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Stephan Maykus (Hrsg.): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe

Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 01.09.2010

Cover Stephan  Maykus (Hrsg.): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe ISBN 978-3-531-16813-5

Stephan Maykus (Hrsg.): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe. Theorie, Beispiele und Entwicklungsoptionen eines Forschungsfeldes. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 2., durchges. Auflage. 237 Seiten. ISBN 978-3-531-16813-5. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 51,00 sFr.

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Anliegen und Fragestellung

Angesichts tiefgreifender Veränderungen und wachsender Herausforderungen in der Kinder- und Jugendhilfe kommt der Evaluation und wissenschaftlichen Begleitung der erzieherischen Hilfen eine besondere Bedeutung zu. Praxisforschung ist dabei ein geeignetes Instrument, die vorfindbare Praxis zu überprüfen und wissenschaftliche Befunde für die Gestaltung eines gelingenden Betreuungsalltags zu nutzen.

Der vorliegende Band geht in seinen insgesamt 15 Beiträgen daher vor allem zwei Fragen nach: „Welche neuen Fragestellungen und Erwartungen, zugeschriebene Ziele und Funktionen ergeben sich für die Praxis im Kontext einer sich ändernden Praxis der Kinder- und Jugendhilfe? Welchen aktiven Beitrag leistet andererseits Praxisforschung in der Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe?“ (9) Der Band ist entstanden in der Kooperation von vier sozialpädagogischen Instituten, aus deren Forschungspraxis sich die einzelnen Beiträge speisen.

Aufbau und Inhalt

Der vorliegende Sammelband ist in fünf Abschnitte gegliedert.

Der erste, mit dem Titel „Grundlagen“ überschriebene Abschnitt, nimmt mit seinen Beiträgen eine theoretische wie auch sozial- und jugendpolitische Rahmung des Themas vor.
Rolf Lambach konturiert in seinem Beitrag „Was ist Praxisforschung?“ das spezifische Profil dieses Forschungsansatzes. „Dabei soll nicht das Ziel verfolgt werden, ein eindeutiges und für diesen Band als erkenntnisleitend definiertes Verständnis von Praxisforschung zugrunde zu legen“ (10), wie der Herausgeber ausdrücklich betont. Gemeinsam ist den Beiträgen des Bandes jedoch das Verständnis, Praxisforschung sei ein Forschungszugang, der auf Anwendung und praktische Umsetzung ausgerichtet ist und die Reflexionsmöglichkeiten der Praxis verbessern soll.
Der Artikel „ Aktuelle Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe: Standortbestimmungen und Ausblicke“ (Christian Schrapper) skizziert dazu ergänzend künftige Entwicklungstendenzen in der Kinder- und Jugendhilfe und die daraus erwachsenden neuen (anderen) Herausforderungen.

Der zweite Abschnitt „Perspektiven auf Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe“ umfasst fünf Artikel, die Praxisforschung und ihre Bedeutung aus unterschiedlichen Blickwinkeln kommentieren.
Reinhard Wiesner tut dies aus rechtlicher Perspektive, betont die Funktion von Praxisforschung als „Gesetzesfolgenabschätzung“ und verweist auf eine Reihe bundesweiter Praxisforschungsprojekte in diesem Kontext, „sei es, um dieser Praxis selbst den Spiegel vorzuhalten und Anstöße zur Weiterentwicklung zu geben, sei es aber auch, um Konsequenzen auf gesetzgeberischer Ebene zu ziehen, wenn eine „retrospektive Gesetzesfolgenabschätzung“ Anlass dazu gibt.“ (59) Er fährt fort: „Gerade in den letzten Jahren, in denen sich die Diskussion zunehmend auf die Frage finanzieller Folgewirkungen für die kommunale Ebene verengt, erscheint es umso notwendiger, die kinder- und jugendpolitischen Konsequenzen dieser Diskussion aufzuzeigen.“ (ebd.)
Ihre jugendpolitische Relevanz leitet Klaus Schäfer in seinem Beitrag aus der 30jährigen Geschichte der Praxisforschung ab. Er stellt ihre Impulse für und seit Einführung des KJHG heraus und sieht aktuell ihre Bedeutung vorrangig darin, Veränderungen der Lebenslagen und – welten der Kinder- und Jugendlichen frühzeitig zu dokumentieren und in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe auch der Politik gegenüber immer wieder neu zu belegen.
Aus der Sicht der Wissenschaft diskutiert Franz Hamburger das Verhältnis von Praxisforschung zur Grundlagenforschung. Diese sind aus seiner Sicht zwar hinsichtlich ihres jeweiligen Verhältnisses von Theorie und Praxis unterschiedlich strukturiert, stellen dennoch aber keinen Gegensatz, sondern eher einander ergänzende Perspektiven dar.
Hans-Ullrich Krause kommentiert die Bedeutung der Praxisforschung aus der Sicht freier Träger. Unter dem Leitsatz „Forschende Praxis – erfolgreiche Praxis“ (81) stellt er besonders den Beitrag der Praxisforschung im Zusammenhang mit Qualitätsentwicklungsprozessen heraus und plädiert für sog. Forschungspartnerschaften zwischen freien und öffentlichen Trägern einerseits und Forschungseinrichtungen andererseits.
Wolfgang Trede schließlich repräsentiert die Perspektive öffentlicher Träger. Ausgangspunkt für ihn sind die Steuerungserfordernisse öffentlicher Trägerschaft. Anhand zweier Forschungsprojekte, der Regionalisierung erzieherischer Hilfen und des Bundesprojektes „Wirkungsorientierte Jugendhilfe“ präzisiert er die Beiträge der Praxisforschung und formuliert abschließend seine Erwartungen an sie: „Sie soll helfen, im Dschungel vermeintlich unsteuerbarer Prozesse Schneisen fachlich erfolgreichen Handelns zu finden.“ (97)

