Martina Falk, Dorothea Muthesius et al.: Musik - Demenz - Begegnung
Rezensiert von Gisela Stoll, 24.08.2010

Martina Falk, Dorothea Muthesius, Jan Sonntag, Britta Warme: Musik - Demenz - Begegnung. Musiktherapie für Menschen mit Demenz.
Mabuse-Verlag GmbH
(Frankfurt am Main) 2010.
344 Seiten.
ISBN 978-3-940529-55-8.
36,90 EUR.
+ DVD-Video .
Thema
Der Buchtitel zeigt schon den Weg auf. Musiktherapie ist Interaktion mit allen Sinnen. Musik kann helfen, Gefühle zu kanalisieren und auszudrücken. Für Menschen mit Demenz ist sie von existentieller Bedeutung; denn sie besitzt die Kraft, deren zerfallenes Selbstbild für einen gewissen Zeitraum quasi wieder zusammenzusetzen. Musiktherapeuten bemühen sich um die unversehrten Anteile der alten Menschen und beleben diese.
Dieses Buch will aber nicht nur aufzeigen, wie wichtig und hilfreich Musiktherapie für alte Menschen ist; es stellt auch nicht zum wiederholten Male wohlbekannte Liedertexte, Noten und Gitarrengriffe zur Verfügung. Es geht tiefer auf das Thema ein und wagt dabei auch kritische und ketzerische Anmerkungen.
So geben die Autoren dem Leser z.B. folgende Frage mit auf den Weg: „Wessen Interessen vertrete ich in meinem beruflichen Handeln?“ Sie plädieren dafür, sich von festen Vorstellungen zu verabschieden, wie Therapie zu organisieren ist; stattdessen sprechen sie sich für eine Rückbesinnung auf das Wie des therapeutischen Handelns aus.
Autorinnen und Autor
- Dorothea Muthesius ist Musiktherapeutinund promovierte Soziologin, arbeitet mit Menschen mit Demenz in der Gerontopsychiatrie, in Wohngemeinschaften, in Pflegeheimen und in der häuslichen Betreuung.
- Jan Sonntag ist
Diplom-Musiktherapeut und Heilpraktiker für Psychotherapie und
arbeitet seit 1999 schwerpunktmäßig mit Menschen mit
Demenz.
Britta Warme ist Musikwissenschaftlerin, Sozialarbeiterin und Diplom-Musiktherapeutin, arbeitet seit 2002 schwerpunktmäßig mit Senioren mit und ohne Demenz. - Martina Falk ist Diplom-Musiktherapeutin und arbeitet seit 2004 in einem stationären Wohnbereich für Menschen mit Demenz.
Die langjährige Berufserfahrung der Autorinnen und des Autors wird in zahlreichen Praxisbeispielen deutlich, die das Buch von Anfang bis zum Ende durchziehen. Dabei ist es ein Anliegen der Autoren, den Blickwinkel auf das Phänomen Demenz zu erweitern.
Aufbau und Inhalt
In diesem Buch werden grundlegende Fragen behandelt, z.B. nach den neuronalen Grundlagen der Musikwahrnehmung oder nach musiktherapeutischen Konzepten.
Kapitel 1 behandelt neurologische, psychologische, soziologische, medizinische und pflegerische Modelle, aber auch wichtige Aspekte aktueller Einflüsse auf die Befindlichkeit dementer Menschen.
In Kapitel 2 und 3 geht es um
die musiktherapeutische Praxis. Dabei werden unterschiedliche
Praxisfelder, von der Klinik und dem Heim bis zur ambulant betreuten
Wohngemeinschaft und der Privatwohnung beleuchtet.
Auf
der beiliegenden DVD werden typische musiktherapeutische
Situationen gezeigt und beispielhaft zwei von insgesamt 18 Szenen
analysiert. Als Instrument dient dabei die “Einschätzungsskala
der Beziehungsqualität“ (EBQ). Diese wurde von Schumacher
und Calvet entwickelt für die musiktherapeutische und
entwicklungspsychologische Tätigkeit mit Kindern mit
Entwicklungsstörungen. Diese musiktherapeutischen
Interventionen werden in Kapitel 3 ausführlich besprochen, vor
allem im Hinblick auf Kontakt- und Beziehungsfähigkeit von
Menschen mit Demenz und ihren Therapeuten.
