Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 31.05.2010
Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 210 Seiten. ISBN 978-3-531-16183-9. 16,95 EUR.
Autor und Thema
Prof. Dr. phil. habil. Karl August Chassé lehrt und forscht am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Jena. Bezüglich seiner Motivation, sich mit dem (neuen) Klassen- und Schichtbegriff zu beschäftigen, führt er eingangs an, dass in den Medien, in der Politik und auch in der Bevölkerung seit einiger Zeiten wieder vermehrt von „Unterschichten“ und „Klassen“ die Rede ist. Eine Umstand, den Chassé vor allem auch auf das gestiegene Bedürfnis - insbesondere einer vom beruflichen und damit ökonomischen Abstieg zunehmend bedrohten und deshalb entsprechend „verängstigten“ Mittelschicht (vgl. z. B. Ulrike Herrmann (2010): Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. Frankfurt/Main) - nach einer „neuen Abgrenzung nach unten“ zurückführt.
Er hat sich mit dem vorliegenden Band deshalb vorgenommen, einen genaueren Blick auf die mit diesen neuen Distinktionsbedürfnissen und Semantiken verbundenen Entwicklungen zu werfen: Gibt es überhaupt die so genannte „neue Unterschichten“, wer ist damit gemeint, trifft das Bild zu, das von diesen Menschen in Politik und Medien gezeichnet wird und welche wissenschaftlichen, politischen und medialen Konstruktionen verbergen sich - auch in historischer Perspektive - hinter der Unterschichtendebatte?
Aufbau
Der Band ist - außer der Einführung - in drei Teile gegliedert:
- Teil I („Die Moralisierung sozialer Ungleichheit - Konstruktionen der Unterschicht“) widmet sich im Unterkapitel I. 1 der Berichterstattung zur Unterschicht in den Medien und der Politik. In Teil I. 2 geht Chassé auf die wirkungsmächtigen Beiträge des konservativen Berliner Historikers Paul Nolte zum Thema Unterschicht ein, der ab 2004/05 als ein „Vordenker“ die wissenschaftliche Begründung der Unterschichtendebatte in Deutschland vorantrieb. Teil I 3. beschäftigt sich mit der im Jahre 2006 von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichten Untersuchung „Gesellschaft im Reformprozess“, deren Präsentation (hier vor allem die Diagnose, dass 8% der Bevölkerung Deutschlands als „abgehängtes Prekariat“ zu bezeichnen seien) damals erheblichen politischen und medialen Wirbel erzeugte. Teil I 4. schließlich handelt von der quantitativen Entwicklung von Deklassierung, Exklusion und Prekarität in (Ost-)Deutschland.
- Teil II („Zur Theorie und Empirie der Unterschichten in Deutschland“) befasst sich in den Teilen 1 und 2 mit dem „Wandel der Arbeitsgesellschaft“ (der sich, in Anlehnung an Robert Castel, insbesondere in der fortschreitenden Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen zeige) und der „Entwicklung der Kinderarmut“ als bedeutenden Indikatoren insgesamt veränderter Lebenslagen in Deutschland. In Teil II. 4 entwickelt Chassé den weiteren theoretischen Rahmen der Unterschichtendebatte (Karl Marx, Max Weber, die Feldtheorie Pierre Bourdieus (Abschnitt 5)), stellt verschiedene milieutheoretische Ansätze im Allgemeinen (Abschnitt 6) sowie Michael Vesters relationale Milieutheorie im Besonderen dar (Abschnitt 7). Teil II. 8 („Die underclass Debatte und die aktuellen Verschiebungen der Diskussion um Ungleichheit und Unterschicht“) skizziert die Entwicklung der nationalen wie internationalen Theoriediskussion, für die Chassé im Zeitablauf eine bedeutende Diskursverschiebung konstatiert, „bei der umverteilende und auf Chancengleichheit zielende Ansätze zunehmend von zwei anderen Ansätzen in den Hintergrund gedrängt wurden, nämlich einerseits einem auf Integration durch Arbeit (gleich welcher Art) setzenden, und andererseits einem von der underclass-Debatte gespeisten Ansatz, der stärker auf die Beeinflussung der Lebensführung zielt.“ (S. 165).
- In Teil III („Neue Regulationen? Die Unterschichtendebatte im aktuellen Blick“) befasst sich Chassé mit der Einordnung der Unterschichtendebatte in einen politisch neu etablierten gesamtgesellschaftlichen Hegemonieanspruch und den ihm entsprechenden Theorien „hegemonialer Regulation“ (Antonio Gramsci, Michel Foucault): „Hier geht es also darum einzuschätzen, wie sehr die neuen Anforderungen der Selbstverantwortung Kämpfe um die Führung und die Leitbilder der neuen gesellschaftlichen Entwicklung sind.“ (S. 173). Damit sei zugleich die Frage zu beantworten, wie eine derart veränderte Anspruchshaltung „das Soziale“ insgesamt und damit auch die Sozialpolitik, den Sozialstaat, das Sozialrecht und schließlich auch Ziele, Inhalte und professionelle Strategien der Sozialen Arbeit prägen?
