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Stefan Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 30.08.2010

Cover Stefan Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland ISBN 978-3-531-16139-6

Stefan Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 300 Seiten. ISBN 978-3-531-16139-6. 24,90 EUR.

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Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-531-18005-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Autor

Stefan Selke ist Professor für Soziologie Digitaler Medien an der Hochschule Furtwangen. Doch seine Interessen beschränken sich nicht auf virtuelle Welten. 2008 hat er die hervorragende soziologische Studie „Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird“ (Westfälisches Dampfboot) zum Innenleben und zur gesellschaftlichen Funktion der Tafeln in Deutschland herausgebracht.

Der Autor hat mit seiner Untersuchung eine gesellschaftspolitische Debatte über Sinn und Funktion der Tafeln als Mittel der Armutsbekämpfung in Gang gesetzt. Zwar ist die Kritik an den Tafeln nicht neu. Sie begleitet die Tafelbewegung von Anfang an. Doch was KritikerInnen zuvor vergeblich versucht haben, ist Selke mit seiner Studie gelungen.

Thema

Stefan Selke hat es geschafft, seine grundsätzliche Sympathie mit der Tafelbewegung und seine Wertschätzung von deren wichtiger Arbeit mit einer gesellschaftspolitischen Kritik an der Art und Weise der Armutspolitik hierzulande und der Rolle der Tafeln in diesem Prozess zu verbinden. Von KritikerInnen wird den Tafeln vorgeworfen, dass sie das soziale Grundrecht auf eine menschenwürdige Grundsicherung untergraben würden. Ihnen wird zur Last gelegt, sich politisch im Prozess des Abbaus des Sozialstaats missbrauchen zu lassen: Sie würden keine politische Forderungen stellen, weder zu Protest mobilisieren, noch arme Menschen befähigen, sich zu organisieren. Die Tafeln würden Arme „deaktivieren“ und nicht auf Distanz zur Politik gehen.

Caritas und Diakonie, die beiden großen kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Deutschland und vielerorts Trägerorganisationen von Tafeln, haben auf die Kritik mittlerweile mit eigenen Positionspapiere reagiert (Diakonie: "Tafeln im Kontext sozialer Gerechtigkeit", Berlin 2010; Caritas NRW: „Zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit“, Düsseldorf 2008). Die Tafeln und deren Dachverband äußerten sich bislang öffentlich nur abwehrend zur vorgebrachten Kritik.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband vereint insgesamt 16 Beiträge zum Thema „Tafeln in Deutschland“. Er ist in drei Kapitel gegliedert, in denen es um deren gesellschaftspolitische Einordnung, um einzelne empirische Fallstudien zur Tafelarbeit und um Positionen zu Tafeln geht.

Im einleitenden Beitrag fasst der Herausgeber die zentralen Ergebnisse seiner soziologischen Studie aus dem Jahr 2008 zusammen, stellt die teils ambivalenten Funktionen der Tafeln dar und analysiert deren „Erfolgsgeschichte“. Für ihn stehe der Boom der Tafeln in engem Zusammenhang mit der Hartz-IV-Gesetzgebung. Sein wesentlicher Kritikpunkt ist, dass die „Gewöhnung an Tafeln und ihre erfolgreiche Armutsbewältigung […] auch die Gewöhnung an das Fehlen nachhaltiger Armutsbekämpfung in der Gesellschaft [bedeutet]“ (11). Zugleich bemängelt er, dass es bislang „keine der Bedeutung der Tafeln angemessene wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Phänomens“ (13) gebe. Daher will er mit dem Sammelband „Pionierarbeit“ leisten.

Im ersten Teil „Einordnung der Tafeln“ wird das Phänomen der Tafeln aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet: Der Historiker Hans Jürgen Teuteberg vergleicht die heutigen Tafeln mit ihren zahlreichen geschichtlichen Vorläufern wie Armenspeisungen und Suppenküchen. Der Soziologe Stephan Lorenz ordnet die Tafeln analytisch zwischen Konsumismus und „Überflüssigkeit“ ein und zeigt das strukturelle Spannungsfeld auf, in dem sie agieren und das sie durch ihr Selbstverständnis und ihre Organisationsstruktur zum Teil selbst produzieren. Der Ernährungswissenschaftler Konstantin von Norman rechnet vor, dass der Hartz-IV-Regelsatz nicht ausreicht, um sich dauerhaft gesund zu ernähren. Er stellt die Tafeln als nonprofitorientierte „Lösungsstrategie“ dieser politisch produzierten Ernährungsarmut vor und stellt Überlegungen zur Weiterentwicklung der Tafelidee an. Der Sozialwissenschaftler Jens Becker stellt ein gesellschaftliches Unbehagen im Um- und Abbauprozess vom sorgenden zum aktivierenden Sozialstaat fest, „das sich in Statuspanik, Schuldvorwürfen, Neurosen, Resignation oder Demokratieverdrossenheit manifestiert“ (132). Der Marburger Pädagogikprofessor Eckhard Rohrmann skizziert die Rolle der Tafeln im Prozess des Abbaus des Sozialstaates. Sie seien von PolitikberaterInnen und SozialstaatskritikerInnen instrumentalisiert worden. Die Tafeln seien daher ein „Armutszeugnis der Sozialpolitik“ (153). Die Politikwissenschaftlerin Luise Molling kritisiert im Anschluss an Michel Foucaults gouvernementalistische Perspektive die diskursive Überhöhung des bürgerschaftlichen Diskurses der Tafelpraxis als neoliberales Regieren des Sozialen.

