Kurt P. Tudyka (Hrsg.): Ist eine andere Welt möglich?
Rezensiert von Dr. rer. pol. Thomas Schölderle, 03.03.2010

Kurt P. Tudyka (Hrsg.): Ist eine andere Welt möglich? Utopische Zwischenrufe. Multidisziplinäre Analysen und Reflexionen des utopischen Diskurses.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2009.
123 Seiten.
ISBN 978-3-8300-4384-3.
55,00 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur politischen Theorie - Band 9.
Thema
Die Utopie ist bereits seit Längerem wieder ein Thema, freilich weniger in Form einer neuen Fülle alternativer Gesellschaftsentwürfe als vielmehr in Gestalt einer Renaissance der Utopieforschung. Auch der vorliegenden Band macht dabei keine Ausnahme. Unter dem Hauptsachtitel „Ist eine andere Welt möglich? Utopische Zwischenrufe“ hätte man zwar mit einiger Berechtigung eine Sammlung eigenständiger Ideen und Entwürfe erwarten dürfen. Doch bereits der Untertitel „Multidisziplinäre Analysen und Reflexionen des utopischen Diskurses“ macht deutlich, dass sich der Band in erster Linie mit der Rekonstruktion utopischer Modelle und theoretischen Fassungen des Utopischen beschäftigt.
Entstehungshintergrund
Hervorgegangen ist die Publikation aus einer Veranstaltungsreihe, die das Theater Bonn auf Anregung des Generalintendanten Klaus Weise und unter Leitung des Herausgebers Kurt P. Tudyka an sieben Abenden durchgeführt hat. Der Band enthält die überarbeiteten Texte der dort gehaltenen Vorträge. Unterteilt in sieben thematische Aspekte, widmet sich der Sammelband „Wege nach und Ankunft in Utopia und Verbleib im städtischen, femininen, grünen, globalen und schwarzen Utopia-Quartier“ (8). Mit anderen Worten: Neben zwei grundlegenden Beiträgen behandelt das gut 100-seitige Büchlein den Utopiediskurs in seiner feministischen, ökologischen, urbanen, globalen und dystopischen Ausdifferenzierung. Im Mittelpunkt steht die Utopie des 20. Jahrhunderts.
Autoren und Herausgeber
Die Autoren sind allesamt ausgewiesene Experten, vorwiegend aus Politik-, aber auch aus Kultur- und Literaturwissenschaft: Sechs Professoren (vier bereits emeritiert) und ein promovierter Politikwissenschaftler, die sich allesamt seit Langem mit der Tradition utopischen Denkens beschäftigen.
Inhalt
Den Auftakt bildet der Beitrag von Richard Saage, der unter dem Titel „Der zerstörte Traum? Gegenwart und Zukunft der politischen Utopie“ zunächst eine Art Standortbestimmung des Utopiediskurses zu Beginn des 21. Jahrhunderts liefert (9-24). Großen Raum nimmt darüber hinaus die Diskussion des Berichts „Die globale Revolution“ ein, den der Club of Rome im Jahr 1991 autorisiert hatte. Zwar erfüllt der Bericht kaum ästhetische Bedürfnisse, doch bei allen Unterschieden zur Tradition literarischer Utopiewelten, das macht Saage deutlich, teilen die Autoren mit dem klassischen Utopiediskurs die Überzeugung, dass „eine bloße Extrapolation bestehender Trends keine realistische Antwort auf die Probleme der Gegenwart zu geben vermag“ (18). Dass sich die Autoren des Berichts (allesamt angesehene Wissenschaftler, Wirtschaftsexperten und Politiker) ausdrücklich zu dessen „utopischer“ Qualität bekennen, muss daher nicht überraschen, denn schließlich teilen sie mit der klassischen Utopietradition nicht nur die Prämisse, dass die Zukunft gestaltbar ist, sondern auch das Plädoyer für „Denk- und Phantasiesphären (…), die vom unmittelbaren Druck politischer und gesellschaftlicher Verantwortung oder Interessensdurchsetzung entlastet sind“ (18). Mit dem Verweis auf den Bericht des Club of Rome porträtiert Saage nicht nur ein vielversprechendes Beispiel, in welche Richtung sich das utopischen Denken entwickeln könnte, sondern nutzt zugleich die Gelegenheit, um in vergleichender Perspektive wesentliche Elemente des klassischen und postmateriellen Utopiediskurses zu referieren.
