Wolfram Stender (Hrsg.): Konstellationen des Antisemitismus
Rezensiert von Dipl.-Soz.wiss. Alexander Häusler, 11.03.2011

Wolfram Stender (Hrsg.): Konstellationen des Antisemitismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2010.
288 Seiten.
ISBN 978-3-531-17235-4.
34,95 EUR.
Reihe: Perspektiven kritischer sozialer Arbeit - Band 8.
Thema und Autoren
Bücher und Sammelbänder zum Thema Antisemitismus existieren mittlerweile in fast unüberschaubarem Ausmaß. Der Vorzug des hier zu besprechenden Neuerscheinung liegt darin, dass aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus sowohl erläutert wie zudem in Beziehung gesetzt werden zu sozialpädagogischen Anforderungen: Ein schwieriges Unterfangen, das durch die vielfältigen interessanten Beiträge als gelungen bezeichnet werden kann. Das vorliegende Werk beinhaltet auf der theoretischen Ebene neben der Auseinandersetzung mit neuen Erscheinungsformen des Antisemitismus auch die Darstellung aktueller Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung. Der Sammelband ist als achter Band der Publikationsreihe „Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit“ erschienen. Dementsprechend wird eine inhaltliche Brücke geschlagen von der Theorie über die Empirie und inhaltliche Forschung zur sozialpädagogischen Praxis. Die Herausgeber des Bandes sind tätig an der Abteilung Soziale Arbeit der Fachhochschule Hannover. Als Anspruch wird formuliert, alte und neue Varianten des Antisemitismus im Kontext globalisierter Gesellschaftsverhältnisse fassbar zu machen und „Grundlinien für eine antisemitismuskritische Kompetenz in der sozialen Arbeit“ zu entwerfen.
Aufbau
Der Band besteht aus zwei Teilen:
- Im ersten Teil werden gegenwärtige Erscheinungsformen des Antisemitismus auf ihre theoretischen Grundlagen und Aktuellen Erscheinungsformen hin untersucht. Der Betrachtung von Antisemitismus in Zuwanderermilieus unserer Einwanderungsgesellschaft wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Von besonderer Relevanz ist hierbei die Auseinandersetzung mit Überschneidungen unterschiedlicher rassistischer Stereotype wie muslimfeindlicher Einstellungen mit antisemitischen Topoi sowie deren Unterscheidungsmöglichkeiten.
- Im zweiten Teil liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf der empirischen Forschung zu und der sozialpädagogischen Praxis im Umgang mit gegenwärtigen antisemitischen Erscheinungsformen. Auch in diesem Teil wird sich der Kontextualisierung von Antisemitismus und Einwanderungsgesellschaft ausführlich gewidmet.
Inhalt
Wolfram Stender skizziert in einer ausführlichen Einleitung des Bandes die unterschiedlichen Ansätze zur Definition des Antisemitismus und beschreibt diesen als „eine Destruktionskraft ganz eigener Art, die tief in der Gesellschaft verankert ist, sich von dort aus weit verbreitet hat und in der Konsequenz auf nichts anderes abzielt als die Vernichtung der Juden.“ Die Einleitung kann als fundierter Überblick auf unterschiedliche Erscheinungsformen des Antisemitismus und dessen Interpretation dienlich sein. Stender betont die Notwendigkeit, den unterschiedlichen Varianten des Antisemitismus differenzierte Aufmerksamkeit zu schenken: So weise etwa der modernisierte Sekundärantisemitismus, der sich aus der Abwehr der Erinnerung an die Shoah als eine Form von Nachkriegsantisemitismus in Gestalt aggressiver Abwehrhaltung äußert, deutliche Unterschiede zum islamisierten Antisemitismus auf. Stender leitet daraus die Notwendigkeit für differenzierte und jeweils eigenständige pädagogische und sozialarbeiterische Handlungskonzepte ab.
Rolf Pohl beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den psychoanalytischen Sichtweisen auf das Phänomen. Eng angelehnt an die Deutungsmuster der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und dabei besonders an Adornos Deutung des Antisemitismus als Form von pathischer Projektion skizziert er das Phänomen als „Prototyp einer kollektiven Wahnbildung“, welche die Funktion einer „Schiefheilung“ von der Kapitulation unverstandener Ängste und Machtverhältnissen gegenüber einnehme. Interessant sind die kritischen Auseinandersetzungen Pohls mit seiner Ansicht nach verkürzter Kritik an der angeblichen Pathologisierung des Antisemitismus durch Adorno. Pohl verweist dabei auf den inhaltlich entscheidenden Unterschied zwischen den Begriffen des Pathischen und des Pathologischen und deutet Adornos Begriff als nicht klinisch zu interpretierende „Rezeption der aristotelischen Wirkungsästhetik der Tragödie.“
Jan Weyland analysiert in seinem Beitrag die Sinnstruktur des Antisemitismus und sieht dabei die die theoretisch grundlegenden Deutungen von Klaus Holz bestätigt, nach dem dessen grundlegende semantische Struktur trotz seiner unterschiedlichen Ausdruckformen weitestgehend räumlich wie zeitlich konstant geblieben ist. Der „reine Typus“ des modernen Antisemitismus ist laut Weyland der Totalausschluss der Juden aus „einer in Nationalstaaten segmentierten Welt“: Das „Volk, das keins ist“ – das unfassbare Gegenstück aller „Völker“. Daraus leitet der Autor die Notwendigkeit ab, den Blick statt der Aufklärung über antisemitische Fremdbilder mehr auf die Aufklärung über „Selbstbilder, die durch Abgrenzung vom ‚Juden‘ stabilisiert werden“, zu richten.
