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Helmut König (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa

Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Maier, 10.03.2010

Cover Helmut König (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa ISBN 978-3-8376-1217-2

Helmut König (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa. Chancen und Risiken neuer Beschäftigungsverhältnisse. transcript (Bielefeld) 2009. 184 Seiten. ISBN 978-3-8376-1217-2. 19,80 EUR. CH: 35,90 sFr.
Reihe: Europäische Horizonte - Band 5.

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Entstehungshintergrund/Thema

Der Bamberger Soziologentag von 1982 hat unter dem Thema „Krise der Arbeitsgesellschaft“ eine bemerkenswerte sozialwissenschaftliche und sozialphilosopische Diskussion ausgelöst über die Geschichtlichkeit der Erwerbsarbeitsgesellschaft und Perspektiven einer Post-Arbeitsgesellschaft. Inzwischen sind diese sehr grundsätzlichen Fragen zurückgetreten zugunsten der immer drängender werdenden Frage, wie das System der Erwerbsarbeit angesichts des sozioökonomischen Wandels erhalten und gesichert werden kann. Dabei treten langfristige Perspektiven zugunsten der Bewältigung der krisenhaften Entwicklung der Erwerbsarbeit in den Hintergrund. Der hier zu besprechende Band greift die grundlegenden Fragen nach der Zukunft der Arbeit wieder auf und sucht nach Antworten aus europäischer Perspektive.

Autoren/Adressaten

Der Band ist hervorgegangen aus einer Vortragsreihe unter dem Titel „Die Zukunft der Arbeit in Europa“ im Mai 2008 in Aachen, der unter Federführung des politischen Instituts der Technischen Hochschule in Zusammenarbeit mit verschiedenen kommunalen und regionalen Organisatoren in Aachen veranstaltet wurde. Zu diesem Thema werden Beiträge von namhaften Autoren und von NachwuchswissenschaftlerInnen zusammengestellt. – Der schmale Band wendet sich an eine breite, an gesellschaftlichen Grundfragen interessierte Öffentlichkeit.

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung stellen die HerausgeberInnen die These von der Krise der Arbeitsgesellschaft, wie sie in den 1950er Jahren von Hannah Arendt formuliert und auf dem deutschen Soziologentag 1982 weiterentwickelt wurde, zusammenfassend dar. Entgegen den Prognosen des Soziologentages ist die gesellschaftliche Bedeutung der Erwerbsarbeit im Sinne des zentralen Mediums der Vergesellschaftung in den letzten dreißig Jahren weiter angewachsen. Zugleich wurde die Erwerbsarbeit immer prekärer: Genannt werden insbesondere die anhaltend hohe Massenarbeitslosigkeit, die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und der normalen Erwerbsarbeitskarriere und die Umbrüche in den Arbeitsinhalten. Die bisherigen Konzepte zur Bewältigung der Krise der Erwerbsarbeit erweisen sich als langfristig nicht tragfähig.

Im ersten Beitrag stellt ein auf afrikanische Geschichte spezialisierter Historiker die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung von „Arbeit“ für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Andreas Eckert zeigt auf, dass „Arbeit“ eine „riesige Bandbreite von Tätigkeiten und Konzepten umfasst“. Notwendig ist eine „intensivere Auseinandersetzung mit der großen Diversität von Formen und gesellschaftlicher Einbettung von Arbeit weltweit und in historischer Perspektive“. In Europa ist Arbeit in der Form „kodifizierter“ Erwerbsarbeit zum zentralen Begriff und Kriterium für individuelles und kollektives Selbstverständnis, für soziale Gliederungen, Bewegungen und Konflikte, für Sozialpolitik, Nation und Kultur geworden. Das „Normalarbeitsverhältnis“ wurde „normal“ für Männer und das erst in den „trentes glorieuses“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Alternative zu dieser Ontologisierung von Erwerbsarbeit verweist Eckert auf eine Biografisierung von Arbeit und Vergnügen in Benin. Er plädiert für die Einbeziehung der historischen und globalen Dimensionen als Voraussetzung für die Eröffnung von „Möglichkeitsräumen“.