Kapitel 4 befasst sich mit den äußeren Bezugspunkten eines therapeutischen Angebots, zu denen zeitliche und räumliche Faktoren sowie soziale Bedingungen, z.B. Gruppengröße gehören. Die Gestaltung dieses „Settings“ ist abhängig von der Klientel, von den institutionellen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt von der therapeutischen Methode.
Kapitel 5 beschreibt
Versorgungskontexte und Zielrichtungen musiktherapeutischer Angebote.
So müssen sich Musiktherapeuten in geriatrischen Kliniken
auf kurzfristige Begegnungen einstellen. Oft stehen körperliche
Krisen im Vordergrund, und der Patient erwartet eher
trainingsorientierte Methoden, um mit seiner Krankheit und deren
Symptomen besser umgehen zu können.
Im Gegensatz
dazu leistet ein Musiktherapeut in einer Langzeiteinrichtung, einem
Pflegeheim oder einer Wohngemeinschaft eher Basisarbeit. Er ist dafür
zuständig, Orte der Angstfreiheit, Vertrautheit und Begegnung
und – wenn irgend möglich – Konfliktarmut zu
schaffen. Musiktherapeuten müssen in solchen Einrichtungen
äußerst flexibel reagieren, was die Gruppenzusammensetzung
betrifft und damit auch die anvisierten Ziele dieser
Gruppenmitglieder.
In einer ambulanten Einrichtung, z.B.
einer Tagesstätte bringt jeder Besucher ganz andere Bedürfnisse
und Konflikte mit. Gemeinsame Interessen gibt es selten. Die
Gruppengröße variiert von Tag zu Tag, da nicht alle
Besucher täglich kommen. Auch hier ist ein hohes Maß an
Flexibilität und Spontanität gefragt.
Kapitel 6 ist überschrieben:
„Sich selbst nicht aus den Augen verlieren: Zur
professionellen Selbstpflege“. Bei der Begleitung von Menschen
mit Demenz müssen jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment
Konfliktsituationen vorausgeahnt, umschifft oder abgefedert werden.
Dazu bedarf es einer guten Portion Einfühlungsvermögen.
Außerdem müssen persönliche Zurückweisungen und
die Tragik des Alltags verarbeitet werden, und dabei sollten das
nötige Verständnis und eine gute Portion Humor nicht auf
der Strecke bleiben. Um diesen Balanceakt immer wieder zu meistern,
bedarf es regelmäßiger Reflexion.
Im
Folgenden geht es um Konfliktherde im Arbeitsalltag und um
Möglichkeiten der professionellen Fürsorge für sich
selbst, z.B. innerhalb der Teamarbeit, Supervision und Fortbildung,
und zuletzt noch um den schwierigen Spagat zwischen Nähe und
Distanz.
Kapitel 7 beschreibt die Begegnung mit einer Heimbewohnerin, deren unruhiges Umherlaufen vom Therapeuten genutzt wurde, um mit ihr gemeinsam regelmäßige Rundgänge und „musikalische Führungen“ durch das Haus zu veranstalten. Sie knüpften dabei immer neue Kontakte zu anderen Heimbewohnern und sangen mit ihnen gemeinsam das eine oder andere vertraute Lied. Als Parallele dazu hat der Autor das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten passagenweise in die Geschichte mit eingeflochten. „…Geh mit uns nach Bremen, du verstehst dich doch auch auf die Nachtmusik, da kannst du Stadtmusikant werden…“
Zielgruppe
Laien und Fachleute, die Musik machen mit alten Menschen.
Fazit
Ein Buch für alle, die sich eingehender mit dem Thema Musiktherapie für Menschen mit Demenz befassen wollen, mit Fragen aus der Theorie und der täglichen Praxis. Ein kritisches Buch, das auffordert, immer wieder über die eigene Arbeit und Motivation nachzudenken, das aber auch Mut macht und eine Menge Anregungen gibt.
Rezension von
Gisela Stoll
Fachkrankenschwester für Psychiatrie, Validationsanwenderin (VTI)
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