Harald Gapski (Hrsg.): Jenseits der digitalen Spaltung
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 07.05.2010
Harald Gapski (Hrsg.): Jenseits der digitalen Spaltung. Gründe und Motive zur Nichtnutzung von Computer und Internet.
kopaed verlagsgmbh
(München) 2009.
160 Seiten.
ISBN 978-3-86736-209-2.
14,80 EUR.
Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen - 9.
Thema
Dass das Internet als wichtigstes Medium und zugleich als Motor der heutigen Informationsgesellschaft fungiert, gilt mittlerweile als ausgemachte Tatsache. Entsprechend bemühen sich beispielsweise in Deutschland verschiedene Initiativen, möglichst vielen Bevölkerungsgruppen Teilhabe am Internet zu ermöglichen.
Besorgniserregend erscheint in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass in Deutschland trotz stetig wachsender Nutzerzahlen noch rund ein Drittel der Bevölkerung zu den so genannten „Offlinern“ gehört [1]. Die Bruchlinie der modernen Gesellschaft entlang der so genannten „Off-“ und „Onliner“ wird „digitale Spaltung“, „digitale Kluft“ oder „digital divide“ bezeichnet. Obgleich die Existenz des digitalen Grabens häufig konstatiert wird, erfahren die verschiedenen Umstände seltener Beachtung, die zurzeit bei rund 20 Millionen Bundesbürger/innen dazu führen, das Internet nicht zu nutzen. Dabei sind es mit Sicherheit nicht nur ökonomische Zwänge, die hier ausschlaggebend wirken. Wie eine Studie der Universität Zürich jüngst belegte [2], hängt beispielsweise die Nichtnutzung populärer Onlinenetzwerke mit dem jeweiligen Persönlichkeitstyp zusammen. Könnte andersherum eine bewusste Entscheidung gegen die Internetnutzung nicht auch Ausdruck einer medienkompetenten Haltung sein?
Diese komplexen Hintergründe der digitalen Kluft, die sich hier bereits andeuten, möchte der vorliegende Aufsatzband erhellen. Indem er die Gruppe der Nichtnutzer, ihre demografischen Strukturen und Motive genauer in den Blick nimmt, will der vorliegende Sammelband einen Blick auf die Seite „jenseits der digitalen Spaltung“ bieten.
Herausgeber
Als Projektleiter beim Europäisches Zentrum für Medienkompetenz (ecmc) im nordrheinwestfälischen Marl ist der Herausgeber, Harald Gapski, mit der Analyse und Bewertung aktueller Entwicklungen im Bereich neuer Medien betraut. Der Prokurist und studierte Kommunikationswissenschaftler ist (Mit-) Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Medienkompetenz.
Die übrigen Autoren und die Autorin der Beiträge arbeiten an der Universität sowie an staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen, die sich mit dem Thema Neue Medien und Kommunikation befassen.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband ist in der „Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen“ erschienen, in der die Ergebnisse regelmäßig stattfindender, durch das ecmc im Auftrag des Landes NRW organisierter Experten-Workshops publiziert werden.
Inhalt
Nach einem obligatorischen Vorwort des auftraggebenden Ministers bringt der Herausgeber, Harald Gapski, unter dem Titel “Jenseits der digitalen Spaltung“ eine Einführung in die Thematik und einen Überblick über die kommenden Beiträge.
Als Fachmann für sozial- und wirtschaftsstatistische Analysen beschäftigt sich Hans-Ullrich Mühlenfeld mit der “Existenz einer Digitalen Kluft in Nordrhein-Westfalen“. Als regionalen Ausschnitt einer europaweiten Umfrage stellt er für dieses Bundesland den statistischen Zusammenhang von Haushaltseinkommen und Internetanschluss, Bildungsniveau, Geschlechtszugehörigkeit und Nutzungsumfang auf dem Niveau von 2007 sowie die Entwicklungstendenzen in Zeitreihen dar. Mühlenfeld gelangt zu dem Ergebnis, dass im Bundesland Nordrhein-Westfalen durchaus von einer digitalen Kluft auszugehen sei, die sich insgesamt jedoch nicht vergrößere.