Anders als Saage, der vor dem Horizont eines klassischen Utopiebegriffs argumentiert, agiert Hans Ulrich Seeber in seinem Beitrag „Wie man in Utopia lebt“ (25-38) ausdrücklich mit einem Utopieverständnis im Sinne Blochscher Begriffserweiterung. Das hat zur Folge, dass auch sämtliche Mythen, weltliche und religiöse Verheißungen, Märchen, bildende Kunst oder Musik unter den Utopiebegriff subsumiert werden können, allerdings, und diese Klärung ist wichtig, er unterscheidet dieses Verständnis von den klassisch-utopischen Entwürfen in der Nachfolge von Morus, indem er hierfür den Begriff „Utopismus“ zugrunde legt. So mangelt es mythischen Projektionen (aber auch religiösen Heilserwartungen) z.B. eindeutig an der „Verbindung von rationaler Gesellschaftsanalyse und rationaler Alternativkonstruktion“ (29). Den Ausgangspunkt von Seebers Betrachtungen über das „Leben in Utopia“ bildet die aus heutiger Sicht eher befremdliche Tatsache, wie wenig in den klassischen Utopien „von einer freien Entfaltung individuellen Lebens die Rede sein kann“ (32) und wie sehr „Utopia (…) als Ordnungs- und Sicherheitsarchitektur den Menschen vor sich selbst schützen soll“ (33). Anschlussfähig an den Roman „als Medium der Erkundung und Interpretation persönlichen Lebens“ sei die Utopie erst geworden, als es ein Individuum einführte, das mit der Staatsmaschinerie in Konflikt geriet (35). Exakt diesen Aspekt hätten schließlich auch die dystopischen Warnszenarien (etwa Huxleys „Brave New World“ oder Orwells „1984“) aufgegriffen und um die Perspektive eines „um Emanzipation vom repressiven System ringenden Außenseiters und Individuums“ (36) ergänzt. Insofern habe nicht zuletzt die Dystopie den „unverzichtbaren Wert individuellen Lebens“ in der Utopietradition hervorgekehrt (37).
Im dritten Beitrag des Bandes (39-48) porträtiert Eva Kreisky – ausgehend von der häufig beklagten maskulinen Hegemonie des Diskursfeldes – den vergleichsweise jungen, aber seit den 1960er Jahren zunehmend einflussreichen Strang kritisch-feministischer Utopieentwürfe. Von der Antike bis in die Gegenwart zeichnet sie die mühevolle Geschichte nach, das patriarchale Paradigma der Frauenbilder und -rollen in den utopischen Entwürfen zu überwinden. Spätestens seit der Französischen Revolution hätte die Vision einer Gesellschaft mit unverzichtbaren Frauenrechten einigermaßen Auftrieb erhalten; mit der neuen Frauenbewegung zu Ende der 1960er Jahre habe die utopische Denktradition dann allerdings eine beachtliche Revitalisierung erlebt, die ihren Niederschlag in einer Fülle gegenpatriarchaler Frauenutopien fand, deren ausschweifende Phantasie ebenso naturnah und friedlich wie aggressiv und männerzerstörend ausfallen konnte. Da sich gegenwärtig utopische Energien der Frauenbewegung aber zunehmend „im alltäglichen Projektkampf um Einfluss und Arbeitsressourcen“ erschöpfen, hält Kreisky auch eine „vorübergehende Schubumkehr für Frauenutopien“ für denkbar. Gleichwohl würden diese nach wie vor zu motivieren und zu mobilisieren verstehen und seien daher als „Hoffnungsträgerinnen von Veränderung“ (48) unverzichtbar.