Der zweite Beitrag eines Finanzwissenschaftlers dokumentiert, wie in der europäischen Diskussion die traditionelle Vollbeschäftigung nicht hinterfragbares, primäres Ziel der Wirtschaftspolitik ist. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Arbeitsmarktsituation in den verschiedenen europäischen Ländern beträchtliche Unterschiede aufweist, dass aber die Arbeitslosigkeit in den USA insgesamt deutlich geringer ist als in Europa. Mit der Aufnahme einer „europäischen Beschäftigungsstrategie“ (EBS) in den Maastrichter Vertrag im Jahre 1997 wird signalisiert, dass die EU nicht nur für die liberalen Ziele eines freie Marktes, sondern auch die „wirklichen Probleme“ der Menschen in Europa, sprich: die Vollbeschäftigung zur gemeinsamen Sache macht. Die bisherigen Erfolge sind eher bescheiden, gefordert ist eine Überwindung des „Nach-Keynes-Konsenses“ im Sinne einer euopaweiten Koordinierung der Geld-, Finanz- und Lohnpolitik. Hier erscheint Europa als neue Möglichkeit, mit Hilfe einer großräumigen Globalsteuerung das Beschäftigungsproblem zu lösen.

In ähnlicher Weise sieht der Bildungsforscher Martin Baethge in einer Europäisierung der Berufsbildung und der Entwicklung eines europäischen Qualifikationsrahmens EQR eine Chance, das spezifisch deutsche „Bildungs-Schisma“ zwischen Berufsausbildung/Ausbildung und an Gymnasien und Universitäten angesiedelter eigentlicher „Bildung“ zu überwinden.

Wie fragil das Erwerbssystem in Europa ist, wird am Beispiel der IT-Industrie und der Pflege thematisiert. Die IT-Industrie, die lange Zeit als Zukunftsbranche und Alternative zur traditionellen Industrieproduktion galt, war bereits in den 1990er Jahren dadurch gekennzeichnet, dass die Fertigung von den USA und Europa in Billiglohnländer verlagert wurde. Inzwischen werden auch Forschungs- und Entwicklungsaufgaben zunehmend in Länder wie Taiwan, Singapur oder China verlagert. Gegenwärtig zeichnen sich Restrukturierungsversuche ab, die Internationalisierunsprozesse lassen sich jedoch nicht mehr zurückdrehen. Dies führt zu einer „schleichenden Auflösung stabiler Fertigungs- und Entwicklungsstrukturen“. – Eine Internationalisierung und Flexibilisierung ganz anderer Art vollzieht sich im Bereich der Familienarbeit. Unter der Überschrift „Und für Opa sorgt ne Frau aus Osteuropa“ beschreibt Elisabeth Beck-Gernsheim den zunehmenden Bedarf an Haushaltshilfen angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Mittelschichtsfrauen. Die vermutlich mehr als 4 Millionen auf diese Weise entstandenen Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten in Deutschland werden ganz überwiegend besetzt mit Arbeitsmigrantinnen aus den armen Ländern Osteuropas. Auf diese Weise ist seit den 1980er Jahren eine neue Arbeitsmigration entstanden, durch die einerseits das ungelöste Problem der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit „bewältigt“ wird. Andererseits entsteht ein neuer prekärer Arbeitsmark, der mit erheblichen sozialen Kosten für die Frauen aus den osteuropäischen Ländern verbunden ist.