Die veränderten Konstellationen des Antisemitismus in der deutschen Migrationsgesellschaft sind Gegenstand des Beitrages von Astrid Messerschmidt. Die Autorin sieht ein besonderes Phänomen hierbei in einer als „demokratischer Rassismus“ bezeichneten nationalen Selbststilisierung, welche in Form einer sich aufklärerisch inszenierenden Wir-Die-Gegenüberstellung von Einheimischen und (muslimischen) Zugewanderten zum Ausdruck kommt. In Anlehnung an die von Paul Mecheril entwickelte rassismuskritische Perspektive in der antirassistischen Bildungsarbeit fordert Messerschmidt auf die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zu übertragen: Dies beinhaltet ihrer Ansicht nach die Notwendigkeit zur Thematisierung der selbstkritischen Reflexion eigener, gesellschaftlich in der Mehrheitsgesellschaft dominant vorherrschender antisemitischer Strukturen.
Das Phänomen des islamistischen Antisemitismus und dessen Forschungsstand sind Gegenstand eines für den Band grundlegenden Beitrags von Klaus Holz und Michael Kiefer. Grundlegend deshalb, weil beide Autoren jeweils grundlegende Analysen zum modernen Antisemitismus (Holz) und zum islamisierten Antisemitismus (Kiefer) verfasst haben, die hier in der gebotenen Kürze zusammenfassend erläutert werden. Es wird historisch und ideologiekritisch schlüssig dargelegt, wie und warum der islamistische Antisemitismus hierzulande eine Form von Reimport darstellt, dessen inhaltliche Grundmuster sich auf dem klassischen Repertoire des modernen europäischen Antisemitismus speisen. Zudem skizzieren die Autoren anschaulich den Wirkungs- und Verbreitungsgrad des islamistischen Antisemitismus durch die pointierte Darstellung islamistischer Organisationen in Deutschland sowie anhand antisemitischer Fernsehsendungen aus dem Iran und der Türkei, die via Internet und Satelliten-TV ein Millionenpublikum erreichen, deren verheerende Resonanz. Notwendige Konsequenzen hieraus wären nach Ansicht der Autoren mit der Förderung von Forschungen zum islamistischen Antisemitismus in der Zuwanderungscommunity zu ziehen.
Derartige Forderungen werden argumentativ unterfüttert durch den Beitrag von Claudia Dantschke, der die Bedeutung des Feindbildes Jude in hiesigen muslimischen Milieus zum Gegenstand hat. Dantschke betont die Notwendigkeit zum genauen Blick auf die jeweiligen Spezifika jener Milieus zur adäquaten Auseinandersetzung.
Muslime und palästinensische Selbstbilder in der Zuwanderungscommunity sind Thema des Beitrages von Nikola Tietze, die hierzu Fallstudien in muslimischen Organisationen in Hamburg sowie in palästinensischen Kultur- und Stadtteilvereinen als empirische Basis heranzieht. Tietze betont hierbei, dass die empirische Auswertung der Zugehörigkeitskonstruktionen nicht pauschal und zwangsläufig auf ein verschwörungstheoretisches und antisemitisches Sprechen von Juden und Israel schließen lasse. Lediglich „physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen“ hätten negative, antisemitisch konnotierte Äußerungen über Juden und Israel nach sich gezogen. Daraus zieht die Autorin den Schluss, eigene Zugehörigkeitsverständnisse in diesen Milieus nicht lediglich als „Abgrenzungsversuche von den allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen in Deutschland“ zu verstehen.
Den zweiten Teil des Bandes eröffnet ein Beitrag von Heike Radvan, die 21 leitfadengestützte Interviews mit Sozialpädagog/inn/en zum Umgang mit gegenwärtigen antisemitischen Erscheinungsformen in der offenen Jugendarbeit durchgeführt hat. Neben der Wissensvermittlung, so ihr Fazit, sollte in der Aus- und Weiterbildung das „Wie des pädagogischen Handelns und der Beziehungsarbeit im Vordergrund stehen“.
Ebenfalls auf eigens erhobene Daten stützt sich der Beitrag von Gabriele Freville, Susanna Harms und Serhat Karakayali, die vierzig Gespräche mit Mitarbeiter/inne/n aus Jugendeinrichtungen in Berlin-Kreuzberg geführt haben. Sie konstatieren dabei eine weite Verbreitung von antisemitischen und Israel-feindlichen Ressentiments bei muslimischen Jugendlichen. Allerdings betonen die Autor/inn/en die Wichtigkeit, zugleich „ihre in Deutschland gemachten Erfahrungen und Prägungen sowie mögliche Wechselbeziehungen“ in die Deutungen einzubeziehen.
