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Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.03.2010

Cover Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation ISBN 978-3-593-38512-9

Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Campus Verlag (Frankfurt) 2010. 468 Seiten. ISBN 978-3-593-38512-9. D: 26,90 EUR, A: 27,70 EUR, CH: 45,90 sFr.
Aus dem Englischen übersetzt von Xenia Osthelder.

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Vom Homo oeconomicus zum Homo empathicus

Zivilisationsgeschichten sind Erzählungen, Berichte, Analysen und Betrachtungen über die Entwicklung der menschlichen Zivilisation. Sie beruhen auf je spezifischen Weltbildern und philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen „wie wir geworden sind, was wir sind“, und zwar meist bezogen auf die jeweilige eigene kulturelle Identität und Herkunft. Betrachten wir die Zivilisations-(Welt)Geschichte, so können wir erkennen, wie dies Norbert Elias in seiner „Theorie der Zivilisation“ ausgedrückt hat, dass „der Prozess der Zivilisation eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung ist“ (Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976). Dabei werden in den Zivilisationsgeschichten überwiegend die kulturellen und technologischen Leistungen und Veränderungen hervorgehoben, während die ursprünglich auf dem eu zên, der Fähigkeit zum guten Leben beruhenden Menschform, wie dies der griechische Philosoph Aristoteles postuliert hat, verloren gegangen ist oder in der Euphorie des „Wirtschaftsmenschen“ einfach vergessen wurde. Immerhin wird der Begriff „Zivilisation“ in der Wirklichkeit einer immer interdependenter und sich entgrenzender entwickelnden Welt, der Globalisierung, heute verstanden, den menschlichen und kulturellen Werten einen zentralen Platz im Rahmen der technischen und ökonomischen Entwicklung einzuräumen, wie dies in der von den Vereinten Nationen ausgerufenen Weltdekade für kulturelle Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren gefordert wurde.

Autor

Der US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Schriftsteller Jeremy Rifkin weiß, wie man die zivilisatorischen Entwicklungen, die positiven und negativen Vorgänge zur Lage der Welt wissenschaftlich fundiert mit allgemeinverständlichen Worten an die Menschen bringt. Das zeigt sich nicht nur darin, dass seine Bücher zu Bestsellern und in vielen Sprachen verlegt werden, sondern auch, dass er mehrfach dafür ausgezeichnet wurde. Mit dem 2000 erschienenem Buch „Access. Das Verschwinden des Eigentums“ (Campus Verlag) setzt er sich damit auseinander, dass uns in der globalisierten Welt die Gewissheiten abhanden gekommen sind (vgl. dazu auch: Michael Thoss / Christine Weiss, Hrsg., Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa. Diederichs Verlag,, München 2009, vgl. die Rezension) und „Access“, der Zugriff auf die Güter in der Welt durch ökonomische Interessen die humanen Grundlagen des Menschseins zerstört und der Zugang zu den Gütern, die der Mensch zum Leben braucht, den Grundbedürfnissen, immer mehr Menschen auf der Erde verwehrt wird. In konsequenter Weise diskutiert der Autor in dem Buch „Die empathische Zivilisation“ diese Diskrepanzen und zeigt Auswege aus dem menschheitsbedrohenden Dilemma auf; nämlich der „Evolution der menschlichen Empathie“ eine größere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Aufbau und Inhalt

Rifkin beansprucht, mit dem Buch „eine völlig neue Interpretation der Geschichte der Zivilisation“ vorzulegen. Er rekuriert dabei auf die neuen Forschungsergebnisse von Biologen und Kognitionswissenschaften, von Hirnforschern und Entwicklungspsychologen, in denen die bisher gültigen Auffassungen, dass wir Menschen aggressive, materialistische, utiliaristische und egoistische Lebewesen seien, in Frage gestellt werden: Wir sind dem Wesen nach eine empathische Spezies! Diese scheinbar undenkbare Meinung zu denken (vgl. dazu auch: Joshua Cooper Ramo: Das Zeitalter des Undenkbaren, Riemann Verlag, München 2009, vgl. die Rezension) und zu belegen, gliedert der Autor das Buch in drei Teile:

  1. Im ersten Teil nähert er sich mit zahlreichen Beispielen der Frage, wie denn der „Homo empathicus“ sich in der Geschichte der Menschheit darstellt und welche Belege es dafür gibt, dass der Mensch des Menschen Mensch und nicht dessen Wolf sei.
  2. Im zweiten Teil setzt er sich mit dem Zusammenhang von „Empathie und Zivilisation“ auseinander. Indem er die Veränderungen des menschlichen Bewusstseins aufzeigt, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte vollzogen haben, konfrontiert er die Entwicklung immer wieder mit der Diskrepanz, die der „Homo oeconomicus“ verursacht hat.
  3. Im dritten Teil wird das „Zeitalter der Empathie“ ausgerufen und die „Kosmopolitisierung der Menschheit“ in Aussicht gestellt.

Zum ersten Teil. Die drei Teile untergliedert der Autor in Kapitel, in denen er an zahlreichen Beispielen aufzeigt, dass Empathie nicht nur eine Wunschvorstellung im menschlichen Zusammenleben darstellt, sondern - öffnet man die Augen und Ohren empathisch - auch vorfindbar und erkennbar ist; etwa als im Ersten Weltkrieg am 24. Dezember 1914, die deutschen Soldaten in ihren Schützengräben Christbäume anzündeten und Weihnachtslieder sangen und die verblüfften französischen Kämpfer dies ihnen bald nachtaten, aus ihren eigenen Schützengräben stiegen und sich so – für einen Friedensmoment – die Feinde persönlich gegenüber standen und gemeinsam das Weihnachtsfest feierten. Die zahlreichen Belege dafür, wie Empathie von den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis heute gewirkt hat, aber auch immer wieder durch seinen Gegenpol der Antipathie verdrängt und verhindert wurde, bringen dem Leser und der Leserin immer wieder Aha-Erlebnisse. Dass der „Mensch ein durch und durch soziales Wesen“ ist, diskutiert Rifkin anhand von mehreren Theorien, wie etwa der „Objektbeziehungstheorie“, in der die Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung hervorgehoben wird; bis hin zu den neuen Erkenntnissen, dass die Spiegelneuronen im Gehirn des Menschen für den Aufbau der Gefühlswelt grundlegende Strukturen bereit halten. Damit erhält auch die traditionelle Evolutionstheorie eine weiterführende Auslegung und Hinweise für eine aktive Nutzung der vorhandenen Ressourcen durch menschliche Empathie. Der Perspektivenwechsel vom Descartschen Postulat – „Ich denke, also bin ich“ – hin zu dem – „Ich nehme teil, also bin ich“ – macht deutlich, welche Chancen für ein empathisches Miteinander, lokal und global, bestehen: „Empathie ist der Boden, auf dem demokratische Verhältnisse wachsen und gedeihen können“. Die Auffassung, je empathischer eine Gesellschaft, desto demokratischer und je weniger empathisch umso totalitärer sei, lässt sich tagtäglich in der Welt besichtigen. Die hoffnungsvollen Erwartungen, es möge sich im menschlichen Bewusstsein und öffentlichen Diskurs die Überzeugung durchsetzen, dass der Mensch in seinem Grundwesen ein Homo empathicus ist, jedoch ließen sich nur dann realisieren, wenn die Informationen über die emphatische Natur des Menschen in unserer Mediengesellschaft nicht als Hype übermittelt werden, sondern sich die gesellschaftliche Entwicklung der Empathie in der Menschheitsgeschichte als Überzeugung verbreitet.

Im zweiten Teil werden die verschiedenen Bewusstseinsstufen menschlichen Daseins dargestellt, von den Anfängen der menschlichen Zivilisation; von der Sammler- und Jäger-Bedeutung im menschlichen Zusammenleben, über die Entwicklung der Schrift, von revolutionärem und humanistischem Denken, der Entstehung von Nationalstaaten, bis hin zum ideologischen Denken in der modernen Marktwirtschaft und dem psychologischen Bewusstsein in einer post-modernen existenzialistischen Welt – verbunden mit grenzenlosem Narzissmus, Egoismus und ausbeuterischem Denken und Tun: „Das psychologische Bewusstsein befähigte eine zunehmend individualisierte Gesellschaft, in einer technisch und wirtschaftlich vernetzten, aber gleichzeitig entfremdeten Welt die universelle Empathie zu stärken, die einer im Zusammenwachsen begriffenen globalen Gesellschaft angemessen ist“.

