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Yaşar Aydin: Topoi des Fremden

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.05.2010

Cover Yaşar Aydin: Topoi des Fremden ISBN 978-3-86764-222-4

Yaşar Aydin: Topoi des Fremden. Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2009. 259 Seiten. ISBN 978-3-86764-222-4. D: 29,00 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 49,90 sFr.
Reihe: Theorie und Methode - Sozialwissenschaften.

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„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“

Mit dieser bekannten, in einem Sketch von Karl Valentin und Liesl Karlstadt in charakteristischer Weise verdeutlichten Kennzeichnung des Phänomens „Fremdheit“ kommt zum Ausdruck, dass im individuellen und kulturellen Bewusstsein der Menschen der und das Fremde immer jenseits des Eigenen zu suchen ist; entweder als Sehnsucht nach dem Anderen, dem nicht Erreichten und Wünschenswerten, wenn die „Fremde lockt“, oder als Bedrängnis, wenn das Fremde allzu nahe kommt. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Topoi des Fremden kann sich auf verschiedenen Strängen bewegen: Historisch, kulturell, individuell, gesellschaftlich. In erster Linie sind dabei die Gesellschaftswissenschaften aufgerufen und hier zuvorderst die Soziologie.

Autor und Ansatz

Der aus der Türkei stammende, derzeit als Gastwissenschaftler bei der Migration Research Group am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) tätige Yaşir Aydin hat 2009 an der Universität Hamburg promoviert, indem er das „Spannungsverhältnis zwischen Xenophilie in der Theorie und Xenophobie in der gesellschaftlichen Realität“ analysiert. Den aktuellen soziologischen und sozialtheoretischen Auseinandersetzungen über die „Fremdheit“ nähert sich der Autor dadurch, dass er die vorfindbaren Ausdrucksformen, die sich in der (europäischen) Fremdheitsdebatte darstellen, in einer vergleichenden Literaturrecherche insbesondere in Deutschland und England analysiert. Dabei fällt bereits bei der semantischen Betrachtung auf, dass es im Englischen mehrere Begriffe gibt, die sich theoretisch und in der praktischen Ausführung in unterschiedlicher Weise darstellen: foreigner, stranger, alien, während im Deutschen „Fremde / Fremdheit“ überwiegend das „Andere“ signalisiert: „Der Fremde ist immer der Andere, etwas anderes als das Ich, umgekehrt ist aber der Andere nicht notwendigerweise der Fremde“.

Aufbau und Inhalt

Um diesen komplizierten Sichtweisen und unterschiedlichen Bedeutungsebenen nahe zu kommen, gliedert Aydin seine Arbeit in vier Teile.

Im ersten und zweiten Kapitel setzt sich der Autor mit ausgewählter Literatur zur Fremdheitsthematik auseinander, indem er „auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten bei der Konstruktion der Fremdheitsproblematik und deren Entwicklung im europäischen Zusammenhang“ verweist, die historischen und gesellschaftstheoretischen Entwicklungen aufzeigt und sie in den kontroversen soziologischen Diskurs verortet. Dabei ersetzt er die traditionellen Analyseinstrumente durch die Frageaspekte nach „Fremdheitszuschreibung, Fremdheitserfahrung und gesellschaftliche Statuszuweisung“. Er verweist auf gesellschaftliche Strukturen, Institutionen, Interessenkonstellationen und historische Entwicklungen, die negative Fremdheitspositionen erzeugen und festigen. Es wird deutlich, dass es, zumindest bei der Analyse der Fremdheitsdebatte in Deutschland und Großbritannien, einer neuen Betrachtung der bisher in der Soziologie benutzten Differenzierungskriterien von Fremdheit und Fremdsein – Raum, Kultur, Wissen und Macht – bedarf, die sich in den Fragen nach der religiösen Differenz, der Religionszugehörigkeit, der Staatsbürgerschaftsvergabe, der jeweiligen dominanten gesellschaftlichen Selbstbeschreibungs- und Identitätsformeln und den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen darstellen.

Im dritten Teil diskutiert Aydin anhand von ausgewählten Theorieansätzen, Zygmunt Baumans Soziologie des Fremden und soziologische, systemtheoretische Ansätze, die Unterscheidungen, wie sie bei Fremdheitszuschreibungen auftreten. Es sind vor allem die Aspekte, die sich bei der Bestimmung der Komponenten „Differenz und Macht“ zeigen: „Fremdheit liegt … nur dann vor, wenn die Andersheit (sei es sprachliche, kulturelle, physische usw.) des Anderen als Irritation bzw. Störung empfunden wird“.