Die Soziologin und Medienwissenschaftlerin Nicole Zillien befasst sich in ihrem Beitrag mit den “Ursachen der Internet-Nichtnutzung“. Dazu systematisiert die Autorin zunächst bestehende Erklärungsmodelle und Ursachenschwerpunkte aus der internationalen Forschungsliteratur und arbeitet vier übergreifende Merkmale – wie etwa fehlende Kompetenzen oder materielle Barrieren – heraus. Anschließend berichtet Zillien in einem empirischen Teil, wie sich statistisch aus einer aktuellen „Offliner„-Studie fünf Faktoren identifizieren lassen, die sich mit der erarbeiteten Systematik weitestgehend decken. Damit geht die Autorin weit über die simplifizierende Annahme rein ökonomischer Ursachen der digitalen Spaltung hinaus.
“Nicht-Nutzung des Internets – nur ein Übergangsphänomen?“ fragt Ulrich Riehm aus der Sicht des Experten für Technikfolgen-Abschätzung. Die Analyse der Ausbreitungsgeschwindigkeit von PC und Internetanschluss im Vergleich zu Telefon, Fernseher oder Auto relativiere Riehm zufolge den Mythos der schnellen Verbreitung der Internettechnologie. Der Autor beurteilt die digitale Spaltung nicht als Übergangsphase, sondern als längerfristig anhaltendes Phänomen und umreißt abschließend weitere Forschungsdesiderata. Darüber hinaus bietet Riehm eine weitere Typologie der Nichtnutzer, die eine interessante Ergänzung des vorhergehenden Aufsatzes darstellt.
Dass trotz weitgehend gleicher Befundlage unterschiedliche administrative Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können, erörtert der Kommunikationswissenschaftler Gernot Gehrke in seinem Beitrag: “Digitale Teilung – Paradigmen und Herausforderungen“. Dazu stellt er drei Denkmodelle zur Digitalen Spaltung (unter der Perspektive der marktwirtschaftlichen Selbstregulation, der sozialen Ungleichheit und der Wettbewerbsorientierung) dar und erläutert anhand einschlägiger Daten, dass die Entwicklung der digitalen Spaltung stets bezogen auf die soziodemografischen Gruppen betrachtet werden müsse.
Die Auffassung, dass “Praktiken der Nichtnutzung als Medienkompetenz“ zu betrachten sind, vertritt der Kommunikations- und Medienwissenschaftler Daniel Knapp in seinem Beitrag: Insbesondere die andauernde Diskussion um Datenschutz und Datenmissbrauch im Internet verleihe der digitalen Spaltung eine weitere Konnotation: Diese Spaltung manifestiere sich dann ebenso in der Fähigkeit, „negative Auswirkungen des Internets als Überwachungskontext zu minimieren“ (S. 96). Der Autor untermauert anhand einer Studie, dass die selektive Nichtnutzung vor diesem Hintergrund durchaus als Ausdruck individueller Medienkompetenz aufgefasst werden kann und von den Nutzer/innen als bewusste Entscheidung im Spannungsfeld zwischen Risikominimierung und Teilhabe getroffen wird.
Als Medienpädagoge mit theologischem Background befasst sich Matthias Wörther mit der “Docta ignorantia: Wissen, was man wissen kann“, die ihm als Kernkompetenz des Informationszeitalters erscheint. Dabei geht es dem Autor darum, die inhärenten Grenzen der Informationsgesellschaft aufzuzeigen, die trotz des technischen Fortschritts bestehen bleiben werden. Nachdem er ihre zentralen „Mythen„- etwa die Annahme, dass die vollständige Information über einen Sachverhalt zu quasi objektiv-eindeutigen Entscheidungen führe – entzaubert hat, skizziert Wörther einen zukunftsfähigen Standpunkt zwischen Informationsaskese und Fortschrittsglauben.
Diskussion
Der Titel des Sammelbandes kann durchaus doppeldeutig aufgefasst werden:
Zum einen wird ein Blick über den „digitalen Rand“ unserer Gesellschaft geworfen, auf die Seite, die sich angesichts eines scheinbar linearen Technisierungsverlaufes als überraschend „resistent“ erweist. Die Beiträge von Mühlenfeld, Zillien und Riehm beispielsweise bringen interessante Analysen der oberflächlich homogen erscheinenden Gruppe der „Offliner“. Besonders hervorzuheben ist, dass die Beiträge auf aktuelle demografische Studien zurückgreifen und somit das Phänomen digitale Spaltung auch in Zahlen sichtbar wird.