Der zweite Teil des Sammelbandes stellt „Fallstudien zu Tafeln“ vor: Luise Molling geht in einer explorativen Medienanalyse der Frage nach, ob die enorme Nachfrage nach Lebensmitteln der Berliner Tafel als Signal für das Versagen der Politik gewertet und das ehrenamtliche Engagement der TafelhelferInnen als Ersatz für staatliches Handeln instrumentalisiert werden. Dazu teilt sie die Geschichte der Berliner Tafel in verschiedene Phasen von der Gründung und Etablierung über deren Professionalisierung bis hin zur „Systembildung“ ein. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Berliner Tafel mit ihrer Arbeit dazu beitrage, die Sparmaßnahmen des Berliner Senats und die finanzielle Not zahlreicher Arbeitslsosengeld-II-EmpfängerInnen und RentnerInnen in der Hauptstadt abzufedern (193). Die Soziologin Petra Krüger analysiert aus Genderperspektive das ehrenamtliche Engagement der Tafeln und stellt eine Vergeschlechtlichung verschiedener Tätigkeitsfelder in ihrem Innenleben fest: Während alle Frauen in den Tafeln für die Verteilung der Lebensmittel und die „kommunikative Seite“ der Tafelarbeit zuständig seien, würden die Männer im „Transport“ arbeiten – wobei „Transport“ als „ranghöhere“ Tätigkeit angesehen werde. Die Ernährungswissenschaftlerin Kerstin Clausen berechnet die Kosten gesunder Ernährung für Kinder und Jugendliche im Kontext der Tafeln. Hannes Klasen stellt die Berliner Hilfsprojekte Arche und die Kinderrestaurants der Berliner Tafel vor und fragt nach ihren Möglichkeiten, Ernährungsdefizite und gesellschaftliche Beeinträchtigungen in armen Familien zu lindern.

Im dritten Teil „Positionen zu Tafeln“ kommen drei VertreterInnen und zwei KritikerInnen der Tafeln zu Wort. Für Ude Engelhardt von der Singener Tafel sind die Tafeln ein „Bestandteil der Sozialarbeit“ (247) und ein Teil der „sozialen Infrastruktur“ (248). In der Tafelarbeit sieht er die Chance, Arbeitslose zu „aktivieren“. Sabine Werth, die Vorsitzende und Gründerin der Berliner Tafel, skizziert deren Entstehung und Entwicklung. Ihrer Meinung nach dürften Tafeln „keine Grundversorgung, sondern lediglich eine Zusatzversorgung“ (253) leisten. Am Ende des Beitrags kommt sie zu den überraschenden Aussagen, dass Tafeln die „Befrieder der Nation“ sind (255) und „der größte Fehler darin besteht, so viele Tafeln in Deutschland zugelassen zu haben“ (257). Der Sozialarbeiter Heribert Rhoden stellt das Konzept „Tafel plus“ der Caritas im Bistum Trier vor, welches die Tafelarbeit nicht auf die Lebensmittelausgabe beschränken wolle, sondern sie mit den sozialen Diensten und Angeboten der Caritas vor Ort vernetzen will. Für den Tafelkritiker und Aktivisten im Berliner Sozialforum Dieter Hartman steht die Tafelbewegung „symptomatisch für eine rückwärts gewandte Sozialstaatsentwicklung“ (264). Er plädiert für eine politische Kritik an der zunehmenden „Vertafelung“ der Gesellschaft“ aus der Perspektive Globaler Sozialer Rechte. In einem abschließenden Kapitel zieht der Herausgeber Stefan Selke eine erste Bilanz der Tafeln, die trotz ihrer medialen Präsenz doch „noch eine unbekannte Welt“ (273) seien. Er sieht die Tafeln in einer paradoxen Situation, da sie „sich in einer Sandwitchposition zwischen Armutskonstruktion und Armutsbekämpfung [befänden], in der sie sich redlich um Armutsbewältigung bemühen“ (274).

Fazit

Stefan Selke hat nach seiner überzeugenden Pionierstudie von 2008 erstmals einen umfangreichen Sammelband zum Phänomen der Tafeln herausgeben. Wenn auch die Qualität der Beiträge variiert, ist das Buch allen zu empfehlen, , die sich in unserer Gesellschaft wissenschaftlich oder praktisch mit Armut und Sozialpolitik beschäftigen.

Das Phänomen Tafeln wird uns noch so lange begleiten, wie Menschen in Armut gehalten werden und staatliche (Sozial-)Politik gesellschaftliche Ungleichheiten zementiert. Über kurz oder lang werden die Tafeln, insbesondere ihr Dachverband, auf die notwendige und richtige Kritik reagieren müssen. Die Tafelbewegung steht aktuell vor richtungweisenden Entscheidungen – zwischen einer reinen Charity-Organisation und einer möglichen Politisierung.

Auch vom Herausgeber des Sammelbandes werden wir sicherlich noch Einiges lesen. Es scheint, als habe der Soziologieprofessor sein Thema gefunden. Zu hoffen bleibt, dass er mit der medialen Aufmerksamkeit, die ihm und seiner Kritik zu Teil geworden ist, verantwortungsvoll und redlich umzugehen weiß – vor allem im Sinne der Menschen, die sich in Tafeln engagieren oder sie nutzen.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 30.08.2010 zu: Stefan Selke (Hrsg.): Tafeln in Deutschland. Aspekte einer sozialen Bewegung zwischen Nahrungsmittelumverteilung und Armutsintervention. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. ISBN 978-3-531-16139-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9083.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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