Im vierten Kapitel wendet der Autor die differenzierten Kriterien von Fremdheitszuschreibungen im praktischen Feld der gesellschaftlichen Wirklichkeiten der Fremdheitsdebatten in Deutschland und Großbritannien an. Dabei leiten ihm Fragen nach den unterschiedlichen Wahrnehmungen des „Anderen“ und „Fremden“ im gesellschaftlichen Prozess, nach den verschiedenen rechtlichen, politischen, sozialen und symbolischen Grenzziehungen, den medialen Diskursen und den veränderten politischen und ökonomischen globalen Bedingungen. Während in Großbritannien die „typischen Fremden“ eher durch die Hautfarbe („Rasse“) kenntlich sind, stellen in Deutschland eher ethnische Kategorien Fremdheitszuschreibungen dar, hier vor allem Immigranten aus Nicht-EU-Staate, vor allem aus der Türkei und Asylsuchende. In Großbritannien, so der Autor sei „die Grenze zwischen dem vorgestellten ’Wir’ und ’den Fremden’ in vieler Hinsicht durchlässiger als in Deutschland“. Es sind vor allem die „Ausschlussverhältnisse“, die Fremdheit erzeugen und festigen und Benachteiligung, Ausgrenzung und Diskriminierung schaffen; wie etwa auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, auf dem Wohnungsmarkt. Die sich für die „Fremden“ daraus ergebenden Möglichkeiten und Strategien münden dann meist in Forderungen der Mehrheitsgesellschaft nach Anpassung und Assimilation (vgl. dazu auch: Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, Bielefeld 2009, 274 S., vgl. die Rezension), in (nostalgische, subjektive oder ideologische) „Rückbesinnung auf die kulturellen Wurzeln“, oder in die Konstruktion von hybriden Identitäten.

Fazit

Die hermeneutische Analyse der aktuellen Fremdheitsdebatte in Europa, exemplarisch dargestellt an den deutschen und englischen gesellschaftlichen Diskursen und den wissenschaftlichen Forschungen, bewegt sich bei der Bestimmung von Fremdheit, im Spannungsverhältnis zwischen Inklusion und Exklusion. Bei der Frage nach dem Nutzwert und der Bedeutung der vorgefundenen und dargestellten Theorien und praktischen Auswirkungen in unserer Zeit in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen) Welt bedarf es der Besinnung darauf, dass „die Weisen, Faktoren und Adressaten von Fremdheitszuschreibungen einem immerwährenden Wandel unterworfen sind, während die grundlegenden Strukturen konstant bleiben“; nämlich die, dass die Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Anderen notwendig ist, um die eigene Identität nicht als Abgrenzung zum Anderen, sondern als Ergänzung und Bereicherung durch das Andere zu formen: „Erst durch das Bild des Fremden kann ein Bild des Selbst erlangt werden“. So wird in Aydins Analyse z. B. deutlich, dass, sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland die Staatsangehörigkeit als Faktor für negative Fremdheitszuschreibungen an Bedeutung verliert, während die Religionszugehörigkeit, vor allem wenn es sich um den Islam und Muslime handelt, stärker in das gesellschaftliche Blickfeld rückt. Dies aber erforderte, dass in einer multikulturellen Gesellschaft dem Menschenrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit ein stärkeres Gewicht zukommen sollte. Es heißt aber auch, dass der Integrationsgedanke deutlicher auf die demokratischen Werte in der Gesellschaft fokussiert werden müsste: „Das heisst, die Demokratie umfasst … entweder alle und ist für alle offen oder sie ist keine Demokratie“.

Yaşar Aydin legt mit seiner hermeneutischen Analyse einen Beitrag als Besinnungsaufforderung vor, der angesichts der erkennbaren Wiedererstarkung der Forderungen nach „Leitkultur“ und ethnozentrierten Positionen notwendig und als Argumentationslinien dagegen wirksam ist.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.05.2010 zu: Yaşar Aydin: Topoi des Fremden. Zur Analyse und Kritik einer sozialen Konstruktion. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2009. ISBN 978-3-86764-222-4. Reihe: Theorie und Methode - Sozialwissenschaften. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9126.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.


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