Im dritten Teil schließlich wird die Vision von der „höchsten globalen Empathie“ entfaltet. Die Entwicklung in der „geschrumpften Welt“, in der (scheinbar) Jeder Alles und das Sofort haben könne, in der auch das Sprichwort – „Was geht mich an, wenn in China eine Schaufel umfällt“ - keine Bedeutung mehr hat, gilt es das Bewusstsein der Menschen zu öffnen hin zu einer Kosmopolitisierung und einer globalen Wissensgesellschaft, in der „niemand mehr fremd“ ist, Wanderungsbewegungen und Veränderungen „normal“ seien. Es bedürfe der Entwicklung eines „biosphärischen Bewusstseins“, die sich als Überzeugungsantrieb etwa durch die „Theorie des Kleine-Welt-Phänomens“ darstellt, der ursprünglich 1929 von dem ungarischen Schriftsteller Frigyes Karinthy in die Diskussion gebrachten und 1961 von WissenschaftlerInnen des Massachusetts Institute of Technology weiter entwickelten Theorie, die besagt, dass zwei einander völlig unbekannte Menschen, wer sie auch immer sind und wo sie leben, nur durch eine kurze Kette von sechs Bekanntschaftsbeziehungen voneinander getrennt seien.

Soweit die optimistische, prognostische Erwartung, dass die „globale Empathie“ die Menschheit in ihrer Existenz retten könne; die pessimistische, reale Betrachtung der Lage der Welt (vgl. dazu auch: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, vgl. die Rezension) fehlt in Rifkins Analyse nicht. Denn es gilt noch einiges zu tun, um die empathische Revolution endlich ausrufen zu können; die Entropie(ab-)rechnung etwa mit dem Industriezeitalter, um die Klimakatastrophe wenigstens ansatzweise und menschheitsrettend zu verhindern, gegen den atomaren Weltuntergang anzuarbeiten, damit die genetisch manipulierten Krankheitserreger nicht Chaos und Verwüstung anrichten, den Kapitalismus zu zähmen und überhaupt unser egoistisches Eigentums- hin zum Zugehörigkeitsdenken zu verändern. Ich habe einen Traum von der Lebensqualität, sagt Jeremy Rifkin, in dem kulturelles und öffentliches Kapital das alte Menschenbild von Habsucht und Eigennutz ablösen; in der Authentizität das Bild vom individualistisch geprägten „my home is my castle“ durch das soziale Netzwerk ersetzen. Es geht darum, die Erde zu verstehen, als Biosphäre, und mit diesem Bewusstsein, dass eine empathische Welt nicht dadurch möglich wird, dass der Mensch der Natur und den Mitmenschen als neutraler und unbeteiligter Beobachter gegenüber steht, sondern es eines teilnehmenden, mit einer empathischen Fantasie getragenen Bewusstseins bedarf, um „einen neuen Weg der Globalisierung zu beschreiten: von unten nach oben, weitgehend emissionsfrei, gestützt auf regenerative und regional gewonnene Energien, aber weltweit vernetzt“.

Fazit

Die Faszination dieses empathischen und gleichzeitig subversiven Projektes der Beschreibung einer neuen Zivilisationsgeschichte und zukünftigen Wirklichkeit besteht darin, dass man an keiner Stelle der Lektüre das vage und abweisende Gefühl hat, da fantasiert sich einer etwas zusammen, was gar nicht geht. Dieser (real-) utopische Entwurf für eine empathische Zivilisation ist geeignet, die verborgenen Widersprüche in der Geschichte der Menschheit aufzudecken und die zahlreichen Zustände des Nichtgleichgewichts im Leben und Zusammenleben der Menschen auf der Erde zu erkennen, um sie zu verändern; hin zu dem, was die Weltkommission für „Kultur und Entwicklung“ 1995 als die Lösung der Menschheitsprobleme genannt hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Wir haben die Wahl ( vgl. dazu auch: Al Gore, Wir haben die Wahl, Riemann Verlag, München 2009, vgl. die Rezension), wir haben das Menschenrecht und wir haben die Kraft und die Macht dazu, wenn wir es tun!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245