Zum anderen stellt die vorliegende Veröffentlichung das Konstrukt der Digitalen Spaltung selbst auf den Prüfstand: Ungleichheiten in der Nutzung und im Zugang zum Internet scheinen sich nicht allein durch intensivierte Technologisierung lösen zu lassen, sondern werden die Informationsgesellschaft auf absehbare Zeit prägen. In der Tat scheint sich die Einschätzung von Gehrke zu bestätigen, dass die wirklichen Herausforderungen der Bewältigung des Problems noch vor uns liegen. Denn keineswegs verläuft die digitale Bruchlinie nur zwischen „arm“ und „reich“, sondern hat unterschiedliche demografische Facetten, die mit einer zunehmenden Differenzierung unserer Gesellschaft komplexer werden. Diese vielen digitalen Klüfte erfordern differenzierte Perspektiven, wie die Beiträge von Knapp, Gehrke und Wörther zeigen: Einerseits spiegelt oder verstärkt diese digitale Spaltung auch die realgesellschaftliche Ungleichverteilung von Chancen und Teilhabemöglichkeiten – bezogen auf Bildungsgrad, Einkommen, Geschlecht und Alter – auf der virtuellen Ebene. Andererseits scheint die zunehmende Vernetzung auch diejenigen herauszufordern, die bewusst auf die Nutzung des Internets verzichten. Folglich ist es nur richtig, mit Knapp den „digitalen Verzicht“ weniger als Defizit, denn als kompetente Nutzungsstrategie aufzufassen. Zwar weiter entfernt von der empirischen Datenlage ist die von Wörther aufgeworfene Frage, wie weit die Spirale von Digitalisierung und Wissensgesellschaft eigentlich getrieben werden kann. Diese Fragestellung, mit der sich die Informationsgesellschaft praktisch selbst transzendiert, ist dann vielleicht auch gut in den Händen eines Theologen aufgehoben, der zu ihrer Beantwortung einen weiten Bogen über die spätmittelalterliche Philosophie bis hin in die Gegenwart spannt, den er mit archäologischen, literarischen und theologischen Versatzstücken illustriert. Fällt etwas aus der Reihe, ist aber anregend zu lesen und durchaus ein angemessener Abschluss der vorhergehenden Beiträge, die das Thema in einer bemerkenswerten Breite abdecken.
Insgesamt liefert der vorliegende Sammelband eine ausgewogene und anregende Verbindung von empirischen Daten, Theorien und Konzepten, die sich dank des allgemeinverständlichen Stils der Beiträge auch angenehm lesen lässt. In ihrer komprimierten Darstellung eignet sich die Veröffentlichung besonders für diejenigen, die sich einen Überblick über den aktuellen Wissensstand und die offenen Forschungsfragen zur digitalen Spaltung in Deutschland verschaffen möchten.
Fazit
„Jenseits der digitalen Spaltung“ bietet eine interessante Querschnittsanalyse eines zentralen Problems der Informationsgesellschaft. Mit dem Fokus auf der Gruppe der „Offliner“ wird das Thema anhand demografischer Daten fachlich anspruchsvoll und differenziert unter verschiedenen theoretischen Blickwinkeln aufgearbeitet.
[1] So die Ergebnisse der ARD/ZDF Online Studie 2009, online im Internet. URL: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/fileadmin/Online09/Gerhards_7_09.pdf [Stand 28.4.2010]
[2] http://www.uzh.ch/news/articles/2009/facebook-allein-macht-nicht-gluecklich.html [Stand: 28.4.2010]
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 07.05.2010 zu:
Harald Gapski (Hrsg.): Jenseits der digitalen Spaltung. Gründe und Motive zur Nichtnutzung von Computer und Internet. kopaed verlagsgmbh
(München) 2009.
ISBN 978-3-86736-209-2.
Schriftenreihe Medienkompetenz des Landes Nordrhein-Westfalen - 9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9022.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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