Hinter der Forderung nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbirgt sich das Problem, dass mit der Herausbildung der Industriegesellschaft Familienarbeit als Nicht-Arbeit definiert und auf dieser Basis in ganz umfassenden Sinne die Geschlechterrollen bestimmt wurden: Die unbezahlte weibliche Arbeit geschieht im nicht-öffentlichen Bereich der Familie, die männliche Arbeit wird zur „eigentlichen“ Arbeit, die bezahlt wird und sich in der öffentlichen Sphäre abspielt. Da die Erwerbsarbeit zum zentralen Medium der Verteilung gesellschaftlicher Güter einschließlich von sozialer Wertschätzung, Selbstachtung und Sinn geworden ist, ist für die Frauen der Einstieg in das Erwerbsleben zum zentralen Instrument der Emanzipation geworden. Die in den letzten Jahrzehnten verstärkte Forderung nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf führt einerseits zu einer doppelten Belastung der Frau durch Familie und Beruf und andererseits zu einer Ausgrenzung des Mannes aus seiner Familie durch mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz des „fürsorglichen teilzeitbeschäftigten Vaters oder Hausmanns“. Gefordert ist eine Veränderung der Geschlechterrollenkonzepte von Mann und Frau durch Bildung und Sozialisation und eine verstärkte Wertschätzung häuslicher Arbeit, was vermutlich nur dadurch erreicht werden kann, dass Hausarbeit, Kindererziehung und Pflege von Familienangehörigen entsprechend entlohnt werden. Die Auflösung der traditionellen Rollenkonzepte und neue Verschränkung von Beruf und Privatleben erscheint „unabdingbar für die Zukunft Europas“.

Die traditionelle – männliche – „Normalbiografie“ erscheint jedoch gerade angesichts ihrer Infragestellung als nicht hinterfragbares Element von Normalität. Friedericke Hardering beschreibt die durch die sozioökonomische Entwicklung geforderte Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die damit verbundene Prekarisierung auf drei Ebenen: die Zunahme atypischer, unsicherer Beschäftigungsverhältnisse führt zur Erosion, materieller, rechtlicher und sozialer Standards und wird Ausgangspunkt der „Diffusion von Unsicherheiten“. Dies erforderte eine Neudefinition von sozialer Gerechtigkeit wie auch des staatlichen Auftrags. Prekarität bezeichnet eine neue Form sozialer Ungleichheit im Sinne des Ausgeschlossenseins, des Sicher-Intregriert-Seins und des in umfassenden Sinne Gefährdet-/Vulnerabel-Seins. Frederike Hadering kommt zu dem Ergebnis, dass die Wahrnehmung positiver Perspektiven innerhalb der Prekarisierung bei Mutz und Pongratz wenig plausibel ist und „die Normalbiografie (…) gerade unter prekär Beschäftigten das Idealbild der Herstellung von stabiler Erwerbsbiografie“ darstellt.

