Christian Stenner (Hrsg.): Kritik des Kapitalismus
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.04.2010
Christian Stenner (Hrsg.): Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise. Promedia Verlagsgesellschaft (Wien) 2010. 240 Seiten. ISBN 978-3-85371-306-8. 15,90 EUR. CH: 29,00 sFr.
Die Unternehmensgewinne von heute sind die Spekulationseinsätze von morgen
Ob es einen „guten Kapitalismus“ geben kann und unter welchen Bedingungen (vgl. dazu: Sebastian Dullien, u.a., Der gute Kapitalismus… und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, 2009, siehe Rezension), oder ob diese ja gemessen an der Existenz der Menschheit junge Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die sich zum „Raubtierkapitalismus“ entwickelt hat (vgl. dazu u.a.: Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“ ? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, 2004, Rezension), nicht den Abgrund menschlicher Gier und Egoismus darstellt und längst auf den Misthaufen des humanen Versagens gekippt werden sollte – darüber gibt es politische, ideologische Auseinandersetzungen genug. Spätestens seit der Weltwirtschafts- und Weltkapitalkrise dämmert es sogar Verfechtern der kapitalistischen Wachstumsideologie (wie etwa dem bisherigen konservativen Anhänger eines „Immer-weiter-immer-schneller-immer-mehr“ – Denkens, Beraters der Deutschen Bank und von CDU-Politikern, Meinhard Miegel; siehe sein Buch: Exit. Wohlstand ohne Wachstum, 2010), dass es im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handeln nicht so weitergehen könne wie bisher. Der Appell der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995, gilt im um so dringlicherem Maße, als die Krise nicht nur das globale Wirtschaftssystem erschüttert und die Unmenschlichkeit des kapitalistischen drastisch offengelegt hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Die scheinbar unerschütterliche und gewissermaßen als „menschlich normal“ stilisierte Auffassung vom Kapitalismus beginnt zu bröckeln. Es gibt immer mehr Menschen, lokal und global, national und international, die dafür plädieren, den scheinbar „heiligen und naturwüchsigen Kapitalismus Ketten anzulegen.
Autoren und Entstehungshintergrund
Der Grazer Journalist und Sachbuchautor Christian Stenner, Herausgeber des steirischen Monatsmagazins „KORSO“, hat zwischen April 2008 und Januar 2010 mit zahlreichen österreichischen und internationalen Experten über die Ursachen und Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise gesprochen. Einige der Interviews sind i der Zeitschrift erschienen. Die Krise zeigt, so Stenner, die Probleme des Kapitalismus wie ein Nacktscanner - durchdringend. Er macht das an mehreren Fällen in der österreichischen Kapitalhierarchie fest, gewissermaßen exemplarisch und übertragend auf die westeuropäischen und US-amerikanischen Verhältnisse, wonach maximal 10 Prozent der jeweiligen Bevölkerung über rund zwei Drittel (und mehr) des Gesamtvolksvermögens verfügen. Die mittlerweile gängige und kaum mehr in Frage gestellte, höchstens entschuldigend oder als „menschgegeben“ formulierte, lokale und globale Analyse, dass „die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden“, wird von den Experten aus den verschiedenen Richtungen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Denkens belegt mit theoretischen und praktischen Darstellungen. Ihre Forderungen münden in die Aufforderung, der neoliberale Deregulierung abzulösen durch eine Re-Regulierung und einer damit verbundenen gerechten Umverteilung der volkswirtschaftlichen Güter.
Aufbau und Inhalt
Der Verfechter einer materialistischen Staatstheorie und em. Politikwissenschaftler der Universität Frankfurt/M., Vorstandsmitglied von „Medico International“, Joachim Hirsch, weist darauf hin, dass die neoliberale Strategie der so genannten „freien“ Marktwirtschaft als ein Angriff auf die Demokratie verstanden werden muss. Sein Plädoyer: Selbstorganisation, was bedeutet, „die eigenen Interessen selbst wahrnehmen, nicht mehr mitmachen und von da aus eine politische Orientierung in Gang setzen, die sich nicht mehr nur auf die Institutionen stützt“.
Der Hamburger Lokalpolitiker der „Linken“ und Mitherausgeber der Zeitschrift „Sozialismus“, Joachim Bischoff, plädiert für eine staatliche Regulierung des internationalen Bankensystems. Er sieht in den kommunal und regional organisierten Sparkassen und Volksbanken die Chance, der Kapitalakkumulation entgegen zu wirken. „Das Entscheidende ist, ob die BürgerInnen sich als Mitglied eines Gemeinwesens begreifen und eine gemeinsame Lösung finden, oder ob sie die Flucht ergreifen, die Ellbogen ausfahren und nur mehr für sich und ihre eigene Sippschaft sorgen wollen“.
