Lars P. Feld, Peter M. Huber et al. (Hrsg.): Jahrbuch für direkte Demokratie 2009
Rezensiert von Prof. Dr. Olaf Winkel, 12.05.2010

Lars P. Feld, Peter M. Huber, Otmar Jung, Christian Welzel, Fabian Wittreck (Hrsg.): Jahrbuch für direkte Demokratie 2009. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2009. 250 Seiten. ISBN 978-3-8329-4860-3. 59,00 EUR. CH: 99,90 sFr.
Thema
Die deutsche Demokratie ist im wesentlichen dadurch geprägt, dass die Bürgerschaft von Parteien vorselektierte Personen in Parlamente wählt, welche daraufhin im Namen des Volkes, aber von ihm völlig unabhängig Gesetze produzieren, welche alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen binden. Direktdemokratische Verfahren, in denen Bürgerinnen und Bürger unmittelbar und verbindlich auch in die Entscheidung von Sachfragen einbezogen werden, spielen in der Bundesrepublik dagegen nur eine untergeordnete Rolle.
Auf Bundesebene sind Plebiszite ausschließlich für Fälle der Neugliederung des Bundesgebietes vorgesehen, und das Gewicht, das Volksbegehren und Volksentscheide in den Ländern haben, ist ebenfalls gering. Am größten sind die bürgerschaftlichen Partizipationsräume noch auf kommunaler Ebene, wo inzwischen nicht nur die Bürgermeisterdirektwahl eingeführt worden, sondern auch die Bedeutung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden im Laufe der Jahre gewachsen ist. Daneben hat man in Städten und Gemeinden mit deliberativen Beteiligungsverfahren wie Runden Tischen, Bürgerforen und Bürgerhaushalten experimentiert, welche im Unterschied zu Plebisziten allerdings keine Bindungswirkung entfalten.
Trotz gelegentlich zu vernehmender anderslautender Bekundungen stehen die politischen Eliten einer konsequenten Ausweitung bürgerschaftlicher Mitbestimmungsmöglichkeiten bislang eher zurückhaltend gegenüber. Skeptiker warnen etwa vor dem Verlust politischer Stabilität als Folge eines Machtverlustes der Parlamente, vor einer Benachteiligung wenig durchsetzungsfähiger Bevölkerungsgruppen oder vor der Gefahr einer Überlagerung politischer Rationalität durch demagogische Strömungen.
In Zivilgesellschaft und Wissenschaft mehren sich dagegen schon seit geraumer Zeit Stimmen, die eine Anreicherung der deutschen Demokratie um direktdemokratische Elemente für dringend geboten halten. Dabei werden entsprechende Innovationen als Chance gesehen, die Problembearbeitungsfähigkeit der Gesellschaft durch die Einbeziehung bürgerschaftlicher Potentiale zu erhöhen, den Einfluss von Lobbygruppen auf die staatliche Politik durch das Damoklesschwert des Plebiszites zurückzudrängen, und der immer weiter um sich greifende Politikverdrossenheit durch die Schaffung neuer bürgerschaftlicher Verantwortungsrollen Einhalt zu gebieten.
Zu den entschiedenen Befürwortern einer Ausweitung bürgerschaftlicher Teilhabemöglichkeiten nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene zählt die Initiative Mehr Demokratie, ein überparteiliches Bündnis, das sich sowohl argumentativ als auch in konkreten Aktionen, etwa in Volksbegehren und Volksentscheiden mit demokratiepolitischer Stoßrichtung, für entsprechende Ziele einsetzt.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber des Jahrbuchs für direkte Demokratie, das in diesem Jahr erstmals erschienen ist, sind nicht nur allesamt Hochschullehrer, sondern zudem Mitglieder des Kuratoriums von Mehr Demokratie e.V. Mit dem Jahrbuch wollen sie der intellektuellen Auseinandersetzung um die Fortentwicklung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere der kontroversen Erörterung von Fragen unmittelbarer Partizipation ein neues Forum bieten. Nach eigenem Bekunden geht es den Herausgebern darum, fundierte Beiträge zu einschlägigen Fragen zu veröffentlichen, Anregungen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema zu geben und die Leserschaft nicht nur über relevante Entwicklungen in Deutschland, sondern auch im Ausland auf dem Laufenden zu halten.