Inhalte
Paul Nolte lieferte in seinen Streitschriften „Generation Reform“ (2004) und „Riskante Moderne“ (2006) die wissenschaftliche Blaupause der neuen Unterschichtendebatte. Deren „kulturelle Verelendung“ sei letztlich sozialstaatlich begründet, weil der Sozialstaat ihnen durch seine „fürsorgliche Belagerung“ die nötige „Eigeninitiative und Selbstverantwortung“ und damit die bürgerliche „Tugenden und Werte“ insgesamt quasi „aberzogen“ hätte. Moderne Familienstrukturen führten bei dieser Klientel deshalb mehr oder weniger zwangsläufig zu „Erziehungskatastrophen, weil „elementare Kompetenzen der Lebensführung“ nicht mehr unterstellt werden könnten. Zugleich sei der „Unterschicht“ der „Wille zur Veränderung“ ihrer individuellen Lebenslage abhanden gekommen. Dieses mache sie schließlich zu „Modernisierungsverweigerern“ (soll man sagen: eigentlich „Nicht-Bürgern“?). Eine Einschätzung, die wie Chassé es anhand vieler einschlägiger (Bild-)Beispiele zeigt, von Presse, Funk und Fernsehen in der Folge - in teils moralisch-pädagogisch belehrender, teils auch „unterhaltender“ Absicht - dankbar aufgenommen und zum Thema gemacht, d. h. medial mitkonstruiert und mitinszeniert wurde und wird. Seitdem bevölkern sozialpädagogisch vorgebildete „Supernannys“ und professionelle Schuldnerberater als praktische „Lebenshelfer“ das Abendprogramm einschlägiger Fernsehsender.
Chassé konstatiert, dass Nolte damit neoliberale Leitbilder der Selbstverantwortung und des Wettbewerbs unter dem Label einer neu herzustellenden „bürgerlichen Mündigkeit und Verantwortung“ propagiert und (intellektuell) gesellschaftsfähig macht. Auf diese Weise solle – auch im Gewand einer christlich fundierten konservativen Erneuerung - eine „reflektierte Modernisierung“ forciert werden: „Das Infame an Paul Nolte ist, dass er durchaus linke, alternative bzw. kritische Begriffe (Klassen, Schichten, das neue Modell Deutschland, Bürgergesellschaft, soziale Gerechtigkeit) aufgreift, sie aber mit einem konservativen Inhalt füllt und zu einer neuen, neoliberal-konservativen Klassentheorie umbaut. Die Moralisierung sozialer Spannungslinien und Ungleichheiten wird von ihm mit dem Muster der Kulturalisierung sozialer Probleme und der Zurechnung mentaler Erstarrung betrieben. Die Betroffenen haben sich selbst außerhalb des Konsenses der Gesellschaft gestellt, sie werden daher nicht als Akteure, sondern als Objekte von Politik und - damit verbunden - von Pädagogik konstruiert.“ (S. 43). Dieser Argumentationsstrang lässt sich bis in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen: „Der moralische Blick auf die Underdogs des 19. Jahrhunderts rechtfertigte nicht nur die Ablehnung der Armengesetzgebung. Er trug auch zur sozialen Disziplinierung der sich formierenden Lohnarbeit bei, indem die Verinnerlichung und Durchsetzung der protestantischen Ethik von Arbeitsmoral und Arbeitstugenden eine Abgrenzungsfolie erhielt, die sich vor allem auf das moralische Fehlverhalten - die Disziplinlosigkeit und die sexuelle Freizügigkeit – bezog.“ (S. 8 f.).
Diese „Moralisisierung sozialer Ungleichheit von oben nach unten“ (S. 102) habe nach Chassé inzwischen in ganz ähnlicher Form auch wieder Einzug in das aktuelle Alltagsbewusstsein gehalten und werde von den betroffenen Gruppen jedenfalls zum Teil selbstzuschreibend übernommen: „Eine entscheidende Grundlage der Gewinner-Verlierer-Semantik ist die Idee der Eigenverantwortung, die verabsolutiert wird. Es handelt sich dabei um einen neuen Fundamentalismus, der keine sozialen Umstände (Lebenslagen, -biografien, ungleiche Verteilung von Gütern und Lebenschancen usw.) gelten lässt. Einmal rechtfertigt es, Benachteiligte ihrem Schicksal zu überlassen. Das verbindet sich mit ihrer Abwertung und auch mit der Neigung, sie moralisch abzustrafen.“ (S. 103).