Der Ökonom und Politikwissenschaftler an der School of Humanities and Social Sciences der University of East London, Massimo de Angelis, ist der Auffassung, dass die „Führungsstrukturen des globalen Kapitalismus ( ) neu geordnet (werden)“; zwar nicht, zumindest in den westlichen Industrie- und Kapitalismusländern, im Sinne des Keynesianismus, sondern in einer neuen Form des Hegemonismus im Verhältnis der Ersten zur Dritten Welt.
Der Kölner Ökonom und Mitbegründer der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“, Jörg Huffschmid, dessen Tod am 5. 12. 2009 der Herausgeber besonders gedenkt, macht in dem Interview vom 18. Januar 2009 darauf aufmerksam, dass „der finanzmarktgetriebene Kapitalismus ( ) auf 30 Jahren Umverteilung von unten nach oben (beruht)“. Beinahe hellseherisch weist er darauf hin, dass in der EU eine dramatische, volkswirtschaftliche Auseinanderentwicklung vonstatten geht, die dazu führen kann, dass der Euro immer instabiler wird, was zu einem Auseinanderbrechen der Euro-Zone führen kann.
Der emeritierte Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin und Mitbegründer der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Elmar Altvater mahnt, es ist „höchste Zeit für Wirtschaftsdemokratie“ (vgl. dazu auch: Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, 2005, Rezension). Die Entwicklung von alternativen Modellen zum globalen Kapitalismus ist notwendig, um ein humanes Überleben der Menschheit zu gewährleisten. Das sind sowohl Genossenschaftsformen, wie etwa die Solidarökonomie in Lateinamerika, oder kollektiv-solidarische Initiativen in Indien, als auch grundsätzliche Forderungen nach Partizipation: „Die Energiekrise wird uns ohnehin dazu zwingen, Alternativen zu entwickeln, denn wenn wir nicht mehr so viel Öl verbrauchen können, dann können wir auch nicht mehr im gleichen Maßstab wie bisher in Großbetrieben produzieren“.
Der aus Indien stammende, in London lebende Historiker Tariq Ali sieht die Chancen einer Veränderung des neoliberalen Weltwirtschafts- und –finanzsystems hin pessimistisch. Solange es nicht gelingt, eine Bewegung von unten zu etablieren, werden die Mächtigen des Kapitalismus alles tun, um „das System zu retten, es mit Infusionen am Leben zu erhalten“.
Die Ökonomin beim Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung Margit Schratzenstaller, macht darauf aufmerksam, dass „vermögensbezogene Steuern ( ) Wachstum und Beschäftigung am wenigsten (schädigen)“; soweit ein Hinweis zu der Diskussion um Erbschafts- und Vermögenssteuern und Mindestlöhnen in Deutschland. Sie ist der Auffassung, dass solche Steuern, wie auch Umweltsteuern dazu beitragen können, arbeitsbezogene Steuern zu senken. Ebenso mahnt sie die Einführung von Finanztransaktionssteuern im europäischen Konsens an.
Gabriele Michalitsch, Ökonomin und Politologin an der Wirtschaftsuniversität Wien, stellt fest, dass die „tieferen Ursachen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ( ) Privatisierungspolitik und Vermögenskonzentration (sind)“. Sie weist darauf hin, dass die Gegner einer Vermögensbesteuerung mit vier untauglichen und falschen Strategien argumentieren: Die Vermischung von vermögensbezogenen Steuern, Vermögenssteuern, Einkommen und Spekulationssteuern; zum anderen, die Herstellung einer (falschen) Interessensidentität zwischen vermögensbezogenen Steuern und kleinen Einkommen; zum dritten, die mediale Begriffsverwirrung um Reiche, „sogenannte“ Reiche und „angebliche“ Reiche; und schließlich die Ausblendung der Tatsache, dass zwischen Reichtum und Armut ein Systemzusammenhang bestehe.
Der Lehrbeauftragte an der Donau-Universität Krems und Mathematiker, Erhard Glötzl, kritisiert die von den Staaten in der Finanzkrise veranlassten Rettungspakete für Banken. „Der erste Schritt hätte ein geordnetes Konkursverfahren sein müssen“. Solange die Erkenntnis nicht wächst, dass der Kapitalismus Regeln und Umverteilung benötigt, wird die nächste Krise unausweichlich kommen.
Der Ökonom, Jurist und Doyen der österreichischen Wirtschaftswissenschaften, Kurt W. Rothschild, stellt fest, dass im Krisenszenario die größten Chancen zu ihrer Bewältigung bereits versäumt wurden. Ob es eines neuen nachkeynesianischen Denkens und neuer ökonomischer Theorien bedarf, ließe sich theoretisch nicht eindeutig beantworten. Was jedoch unbedingt notwendig sei, sind Regelungen, die die beiden Gefahren wirtschaftlichen Handelns verhinderten, nämlich Deflation und Inflation.
