen Untersuchungen und phänomenologischen Erkundungen des Körpers und des Geistes auseinander. Das mittlerweile vielzitierte Phänomen der „Gummihand-Illusion“ und andere außerkörperliche Erfahrungen dienen Forschern dazu, die Frage nach der „Seele“ mittlerweile nicht mehr metaphysisch zu betrachten, sondern, wie der Autor mit der „Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“ damit zu beantworten, dass sie reine Information ist, die im Gehirn fließt. Mit der Aufforderung „Hinaus aus dem Körper und hinein in den Geist“ haben sich Neuro- und Geisteswissenschaftler auf den Weg gemacht, um zu ergründen, was in uns, unserem Selbst(bewusstsein) abläuft, wenn wir ein bewusst erlebtes Ichgefühl verspüren: „Das minimale Selbstbewusstsein ist nicht die Kontrolle selbst, sondern das, was die Kontrolle möglich macht. Es besteht aus einem Bild des Körpers in Zeit und Raum (Lokalisierung) und der zusätzlichen Tatsache, dass der Organismus, der dieses Bild in sich erzeugt, es nicht als ein Bild erkennt (Identifikation)“. Damit sind wir dann schon bei der irritierenden und im populären Wissensdiskurs vielfach allzu vereinfacht und missverständlich formulierten Frage: „Wie frei sind wir?“ – in unserem Denken und Handeln, oder wie determinieren die ins Gehirn gepflanzte Anlagen unsere Existenz? Da können wir auf die Metzingersche Selbstmodell-Theorie zurück kommen. Sie besagt u. a., dass integrative und auf vielen Ebenen gleichzeitig operierende Analysen notwendig sind, z. B. auch „eine gemeinsame wissenschaftliche Sprache, die in der Struktur und Funktionsweise des Gehirns verankert ist“. Die (soziale) Neurowissenschaft verweist mit der Entdeckung der Spiegelneuronen auf Wege hin, die eine Erforschung von neurophysiologischen Grundlagen, wie sie etwa von Allan Hobson von der Harward Medical School, sowie vom kognitiven Neurowissenschaftler Vittorio Gallese an der Universität Parma durchgeführt werden, zusammen mit Geisteswissenschaftlern zu befördern.
Im dritten Teil geht es dann wirklich zur Sache: „Lassen Sie uns ab jetzt jedes System, das in der Lage ist, ein bewusstes Selbst zu erzeugen, als ’Ego-Maschine’ bezeichnen. Die Voraussetzung ist, dass es ein „bewusstes Selbstmodell“ besitzt. Dabei erteilt Metzinger den Phantasien und Begehrlichkeiten, dass die Erfindung und Konstruktion von “Glückseligkeitsmaschinen“ oder „Erlebnismaschinen“ das Glück auf Erden bedeuten würde, eine Absage. Warum aber „Maschine“? Die Metapher will deutlich machen, dass wir „natürliche Informationsverarbeitungssysteme (sind), die im Verlauf der biologischen Evolution auf diesem Planeten entstanden sind“, wobei das Ego ein virtuelles Werkzeug dazu darstellt. Die Fragestellung der modernen Philosophie des Geistes lautet deshalb sowohl: „Was ist der Mensch?“, als auch: „Wie sollte der Mensch in der Zukunft sein?“. Das Bild des Homo sapiens beginnt sich dabei zu verändern, von dem „Seelen“ – Wesen hin zum „Selbstmodell“. Metzinger spricht in diesem Zusammenhang von der „naturalistischen Wende im Menschenbild“; wohlgemerkt, nicht von der „deterministischen Wende“. Das Wissen über die neuronalen Netze und Konfigurationen in unserem Gehirn, die die vielfältigen Formen des individuellen und gemeinschaftlichen Erlebens erzeugen, ermöglichen und verhindern, (ver)führt den Menschen einerseits zu einem unangemessenen und illusorischen Machbarkeitsstreben, andererseits aber auch zu apathischem und fatalistischem Denken. Die Entwicklung von Medikamenten und Drogen, die unsere Bewusstseinszustände beeinflussen, sowohl um krankhafte Störungen zu heilen, als auch in andere Hirnzustände zu gelangen, verweist darauf, dass es notwendig ist, neue ethische Vorstellungen und Normen zu entwickeln: „Neuroethik“ ist gefragt, und „Bewusstseinsethik“, die danach fragt, was ein guter Bewusstseinszustand ist. Der Autor formuliert dazu drei Bedingungen: Ein guter Bewusstseinszustand sollte Leid bei Menschen und den Lebewesen auf der Erde minimieren; er sollte eine verstandesgemäße Einsicht beinhalten und Wissensbereitschaft ermöglichen; und er sollte drittens Verhaltenskonsequenzen haben, die weitere, wertvolle Bewusstseinszustände schafft.
Fazit
„Philosophen sind keine heiligen Männer oder Priester, die eine unmittelbare Einsicht in das beanspruchen können, was im moralischen Sinne gut ist“. Sie können aber, für den Laien und Nichtfachmann(frau), Vermittler sein auf dem riesigen, sich ausweitendem Wissensfeld der Neurowissenschaften. Dies gilt in besonderer Weise für ethische Fragestellungen, bis hin zu der freiheitlichen und demokratischen Anforderung: „Welche Hirnzustände sollten legal sein?“. Der Diskurs mündet in die positive, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte (lokale und globale) Menschheitsaufgabe: Eine echte Bewusstseinskultur dadurch zu entwickeln, dass uns die neuronalen Bewusstseinszustände bewusst werden und wir das Wissen darüber im gesellschaftlichen Bewusstsein implementieren und sie mit intellektueller Redlichkeit und Spiritualität leben. Metzingers Ego-Tunnel ist weder ein Märchenbuch, noch eine Hexenfibel; es ist der gelungene Versuch, neuere neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse und geisteswissenschaftliche Reflexionen zusammen zu bringen, in dem Bewusstsein, dass ein neues Bild vom bewussten menschlichen Geist notwendig ist, um uns selbst zu erkennen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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