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Jean-Claude Kaufmann: Wenn ICH ein anderer ist

Rezensiert von Prof. Dr. Joachim Thönnessen, 28.07.2010

Cover Jean-Claude Kaufmann: Wenn ICH ein anderer ist ISBN 978-3-86764-207-1

Jean-Claude Kaufmann: Wenn ICH ein anderer ist. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2010. 239 Seiten. ISBN 978-3-86764-207-1. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 44,00 sFr.
Reihe: Einzeltitel Soziologie.

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Thema

Jean-Claude Kaufmann begibt sich in diesem Buch auf eine Reise in die „feinsten Schichten“ (S. 11) der Subjektivität. Er versucht, zu verstehen, warum und wie wir uns verändern. Der Fokus ist dabei auf den sehr präzisen Moment der Identitätswende und der biografischen Veränderung gerichtet (S. 10).

Autor

Jean-Claude Kaufmann (* 12. April 1948 in Rennes) ist ein französischer Soziologe, der am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) arbeitet. Er „kümmert“ sich in seiner Forschung um die ganz alltäglichen Dinge – um Dinge also, die wir vor lauter Alltäglichkeit kaum wahrnehmen geschweige denn (zu) hinterfragen (wagen): Schmutzige Wäsche, der Morgen danach (nach der ersten Liebesnacht), Singlefrauen, Ärger in der Paarbeziehung, die kochende Leidenschaft sind Beispiele für diese Ausrichtung.

Die Bearbeitung dieser Themen klingt einfach, ist es aber insbesondere dann nicht, wenn man – wie J.-C. Kaufmann – nicht nur Erfolg beim Publikum, sondern auch Anerkennung in der „großen“ Wissenschaft erzielen möchte. Kaufmann ist in der glücklichen Lage, beides zu bekommen. Seine Bücher werden international gelesen und er ist ein weltweit anerkannter Soziologe.

Entstehungshintergrund

Dieses Werk ist Teil eines Gesamtprojektes von Kaufmann. Ursprünglich – so der Verfasser (S. 11) – träumte er von einer neuen Art der Produktion von Theorie. Diese bestand darin, „von Kontexten auszugehen, um Interpretationsmodelle zu erarbeiten, die ständig mit den Fakten konfrontiert werden, statt allein mit Hilfe des zirkulären Bezugs auf Bücher“ (ebd.). In dem Maße, wie er auf diesem Wege voranschritt, stellte sich ihm der Reichtum der empirischen Daten paradoxerweise an einem bestimmten Punkt als Hindernis entgegen. Seine Reaktion auf diese Erkenntnis war, fortan „ein und dasselbe Material auf unterschiedliche Weise immer wieder neu zu bearbeiten“ (ebd.). So entstand das aktuelle – theoretische – Buch, welches auf zwei Befragungen zurückgeht: „Der Morgen danach“ (vgl. die Rezension) und „Was sich liebt, das nervt sich“ (vgl. die Rezension).

Aufbau

Das Buch besteht aus neun Kapiteln aufgeteilt in drei Teile, einigen Seiten zur ´Einleitung´, zum ´Schluss´ und als Anhang zur Methode sowie einem lesenswerten Literaturverzeichnis (lesenswert nicht wegen seiner Quantität, sondern wegen seiner Qualität).

Da die einzelnen Kapitel eng miteinander verwoben sind und sich aufeinander beziehen, beschreibe ich ihren Inhalt nicht kapitelweise, sondern überblicksartig im nächsten Abschnitt.

Inhalt

Die dem Buch zugrundeliegende These ist ebenso einfach wie eindrucksvoll: Es gibt kein Zentrum des Selbst. Stattdessen konkurrieren mehrere Identitätsdynamiken fortwährend miteinander: „Niemals denkt das Selbst als solches, sondern die momentane Identität“ (S. 52).