Mit „ästhetischen und architektonischen Visionen von Städten und Gärten“ setzt sich im Anschluss Eva-Maria Seng auseinander (49-67). Seit die „Industrielle Revolution“ zu einem beispiellosen Bevölkerungswachstum und zur Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte geführt habe, hätten sich vor allem im 20. Jahrhundert zwei unterschiedliche Visionen herausgebildet: die Gartenstadt auf der einen, die moderne verdichtete rationale Großstadt auf der anderen Seite. Seng skizziert daher die exemplarischen Entwürfe von Ebenezer Howard („Gartenstädte von morgen“, 1902), Émile Zola („Die Arbeit“, 1900), Tony Garnier („Die ideale Industriestadt“, 1901), Hermann Muthesius („Das englische Haus“, 1904/05) und Samjatin („Wir“, 1920/21). Während Ebenezer Howard, beeinflusst von den Utopisten Bellamy („Looking Backward: 2000-1887“) und Morris („News From Nowhere“) sowie der zunehmenden Landflucht und Verslumung Londons das Modell einer gelungenen Symbiose von Natur und Stadt entworfen habe, hätte der Architekt Tony Garnier, inspiriert von Zolas Roman „Le Travail“ (und unter sozialistischen Vorzeichen), das Muster einer idealen Industriestadt konzipiert. Das abschreckende Beispiel einer extrem verdichteten Großstadt findet sich schließlich in Samjatins Fiktion vom „Einzigen Staat“ hinter der „Grünen Mauer“, in der selbst Wände, Betten und Stühle aus Glas gefertigt sind, um das Leben völlig durchsichtig zu machen. Hermann Muthesius, der zwischen 1897 und 1903 im Auftrag des Deutschen Reiches nach London entsandt wurde, um vom dortigen Stand der Architektur zu berichten, machte sich im Anschluss in zahlreichen Publikationen für das Ideal des Einfamilienhauses im Grünen stark, das ihm als Inbegriff von Heimatgefühl, Naturverbundenheit, Familienzusammengehörigkeit, Hygiene und als wirksames Mittel gegen Alkoholismus galt. Für die Mittelschicht der westlichen Industriegesellschaften, so Seng, hat sich die Zielvorstellung vom Reihen- oder Einfamilienhaus im Grünen im Grunde bis heute erhalten. Im Sinne des klassischen Utopiebegriffs bleibt allerdings darauf hinzuweisen, dass die architektonischen Visionen nur solange dem Utopiediskurs zugerechnet werden können, wie ihnen zugleich eine klare kritische Intention gegen die Zustände der Gegenwart zugrunde liegt. Bei der Mehrzahl der von Seng porträtierten Entwürfe ist dies fraglos der Fall; für das Reihenhaus im Grünen trifft das aber wohl kaum zu.
Der ökologischen Stoßrichtung des Utopiediskurses widmet sich im Anschluss Martin D‘Idler (69-89). Im Unterschied zu den frühneuzeitlichen Utopien bei Morus oder Bacon, in denen die Natur lediglich der rationalen Verwertung durch den Menschen unterworfen sei, habe sich angesichts der allgegenwärtigen Umweltzerstörungen und globalen Bedrohungen ab Mitte der 1970er Jahre in den Utopien ein dezidiert ökologisches Bewusstsein herausgebildet, für das exemplarisch die Utopien von Ursula LeGuin („Planet der Habenichtse“, 1974) und Ernest Callenbach („Ökotopia“, 1975) stehen. Zugleich verweist d‘Idler aber auch auf einige bereits recht bedeutsame „präökologische“ Aspekte in den Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts, so z.B. in Louis de Lahontans „Gespräche mit einem Wilden“ (1703) und William Morris‘ „Kunde vom Nirgendwo“ (1890). Spätestens in den Dystopien des 20. Jahrhunderts erscheint die Natur dann ausschließlich in abschreckender Perspektive als völlig ausgebeutet und manipuliert. Für die Gegenwart sieht d‘Idler eine Hegemonie ökodystopischer Szenarien. Allen voran der resignative Zukunftsroman „Ein Freund der Erde“ (2000) von T.C. Boyle, der eine Menschheit des Jahres 2025 zeigt, die es nicht schafft, den Klimawandel zu stoppen und sich in einer von Dürren und Regenkatastrophen geschundenen Welt eingerichtet hat, habe das Potenzial zum utopischen Klassiker (86).
Mit den etablierten Klassikern des dystopischen Genres setzt sich im nachfolgenden Beitrag Wilhelm Voßkamp auseinander (91-103). Im Mittelpunkt stehen die prototypischen Texte von Aldous Huxley („Schöne neue Welt“, 1932), George Orwell („1984“, 1949) und Jewgeij Samjatin („Wir“, 1920/21). Aber auch weniger bekannte Entwürfe, etwa den Roman „Das Jahr 3000. Ein Zukunftstraum“ (1897) des italienischen Arztes Paul Mantegazza, erwähnt Voßkamp. Obwohl dystopische Elemente unschwer bereits in der Geschichte der Utopie seit dem 16. Jahrhundert zu finden seien, habe das utopische Denken mit der Wende zu abschreckend gemeinten Warnbildern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Potenzierung dieser Komponenten und eine Steigerung zum Gesamtentwurf erfahren (97). Ob durch die Gefahren gentechnischer Manipulation (Huxley) oder durch die Bedrohung totalitärer Regime (Orwell, Samjatin) – nach dem Funktionswandel der Utopie gehören Fortschrittsoptimismus und positive Verheißungen der Zukunft einstweilen der Vergangenheit an. Hoffnung lässt sich aus den Dystopien der Moderne, so Voßkamp, indes ziehen, wenn aus der Konfrontation der Gegenwart mit dem dystopischen Zustand ein Drittes sichtbar wird, nämlich ein jeweils neuer „Möglichkeitsraum“ (103).