Chassé weist darauf hin, dass diese Sicht sehr folgenreich ist, weil die jeweilige Perspektive auf soziale Ungleichheit den konkreten Effekt hat, Zugangsmöglichkeiten von Gruppen oder Akteuren zu materiellen, kulturellen und sozialen Gütern zu öffnen oder auch zu verschließen. Es mache dabei einen großen Unterschied, ob Armut mit Klassifikationen verbunden werde, die Solidarität mobilisieren oder mit solchen, die zu Diffamierungen veranlassen: Im einen Falle zeige man das Elend von Verhältnissen auf, im anderen werden Arme als „faul“ beschrieben. Chassé unterscheidet vor diesem Hintergrund drei Formen der Deutung von sozialem Ausschluss, die sich in den Klassifikationen der Merkmale und in der Benennung dessen differenzieren, was als der zentrale Mangel der Ausgeschlossenen angesehen wird (S. 104 f.): 1) der Ansatz, der soziale Exklusion vor allem als Effekt sozialer Ungleichheit deutet. Der Mangel der Exkludierten besteht dann darin, dass ihnen materielle und symbolische Ressourcen („Bürgerstatus“) vorenthalten werden („Sie haben kein Geld“); 2) der Ansatz, der unterstellt, dass es den Ausgeschlossenen primär an bezahlter Arbeit und den hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten mangelt. Weil die fehlenden Fähigkeiten die Ursache sind, muss – durch Fördern und Fordern - der aktivierender Staat entsprechend eingreifen („Sie haben keine (bezahlte) Arbeit“); 3) der dritte Ansatz schließlich hebt auf die erwähnten (mangelnden) persönlichen „Werte und Verhaltensweisen“ der Ausgeschlossenen ab, die sie aufgrund ihrer „Abhängigkeit von wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsleistungen“ erworben haben („Sie haben keine Moral, keine Kultur und die falsche Lebensweise“): „Dies ist die Kategorie der Unterschicht.“ (S. 104).
Von der skizzierten „Reformulierung der Sozialen“ bleibt auch die Soziale Arbeit nicht unberührt, im Gegenteil: „Selbstverständlich ist die Soziale Arbeit in die innere Widersprüchlichkeit der wohlfahrtsstaatlichen Regulation einbezogen. Sie ist auf vielen Ebenen mit den neuen Formen sozialstaatlicher Führung befasst.“ (S. 195). Das Verständnis von Sozialer Arbeit, das sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat, gründete nach Chassé auf Konzepten der Wahrnehmung und Bearbeitung von sozialer Ungleichheit und sozialen Problemen in benachteiligten Lebenslagen, die zugleich an Prämissen wie „Sozialer Gerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ ausgerichtet waren: „Anders gesagt, hatte sich in der Nachkriegszeit gesellschaftlich und wissenschaftlich eine Perspektive durchgesetzt, die man als solidarische Regulierung des Sozialen bezeichnen kann.“ (S. 195).
Dieses Modell bzw. Programm stehe mit der vor allem ökonomisch begründeten Notwendigkeit eines „Umbaus des Sozialstaates und der sozialen Sicherungssysteme“ unter einem verschärften Rechtfertigungsdruck. Praktisch zeige sich diese Veränderung im sukzessiven „Rückzug“ des Staates und der komplementären Betonung der privaten Vorsorge des Individuums: „Generell wird private Vorsorge zum Programm erhoben, und damit ist eine Verlagerung der Risiken auf die Einzelnen verbunden. Entscheidend ist aber die Neuausrichtung auf Selbstverantwortung innerhalb des Gemeinwohls.“ (S. 196). Diesem Programm hat sich auch die Soziale Arbeit zu akkommodieren. Einerseits ist damit der (Quasi-)Wettbewerb um knapper werdende öffentliche Mittel auf Seiten der Trägern und Einrichtungen eröffnet. Andererseits zeichnen sich in einigen Feldern – z. B in der Grundsicherung für Arbeitsuchende im SGB II, die hier eine gewisse Vorreiterrolle einnimmt - Tendenzen einer repressiven Re-Pädagogisierung innerhalb der Profession der Sozialen Arbeit insgesamt ab, die wiederum anschlussfähig an Noltes Defizitanalyse der „neuen Unterschichten“ ist.
Bewertung und Fazit
Die Rede vom „anstrengungslosen Wohlstand“ und der „spätrömischen Dekadenz“ knüpft hier semantisch an. Sie kennzeichnet die Debatte um den zukünftigen Umgang des Sozialstaates mit seinen Armen und Überflüssigen - seiner „Unterschicht“. Karl August Chassé liefert mit seinem Band eine fundierte Analyse der theoretischen Grundlagen des Unterschichtendiskurses. Er versteht es zugleich, diese Theorienlinien mit den politischen Strategien und medialen Darstellungsweisen der praktischen Umsetzung innerhalb des neuen Sozialstaatsmodells zu verknüpfen. Der Zugang und das Verständnis insbesondere zu den theoretisch anspruchsvollen Teilen der Arbeit wird dabei durch den zielgenauen Einsatz von Originalquellen erleichtert und unterstützt. Hilfreich für die Erschließung der Materie ist auch der formale Aufbau: jedes Kapitel endet mit Fragen und ausgewählter Literatur zur Vertiefung ab, was das Werk insgesamt - nicht nur als Lehr- und Lernbuch für Studierende - uneingeschränkt empfehlenswert macht.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website
Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.
Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 31.05.2010 zu:
Karl August Chasse: Unterschichten in Deutschland. Materialien zu einer kritischen Debatte. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
ISBN 978-3-531-16183-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9174.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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