Um diese „große und intuitive“ Hypothese auf eine Arbeitsebene herunterzubringen, verrät Kaufmann seinen LeserInnen einen „persönlichen Handwerkskniff“ (S. 83): Er gibt seinen Arbeitshypothesen einen „provisorischen Codenamen“ (ebd.), den er sehr treffend findet. Dies „stimuliert seinen Entdeckungsdrang, geschieht aber auf die Gefahr hin, dass die gewählte Bezeichnung nicht der erforderlichen Genauigkeit entspricht“ (ebd.). Seit „sechs oder sieben Jahren“ und über verschiedene Bücher hinweg arbeitet er mit dem anfänglichen Codenamen „Doppelhelix“ (ebd.) (die gebotene Übersetzung hat er jedes Mal verschoben, wenn sich die Hypothese weiterentwickelte). Den Namen dieses „berühmt-berüchtigten beibehaltenen Codes“ erklärt er wie folgt: „Ich sage ‚Helix‘, weil das Leben weder statisch noch linear strukturiert ist. Im Gegenteil, es gestaltet sich in einer Drehbewegung und kreuzt dabei viele Ereignisse und Ideen. Ich sage ‚Doppelhelix‘, weil sich diese Drehbewegung zwei sehr verschiedenen, aber im Alltag untrennbar vermischten Modalitäten gemäß entwickelt“ (S. 83)

In der ersten Modalität, die man „reine Sozialisation“ nennen könnte, und bei der die Reflexion keine nennenswerte Rolle spielt, geht es Kaufmann um eine Art Schicksal, das dem Leben Sinn gibt und auf materieller und soziale Objektivität beruht. In dieser Perspektive ist das Individuum als separate Einheit und autonomes Subjekt eine Illusion – es wird vom Sozialen hergestellt, vor allem von innen.

In der zweiten Modalität kommt die Subjektivität ins Spiel: Mögliche Neuorientierungen werden in Bilder und Gedanken gefasst, und es findet eine (mehr oder weniger bewusste) Entscheidung über mögliche Kurskorrekturen im Lebenslauf statt, die nicht mit den Erwartungen der Sozialisation übereinstimmen (S. 83). Identität in dieser Perspektive wird auf radikal subjektive Weise vom Individuum selbst hergestellt (vor dem Hintergrund ihrer/seiner Geschichte und der Kontexte, in der es lebt).

Nach Ansicht Kaufmanns bestehen zwischen diesen beiden Modalitäten keinerlei Widersprüche: „Starke Determinationen und eine reale Entfaltung von Subjektivität bestehen zugleich“ (S. 120). Die Herausforderung besteht darin, „die Verknüpfungen in den vielfältigen winzigen Kontexten klar herauszuarbeiten, in denen es zu Reibungen zwischen den beiden Helices kommt“ (S. 121).

Hier wird das „riesige, spannende Forschungsprogramm“ deutlich, an dessen Anfang Kaufmann steht: Es geht ihm letztlich um „viele weitere Arbeiten“, die nötig sind, „damit eine konzeptionelle Bewältigung der Dynamik der Verknüpfungen mit einem größeren Überblick über das Ganze Gestalt“ annehmen kann (ebd.).

So geht es ihm im vorliegenden Buch beispielsweise um die „luftige Leichtigkeit der persönlichen kleinen Träume…, die Realität schaffen und im Zentrum der Bewegung der zweiten Helix stehen“ (ebd.). Sie verursachen die Brüche, ohne die das Soziale unerbittlich seine Programme abspulen würde. Beschrieben wird auch das Gefühl der Vertrautheit, welches das, was uns umgibt, ständig bearbeitet und uns lenkt, ohne das wir uns dessen bewusst wären“ (S. 122ff).

Selbstverständlich geht es dabei auch um die Empfindung eines Mangels an Vertrautheit, der zum Beispiel von zahlreichen der Befragten in „Der Morgen danach“ bemerkt wurde, als sie in einer fremden Wohnung erwachten (S. 123): „Das Gefühl der Vertrautheit ist die Garantie dafür, dass das unterbewusste Programm, das das Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt steuert, als gültig betrachtet und als legitim anerkannt wird“ (S. 123f).

Kaufmann sagt von sich, er sei leider kein Dichter, sondern ein „schrecklicher Arbeiter“ (S. 155), weshalb er sich gezwungen sehe, seine „lange Argumentation“ fortzusetzen. So desillusioniert er im weiteren Verlauf mögliche „Selbstverwirklichungsfanatiker“ (J.T.): „Ich bleibt niemals so sehr es selbst, als wenn es sich von der ersten Helix tragen und positiv definieren lässt. „Man selbst sein“ ist keineswegs ein Ausdruck von Subjektivität, ganz im Gegenteil“ (S. 153f). Nach Kaufmann kommt die Subjektivität am ehesten in der Fähigkeit zum Ausdruck, „sich selbst zu erfinden“ bzw. selbst eine Diskrepanz zu dem zu schaffen, was die erworbene Sozialisation hätte erzeugen können (Einzigartigkeit kommt dabei nur nebenbei zum Ausdruck) (S. 154): „Ich ist niemals so sehr Ich, als wenn es ein anderer wird“ (ebd.) – „Ich ist ein anderer“ (S. 155).