Den Abschluss des Bandes bilden zwei Beiträge von prominenten Kritikern der Arbeitsgesellschaft: Oskar Negt sieht das „wesentliche Bewegungselement des gegenwärtigen Kapitalismus“ darin, dass sich das Kapital zum ersten Mal in der Geschichte frei bewegen kann ohne dass ihm moralische, rechtliche oder traditionelle Barrieren entgegen treten. Dies ruft ein zentrales Bedürfnis nach Bindung hervor: Die Erosion der traditionellen bürgerlichen Familie erfordert neue generationsübergreifende Strukturen, in denen „Näheverhältnisse“ gewährleistet werden. Durch die Herausbildung der Erwerbsarbeitsgesellschaft ist Arbeit ein fester Bestandteil der Identität und des Lebens der Menschen geworden. „Unser Problem besteht aber im Überfluss, welcher wiederum Armut erzeugt, da die benötigten Waren auch ohne das Zutun eines jeden produziert werden“. Vor diesem Hintergrund fordert er eine vierfache Mandatserweiterung der Gewerkschaften: Der traditionelle Interessensbegriff der Gewerkschaften ist an der Lohnarbeit des männlichen Facharbeiters im Großbetrieb orientiert. Notwendig ist eine Interessensvertretung für alle, die irgendwie arbeiten. Hierfür muss der Arbeitsbegriff ausgeweitet werden auf die Hausarbeit, Beziehungsarbeit, Bürgerarbeit usw. Schließlich müssen die Gewerkschaften wieder ein umfassendes kulturelles und politisches Mandat wahrnehmen. Der Kampf, für ein Menschenbild, das die autonome politische Urteilskraft des Menschen in den Mittelpunkt rückt, ist für ihn die zentrale Aufgabe. – Heinz Bude stellt dem Bild der zunehmenden Polarisierung zwischen den Gewinnern der ökonomisch-technischen Modernisierung im Sinne der umworbenen und gehegten „Kernbelegschaften“ und den nur zur Ergänzung und Überbrückung marktabhängig gesteuerter Produktionsabläufe eingesetzten „Randbelegschaften“ neue Formen von Exklusion gegenüber: „Man hat die Überzeugung von der beruflichen Wiederverwendbarkeit verloren, man kommt mit Familie, Partnern, Freunden und Bekannten nicht mehr zurecht, man sieht nur wie die Ämter einen gängeln und kontrollieren wollen, und schließlich kann man auf eine bestimmte Dosis Alkohol, Tabletten oder andere Stoffe nicht mehr verzichten, um über den Tag zu kommen“. An die Stelle der Polarisierung zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘ tritt die Unterscheidung zwischen Integration und „sozialer Exklusion“. Diese ist geprägt durch subtile Exklusionsprozesse in der Wohlfahrtspolitik, in der Bildungspolitik, in der „Ausländerpolitik“ und vielfältigen wohlgemeinten Integrationsstrategien. Bude findet keine Antwort auf die Frage, „wer durch Begrenzung, Zielausrichtung und Zurückweisung wirtschaftlichen Machtstrebens in diesem Staat die Gemeinwohlverantwortung übernimmt“.

Diskussion

Es ist angesichts der Heterogenität der Beiträge verständlich und dennoch schade, dass die Herausgeber auch nicht einmal den Versuch unternehmen, die verschiedenen Sichtweisen zusammenzuführen und nach möglichen Zukunftsperspektiven zu fragen. Deutlich wird, dass sich gegenwärtig tief greifende Veränderungen im Bereich der Arbeit abzeichnen und dies zu vielfältigen sozialen Problemen führt. Dabei wird deutlich, dass eine grundsätzliche Neudefinition von Arbeit und einer neuen Gewichtung der vielfältigen Care-Arbeit im Verhältnis zur traditionellen Industriearbeit gefordert ist. Die historisch-philosophische Frage nach der Bedeutung von Arbeit für den Menschen erscheint auch in diesem Band als interessante, aber doch eher exotische Betrachtung, die für die Praxis keine Relevanz hat. Diese Probleme werden offensichtlich von der europäischen Politik wie auch den Ökonomen in keiner Weise wahrgenommen. Auch wenn ein in sich stimmiges Bild der „Zukunft der Arbeit in Europa“ gegenwärtig nicht möglich ist, würde man von den Herausgebern eines solchen Bandes zumindest den Versuch erwarten, die Konfliktlinien herauszuarbeiten und mögliche zukunftsträchtige Perspektiven aus den einzelnen Beiträgen zu zeigen.

Fazit

Eine Sammlung von äußerst interessanten Beiträgen zu einem brisanten Thema, die zum Weiterlesen anregt, aber zugleich Ratlosigkeit und Frust hinterlässt, weil auf jedes Resümee verzichtet wird.

Rezension von
Prof. Dr. Konrad Maier
Website

Es gibt 7 Rezensionen von Konrad Maier.

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Zitiervorschlag
Konrad Maier. Rezension vom 10.03.2010 zu: Helmut König (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa. Chancen und Risiken neuer Beschäftigungsverhältnisse. transcript (Bielefeld) 2009. ISBN 978-3-8376-1217-2. Reihe: Europäische Horizonte - Band 5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9056.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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