Der em. Politikwissenschaftler der FU Berlin, Wolf-Dieter Narr, sieht in der Bewältigung und Verhinderung von Menschheitskrisen nur eine Möglichkeit: Die Verwirklichung der Menschenrechte, und zwar radikal demokratisch und radikal materialistisch, und damit radikal pazifistisch. Auch wenn die Erkenntnis bei den Menschen wächst, dass wir in einem falschen Leben leben, muss die utopische Hoffnung und Erwartung gestärkt werden, dass Wege aus dem Dilemma möglich sind.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete (PDS), Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Beirat von „Attac Deutschland“ und Chefredakteur der Zeitschrift „Lunapark 21“, Winfried Wolf, ist der Meinung, dass die Krise des finanzmarktgetriebenen, neoliberalen Turbo-Kapitalismus verbunden ist mit den kapitalistischen Produktionsweisen. Seine Forderungen: Erstens: Die komplette Überführung des Finanzsektors in öffentliches Eigentum. Zweitens: Allgemeine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Gehaltsausgleich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Förderung einer kaufkräftigen Massennachfrage. Drittens: Radikale Rückverteilung von oben nach unten. Und viertens: Ein umfassendes, alternatives Konjunkturprogramm mit Förderung der drei K – Kinder, Kultur, Klima.
Der Wiener Ökonom und Jurist Stephan Schulmeister erinnert an die altbekannte Erkenntnis, das Geld nicht arbeitet und keine Werte schafft. Es sind die verführerischen Spekulationsanreize, die die Gier der Menschen nach Gewinnversprechungen anheize und sie in den Einstieg in die Derivatemärkte treibe. Nur eine supranationale Kontrolle und die Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer werden die Alternative möglich machen, nämlich anstelle der Bildung von Finanz-, Realkapital zu schaffen, das tatsächlich der Mehrheit der Menschen zugute kommt und nicht Kapitaleliten.
Der aus Kassel stammende, am Institut für Außenwirtschaft und Entwicklung der Wirtschaftsuniversität Wien tätige Ökonom und Politikwissenschaftler Joachim Becker ist Mitglied von BEIGEWUM, eines Zusammenschlusses von kritischen ÖkonomInnen und SozialwissenschaflerInnen. Er macht darauf aufmerksam, dass sich die Folgen der Krisen in den „Hinterhöfen“ der USA und Westeuropas am deutlichsten zeigen. Er ist jedoch nicht optimistisch genug zu hoffen, dass die Auswege, die in einer größeren verteilungspolitischen Steuerbarkeit zu finden wären, sich in den realpolitischen Situationen durchsetzen lassen, weder lokal noch global.
Der Wiener Publizist und Mitbegründer von „Attac Österreich“, Christian Felber, beschließt die Interview-Reihe mit seinem Aufruf: „Kooperation statt Konkurrenz“. Dabei bringt er den hoffnungsvollen Gedanken in den Diskurs: „Wenn 500.000 Menschen in einem Konzern kooperieren können, warum dann nicht auch 5 Milliarden?“. Es ist das zwar noch kleine, aber in vielen Teilen der Erde existenzwirksame Netz von „Unternehmen, die die Gleichberechtigung bereits leben“, das langsam wächst und damit Hoffnung macht, dass „die Menschen in Notsituationen nicht in Panik geraten oder sich gegenseitig kannibalisieren, sondern zusammenhalten“.
Fazit
Die verschiedenen Richtungen, die eine kritische Internationale Politische Ökonomie vertreten (vgl. dazu auch: Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hg., Globalisierung, Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster 2009, Rezension) finden sich an der Stelle zu einer Kampfgemeinschaft zusammen, wo ökonomisches Denken und Handeln unmenschlich wird. Es ist also die humane Solidarität, die in den Zeiten der Menschheitskrisen, von wirtschaftlichen bis hin zu Umweltkrisen, in besonderem Maße gefordert ist. Der Kapitalismus, das zeigt sich in den vielfachen Facetten und Auswirkungen, ist dazu nicht in der Lage. Die vielstimmigen Äußerungen von marxistischen Wirtschaftstheoretikern, über keynesianisch beeinflusste Ökonomen bis zu den Anhängern der sozialen Marktwirtschaft, die sich in dem Interview-Band zusammen finden, haben einen Tenor: Es ist das „Trotzdem“ und die Hoffnung, dass eine Veränderung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Denkens und Tuns lokal und global hin zu einer menschlichen, gerechten Ökonomie möglich wird.
Es ist hilfreich, dass den Interview-Texten jeweils eine kurzgefasste Tätigkeits- und Kompetenzbeschreibung vorangestellt und in den biographischen Angaben auch Publikationslisten aufgeführt werden. Ich könnte mir vorstellen, den Band mit den meist prägnant und kurz gefassten Statements zu den verschiedenen Sachfragen zur Kritik am Kapitalismus in den schulischen Oberstufenkursen, wie auch in Hochschulseminaren und Diskussionsrunden in der Erwachsenenbildung einzusetzen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.04.2010 zu:
Christian Stenner (Hrsg.): Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise. Promedia Verlagsgesellschaft
(Wien) 2010.
ISBN 978-3-85371-306-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9013.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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