Vieles ist in der Beschreibung des Inhalts „unter den Tisch“ gefallen. Vor allen Dingen gehören hierzu die anschaulichen Beispiele aus der Praxis, aber auch die Beschreibung der Bedeutung von „Leidenschaft“ („Das Individuum braucht heutzutage Leidenschaften. Immer mehr“; S. 161) und „Ereignissen“ („Mit Ausnahme der Geschichtswissenschaft herrschte offene und vor allem konstante Feindseligkeit gegenüber dem Ereignis“; S. 175) gekoppelt mit der Bedeutung von Medien („Das Ereignis wird voll und ganz erlebt, weil es aus der Distanz erlebt wird, das Individuum sich in seinem wirklichen Leben geborgen fühlt, sich sicher ist, dass es nach dieser Episode intensiver Leidenschaft intakt wieder in dieses zurückkehren wird“; S. 185).

Die These ist auch hier die vom „Flügelschlag des Schmetterlings“: Ereignisse, sogar die flüchtigsten, hinterlassen oft mehr diskrete, unterschiedliche Spuren als man glaubt (S. 184).

Diskussion

Das Buch ist unendlich facettenreich. Es zeigt, wie sehr die Identität eine sich wandelnde Realität ist. Unsere biografischen Erfahrungen und der Kontext, in dem wir leben, halten uns bei geplanten oder ungeplanten Veränderungen fest; sie bilden den sozialen und materiellen Hintergrund, vor dem wir unser Leben gestalten. Unsere Träume, Gefühle von Vertrautheit/Nichtvertrautheit, Ereignisse, die wir erleben etc. hingegen spornen uns immer wieder zu Veränderungen/biografischen Kehrtwenden an. Diese bleiben großenteils imaginär, können schnell wieder rückgängig gemacht werden oder beziehen sich bloß auf eine Facette einer vielfältigen Identität. Andere Wendungen lenken das ganze Leben unwiderruflich in eine völlig neue Richtung. Sie resultieren oft aus einem nicht erwarteten, von seiner ursprünglichen Bedeutung für unser Leben vielleicht minimalen Ereignis, welches vom Individuum „hautnah“ erlebt wird und es in seiner Existenz direkt betrifft: „Denn Ich ist ein anderer. Wenn Kupfer als Trompete erwacht, ist es nicht seine Schuld“ (Arthur Rimbaud, zit. n. Kaufmann, S. 9).

Fazit

Ein faszinierendes, unglaublich vielseitiges Buch, anknüpfend an Berger/Luckmann, Bourdieu, Corbin/Strauss (methodisch), Garfinkel, Goffman, Schütz oder auch Charles Taylor. Kaufmann versteht es, die Ideen dieser namhaften Wissenschaftler aufzunehmen und Ernst zu nehmen, um dann seinen ganz eigenen Ansatz „darauf zu setzen“. Er zeigt hier, dass er in der Welt der (Geistes-)Wissenschaften zu den ganz „Großen“ gehört. Darüber hinaus ist nicht unerheblich, dass es einfach Spaß macht, seinen Alltagsbeobachtungen zu folgen und mitzuerleben, wie die „große Theorie“ beispielsweise aus dem Ärger in Partnerschaften oder aus den Erfahrungen mit dem „Morgen danach“ abgeleitet wird.

Ein großes Kompliment auch an die Übersetzerin Anke Beck, die die Freude Kaufmann beim Schreiben bzw. Verfassen seiner Ideen auch in die deutsche Sprache hinübergerettet hat.

Rezension von
Prof. Dr. Joachim Thönnessen
Hochschule Osnabrück, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Studium der Philosophie und Soziologie in Bielefeld, London und Groningen; Promotion in Medizin-Soziologie (Uniklinikum Giessen)
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Es gibt 55 Rezensionen von Joachim Thönnessen.

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Zitiervorschlag
Joachim Thönnessen. Rezension vom 28.07.2010 zu: Jean-Claude Kaufmann: Wenn ICH ein anderer ist. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2010. ISBN 978-3-86764-207-1. Reihe: Einzeltitel Soziologie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9194.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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