Guido Follert und Wolfram Stender stellen in ihrem Beitrag erste Rückschlüsse auf das Forschungsprojekt „Antisemitismus bei Jugendlichen im Kontext von Migration und sozialer Exklusion“ vor. Dazu wurden im Jahr 2008 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und Einzelinterviews mit Lehrern und Sozialarbeitern in einer norddeutschen Großstadt durchgeführt. Als überaus bemerkenswert erwies sich dabei die „eklatante Diskrepanz zwischen den Darstellungen der Pädagogen einer-, der Jugendlichen anderseits“. Daraus folgern die Autoren die Notwendigkeit, die Verstrickungen der Bildungsarbeiter/innen selbst mehr in den kritischen Blick zu nehmen.
Dieser Folgerung schließen sich auch David Begrich und Jan Raabe im anschließenden Beitrag an. Die Autoren legen darin komprimiert und fundiert das Ausmaß in die inhaltliche Struktur antisemitischer Stereotype in rechten Jugendkulturen dar. Einen besonderen Blick werfen sie dabei auf das Medium Musik. Den Abschluss ihres Beitrages nimmt die Darstellung einer Fortbildungsveranstaltung mit Lehrern ein, in welcher diese bei der Textinterpretation antisemitischer Musiktexte zum Teil selbst derartig geprägte Vorurteilsmuster zum Ausdruck brachten. Daraus folgern die Autoren das Ansinnen, die „inhaltliche Auseinandersetzung mit den dargebotenen Inhalten vor dem Hintergrund des Welt- und Menschenbildes der handelnden pädagogischen Akteure“ mehr in den Vordergrund zu stellen.
Die Handlungsbedingungen einer Pädagogik im globalisierten Klassenzimmer sind Thema des Beitrages von Mirko Niehoff. Der Autor ist Mitarbeiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus und verfügt dadurch über dezidierte Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit anti-antisemitischer Bildungsarbeit mit migrantischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Als ein wichtiges Resultat seiner lehrreichen Darstellungen kann seine Forderung herangezogen werden, inhaltliche Schwerpunkte auf die „Kritikfähigkeit, Analyse- und Urteilskompetenz, Empathie sowie immer auch auf die Vermittlung von historisch-politischem Wissen“ zu legen.
Michael Kümper und Susanna Harms widmen sich im abschließenden Beitrag der Möglichkeiten von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen als pädagogischen Ansatz gegen Antisemitismus. Sie betonen hierbei die ihrer Ansicht nach fehlende Überprüfbarkeit antisemitischer Immunisierung durch Begegnungsarbeit und betonen die Bedeutung von kritischer Auseinandersetzung mit statischen Vorstellungen von Kultur.
Fazit
Der Band erfüllt den selbst gesetzten hohen Anspruch, sowohl auf der theoretischen Ebene einen pointierten Einblick in Ausdrucksformen des Antisemitismus in der Gegenwart zu geben sowie zudem Diskussionsansätze und Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit diesem Phänomen in der sozialpädagogischen Praxis zu geben. Dies ist deshalb von besonderer Relevanz, weil in der Regel diese unterschiedlichen Ebenen parallel und abgeschottet von einander erörtert werden. Während die theoretische Diskussion über Antisemitismus in vielen Publikationen auf der abstrakten Ebene auf hohem Niveau geführt wird, findet die praxisbezogene Debatte darüber oftmals lediglich deskriptiv und auf die konkrete Erscheinungsebene bezogen statt. Der Vorteil dieses Buches besteht u.a. darin, die beiden unterschiedlichen Ebenen mit einander in Beziehung zu setzen. Dabei ist herauszuheben, dass – entgegen der gängigen Praxis bei Sammelbänden – alle Beiträge auf inhaltlich fundierter Ebene gleichermaßen spezielle und anregende Beiträge zu diesem komplexen Thema bieten. Zudem wird damit praktisch aufgezeigt, dass eine an der Kritischen Theorie des Antisemitismus der Frankfurter Schule orientierte Analyse nicht in lediglich abstrakter Gesellschaftskritik verharren muss, sondern diese zugleich nutzbar zu machen versteht für konkrete Handlungsanregungen. Besonders positiv hervorzuheben ist hierbei die Hinwendung zu zeitgemäßen Problemen und offenen Fragestellungen zu gegenwärtigen Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft und auch in den Zuwanderercommunities. Hier werden innovative Ansätze aus Forschung und Praxis vorgestellt und mit neuen empirischen Daten anschaulich in Beziehung gesetzt. Dadurch wird dieses Buch zu einem äußerst anregenden und inhaltlich gehaltvollen Fundus für die aktuelle Beschäftigung mit dem Thema und bietet zugleich richtungweisend Anregungen für die weitere Auseinandersetzung.
Rezension von
Dipl.-Soz.wiss. Alexander Häusler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Neonazismus der Hochschule Düsseldorf. Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus / Neonazismus.
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