Der dritte Abschnitt „Methoden und Spannungsfelder von Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe“ behandelt in vier Beiträgen vorrangig methodologische Aspekte.
Dominique Moisl („Methodenanwendung in der Praxisforschung: Besonderheiten und Entwicklungsbedarf“) arbeitet überzeugend heraus, dass Praxisforschung zwar auf den gesamten Kanon empirischer Instrumente sozialwissenschaftlicher Grundlagenforschung zurückgreift, diese jedoch in verändertem Kontext einsetzt: zeitliche Begrenzungen, knappe Budgets, das Problemlösungsinteresse des Auftraggebers und die damit verbundene notwendige Akzeptanz von Ergebnissen und Methoden machen die Angemessenheit der verwendeten Methoden im zu untersuchenden Feld zu einem beherrschenden Schlüsselproblem. Die vor diesem Hintergrund entwickelten Studien sind daher überwiegend konzeptionelle Eigenentwicklungen, die methodische Unzulänglichkeiten in Kauf nehmen (müssen). Moisl hält dieses Problem für nicht vollständig lösbar, verweist aber auf verschiedene ethische Forschungsstandards, hinter die auch eine praxisorientierte Forschung nicht zurückgehen dürfe.
Ähnlich argumentiert Dirk Nuisken in seinem Beitrag „Spannungsfelder der Praxisforschung“. Er geht der Frage nach „Welchen Herausforderungen müssen sich Projekte, die eine für analysierende Forschung stets notwendige Distanz zur Praxis mit dem Engagement für die Veränderung der Praxis zusammenbringen wollen, stellen und welche Wege, hier eine „produktive Balance“ (…) zu erzielen, lassen sich aufzeigen?“. (111) Zur Beantwortung analysiert Nuisken die Referenzsysteme der Praxisforschung zwischen Praxis, Forschung und Politik/Verwaltung und deutet geeignete Strategien einer Balance an.
Eine gänzlich andere Frage diskutieren Günther Koch und Jörg Fertsch-Röver („Multiperspektivität als methodische Antwort auf die Komplexität Sozialer Arbeit?“). Im Kern ihres Beitrages untersuchen sie, welche methodologischen Implikationen mit der Forderung verbunden sind, „bei der Untersuchung von Struktur- und Qualitätsmerkmalen einer Hilfeform die jeweilige Perspektive der daran Beteiligten einzuholen.“ (126) Sie differenzieren die Bedeutung der Koproduktion für die Qualität und den Erfolg der Hilfen und leiten daraus überzeugend eine (begrenzte) Aussagekraft einer solchen Multiperspektivität ab. Ihre Schlussfolgerung: „Multiperspektivität…(ist) nicht als generelle methodische Antwort auf die Komplexität sozialer Arbeit zu verstehen. Sie ist vielmehr ein für bestimmte, forschungslogische Zwecke sinnvolles Vorgehen. Da diese Zwecke…sowohl methodisch als auch inhaltlich auf ganz unterschiedlichen Ebenen liegen können, erscheint es uns sinnvoll, sie als solche innerhalb eines Untersuchungsdesigns kenntlich bzw. transparent zu machen.“ (134)
Unter dem Titel „Praxisforschung zwischen Erkenntnisgewinn und praktischer Nützlichkeit: Transfer und Transformation als integrale Bestandteile einer „widersprüchlichen Einheit““ schließlich zeichnet Heinz Müller die komplexen Prozesse einer gelingenden „Übersetzung“ von Forschungsbefunden in die soziale Praxis nach. Anschaulich arbeitet er mögliche „Übersetzungsprobleme“ heraus und entwickelt überzeugende strukturelle und methodische Strategien zu deren Überwindung: „Die Transformation von Praxisforschungsergebnissen in Praxisentwicklungsprozesse stellt einen eigenständigen Handlungsansatz dar, der im Rahmen der Auftragsklärung ebenso zu verhandeln ist, wie die Wahl der dazu erforderlichen Methoden, Verfahrensschritte und zu beteiligenden Akteure.“(149)