Aufbau und Inhalt
Das Jahrbuch für direkte Demokratie 2009 ist fachübergreifend angelegt, wobei Aspekte aus Verfassungsrecht, Politikwissenschaft, Zeitgeschichte und Politische Ökonomie eine wichtige Rolle spielen. Abgesehen von einem Geleitwort von Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, und dem Vorwort der Herausgeber Lars P. Feld, Peter M. Huber, Otmar Jung, Christian Welzel und Fabian Wittreck gliedert sich der Band in sechs Abteilungen, die mit Abhandlungen, Dokumentation, Länderberichte, Rechtsprechung, Rezensionen und Neue Literatur überschrieben sind. Die Abhandlungen und die Länderbereichte nehmen mit großem Abstand den meisten Raum ein.
In der Abteilung Abhandlungen finden sich vier Aufsätze zu ausgewählten demokratietheoretischen und demokratiepraktischen Fragen, darunter ein Beitrag von Horst Dreier und Fabian Wittreck zur Verankerung von Elementen repräsentativer und direkter Demokratie im Grundgesetz und ein Aufsatz von Gebhard Kirchgässner, in dem das Verhältnis von direkter Demokratie und Menschenrechten beleuchtet wird.
Die Beiträge in der Abteilung Länderberichte setzen sich zuerst mit Stand und Perspektiven direkter Demokratie in Berlin und Thüringen auseinander, wobei Christian Pestalozza die direkte Demokratie in Berlin auf gutem Wege sieht, während Stefan Storr Probleme in den Vordergrund rückt, die in Thüringen in den Jahren 2007 bis 2009 aus einer besonders prekären Konstellation von parlamentarischer Gesetzgebung und direktdemokratischer Einflussnahme erwachsen sind. Danach werden relevante Entwicklungen in Frankreich, in Österreich, in der traditionell partizipationsoffenen Schweiz und in den Bundesstaaten der USA aufgearbeitet. Im letztgenannten Bericht, der von Hermann K. Heußner stammt, erscheinen die Mitgliedsstaaten der USA, welche im Unterschied zu den deutschen Ländern über erhebliche Gesetzgebungskompetenzen verfügen, geradezu als Hort direkter Demokratie, während auf der gesamtstaatlichen Ebene auch jenseits des Atlantik bis heute keine Abstimmungen in Sachfragen vorgesehen sind. Ein Beitrag von Harald Eberhard, der sich mit den Möglichkeiten und Grenzen direkter Demokratie aus europäischer Perspektive auseinandersetzt, rundet die Länderberichte ab.
Die Abteilung Dokumentation, in der Volksbegehren, Volksentscheide, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide neueren Datums erfasst sind, die Abteilung Rechtsprechung, welche ausgewählte Gerichtsentscheidungen zu Fragen der direkten Demokratie enthält, die Abteilung Rezensionen, in der drei Neuerscheinungen ausführliche Würdigung erfahren, und die Abteilung Neue Literatur, welche aus einer Liste mit biographischen Angaben zu knapp drei Dutzend einschlägigen Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden sowie einigen Monographien besteht, liefern zwar durchaus wertvolle Informationen, füllen aber insgesamt nicht viel mehr als dreißig der 362 Seiten.
Diskussion
Dem Anspruch der Herausgeber, der kontroversen Erörterung von Fragen unmittelbarer Demokratie ein neues Forum bieten zu wollen, wird das Jahrbuch für direkte Demokratie 2009 in wissenschaftlicher Hinsicht souverän gerecht. Obwohl sich die Autoren zumeist um eine anschauliche Darstellungsweise bemühen, stellt der Band aber ein Buch von Fachleuten für Fachleute dar, was schon in Auswahl und Zuschnitt der Themen sowie in der Detailliertheit zum Ausdruck kommt, in der einzelne Aspekte ausgeleuchtet werden.
Eine solide Einführung in das Thema direkte Demokratie, breiter angelegt und leichter verdaulich, bietet folgende Publikation: Hermann K. Heußner und Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid – Geschichte, Praxis, Vorschläge. Olzog Verlag (München) 2008. 480 Seiten. ISBN 978-3-7892-8252-2. 34,90 EUR.
Fazit
Das Werk sollte in keiner Hochschulbibliothek fehlen. Leserinnen und Leser, die einen Einstieg in die Problematik suchen oder sich aus einer pragmatischen Perspektive mit entsprechenden Fragen befassen möchten, geraten hier allerdings in Gefahr, überfordert zu werden.
Rezension von
Prof. Dr. Olaf Winkel
Professor für Public Management mit dem Schwerpunkt Verwaltung an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
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