Im siebten und letzten Artikel versucht schließlich Kurt P. Tudyka Szenarien einer „utopischen Globokratie“ zu referieren (105-122). Zehn Autoren seit Beginn des 20. Jahrhundert zieht Tudyka dazu heran. Erneut finden die Entwürfe von Orwell, Samjatin, LeGuin und Callenbach Erwähnung. Hinzu kommen die Autoren Friedrich Dürrenmatt, H.G. Wells, Arto Passilinna, P.D. James und W. Warren Wagar. Das Interesse gilt dabei „Bildern von weltherrschaftlichem Anspruch“ (105), wobei aber nur zwei Autoren utopische Gesellschaften beschreiben, die wirklich für eine ganze Welt gelten (Wells, Wagar). In den übrigen acht Entwürfen bleiben die Utopien einer Teilwelt vorbehalten. Die Realgeschichte des 20. Jahrhunderts drückte dabei wohl auch der chronologischen Folge der utopischen Projektionen ihren Stempel auf. Die beiden, die ganze Welt umspannenden Utopien finden sich jeweils am Anfang und am Ende des 20. Jahrhundert, und somit auch vor bzw. nach der ideologischen Teilung der Welt zwischen 1917 und 1989. Während Wells in „Jenseits des Sirius“ (1911) für eine „Synthese aller Nationen, Sprache und Völker in einem Weltstaat“ und für eine „weltumfassende Vereinigung aller Kulturen, Staatskörper und Rassen“ plädiert, beschreibt der Sozialgeograf W. Warren Wagar in „A Short History of the Future (1990) eine spannende Chronologie von drei aufeinanderfolgenden Perioden der globalen Menschheitsentwicklung bis zum Jahr 2200: Auf ein kapitalistisches Zeitalter der Mega-Konzerne folgt eine global-kommunistische Regierung des Welt-Commonwealth, ehe diese durch eine anarchistisch-fragmentierte Struktur ersetzt wird. Im Bereich der Teilwelten macht Tudyka ebenfalls eine Entwicklung aus. Sie setzt ein mit dystopischen Schreckens- und Gewaltszenarien und mündet schließlich in positiv utopische Partikularwelten gegen Ende des 20. Jahrhunderts.
Diskussion
Ingesamt präsentieren die Beiträge also auf engem Raum eine Fülle utopischer Ideen und Entwürfe und dokumentieren damit zugleich Vielfalt wie Vitalität des utopischen Denkens vor allem im 20. Jahrhundert. Abgesehen von ein paar etwas arg verkürzten Zuspitzungen (z.B. d‘Idler über das Naturverständnis bei Morus) und kleineren Fehlern – bei Tudyka ist vom ehemaligen österreichischen Bundeskanzler „Ralph Vranitzky“ die Rede (113) – besticht der handliche Sammelband durch seine ausgesprochen gelungene Konzeption und die durchweg instruktiven Beiträge. Die Überschneidungen durch das mehrmalige Auftauchen identischer Autoren und Utopien wirken keineswegs redundant, vielmehr ergänzen sich die Aussagen in komplementärer Weise. Auch das ist ein Verdienst der systematischen Perspektive des Bandes. Angeboten hätte sich überdies zwar noch ein zusätzlicher analytischer Überblick zu den existierenden Utopiebegriffen und die zugrunde liegenden Kontroversen. Aber auch ohne eine solche begriffstheoretische Verortung liefern die Beiträge genügend Material für die theoretische Fassung des Phänomens „Utopie“.
Fazit
Alles in allem präsentiert sich der Sammelband damit als ein kleines, aber reichhaltiges Kompendium zum utopischen Denken, das alle wesentlichen Strömungen des gegenwärtigen Utopiediskurses zu Wort kommen lässt und zugleich mit der These vom „Ende der Utopie“ aufzuräumen vermag.
Rezension von
Dr. rer. pol. Thomas Schölderle
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