Der Abschnitt „Beispiele aus der institutionellen Forschungspraxis in der Kinder- und Jugendhilfe“ enthält neben einem etwas überkomplexen „Versuch einer Typologie“ der Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe von Stephan Maykus gewissermaßen den „Werbeblock“ des vorliegenden Bandes. Auf jeweils zehn Seiten werden die vier beteiligten Institute in einem Kurzporträt vorgestellt, ihre Forschungsschwerpunkte sowie aktuelle Praxisforschungsprojekte erläutert.

Der Band schließt mit dem Abschnitt „Profilbestimmung und Entwicklungsoptionen von Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe“. Hier stellt Thomas Gabriel internationale Bezüge her und verweist auf unterschiedliche Wissenschaftstraditionen und Methodendiskurse im Ausland. Am Beispiel evidenzbasierter Modelle und dem aktuellen Diskurs über Wirkungsorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe macht er deutlich, wie sinnvoll hier ein „Blick über den Tellerrand“ ist.

Stephan Maykus als Herausgeber fasst abschließend die „Entwicklungserfordernisse und – optionen“ zusammen. Aus seiner Sicht hat sich Praxisforschung als Instrument der Weiterentwicklung von Praxis bewährt und etabliert, dies ungeachtet der Tatsache, dass sich hinter diesem Begriff eine Vielzahl von Perspektiven, methodischen Zugängen und Konnotationen verbirgt und das Spannungsverhältnis von Forschung und Praxis nicht aufgehoben ist. Kritisch vermerkt er dabei: „Praxisforschung wird gegenwärtig tendenziell „ent-kontextualisiert“ und läuft Gefahr, in einer Pauschalfunktion von „Reflexion und Evaluation“ marktgerechte Anpassungen als Leitprinzip zu erklären…“ (229). Notwendige Aspekte einer Weiterentwicklung der Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe sieht er u.a. in

  • einer disziplinären Vergewisserung und Verortung durch stärkeren Bezug auf Begriffe und Diskurse der Sozialpädagogik,
  • einer stärkeren Präzisierung ihrer Funktion für die Kinder- und Jugendhilfe
  • einer Qualifizierung, Sicherung und Transparenz methodischer Grundlagen
  • einer stärkeren theoretischen Fundierung von Praxisforschung.

Fazit

Der vorliegende Band versammelt eine Vielzahl unterschiedlicher Analysen und Befunde zur Praxisforschung allgemein und deren Einsatz in der Kinder- und Jugendhilfe im Besonderen. Die einzelnen Beiträge machen die Vielfalt der methodologischen Zugänge, Variationen des eigenen Selbstverständnisses und die vielfältigen Funktionen von Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe deutlich. In ihrer Gesamtschau leisten die Ausführungen der AutorInnen einen wichtigen Beitrag zur Positionsbestimmung, Profilierung und Weiterentwicklung einer auf sozialpädagogische Fragestellungen ausgerichteten Praxisforschung.

Der vorliegende Band ist keine praktische, methodische Anleitung für Leserinnen und Leser, die eigene Praxisforschungsprojekte entwickeln und umsetzen wollen, dazu sind die Ausführungen mehrheitlich zu wenig konkret und können hier allenfalls eine erste Orientierung für Studierende sein.

Von einer Lektüre am meisten profitieren werden dagegen wohl PraktikerInnen und potentielle Auftraggeber, die sich ein erstes Bild von der Leistungsfähigkeit und Arbeitsweise von Praxisforschung machen wollen; sie allerdings werden die methodologisch ausgerichteten Beiträge wohl eher überblättern. So bleibt am Ende der Lektüre eine Einschätzung darüber, an wen sich der Band nun eigentlich wendet, weitgehend indifferent. Vielleicht ist das Buch ja tatsächlich in erster Linie ein Werbemedium für die beteiligten Institute und ihre Arbeit. Das wäre ja auch in Ordnung, wenn dies denn von vornherein klar wäre.

Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 01.09.2010 zu: Stephan Maykus (Hrsg.): Praxisforschung in der Kinder- und Jugendhilfe. Theorie, Beispiele und Entwicklungsoptionen eines Forschungsfeldes. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 2., durchges. Auflage. ISBN 978-3-531-16813-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9184.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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