Tanja Jungmann, Christina Reichenbach: Bindungstheorie und pädagogisches Handeln
Rezensiert von Dipl. Soz-Päd. Sonja Alberti, 22.02.2011
Tanja Jungmann, Christina Reichenbach: Bindungstheorie und pädagogisches Handeln. Ein Praxisleitfaden. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG. (Dortmund) 2009. 174 Seiten. ISBN 978-3-938187-56-2. 19,95 EUR. CH: 32,30 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-942976-20-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Das Thema Bindung und Beziehung hat eine wesentliche Bedeutung für das Gelingen von pädagogischen Angeboten und Förderungen. Die Autorinnen möchten diesen Zusammenhang verdeutlichen und für die pädagogische Praxis Anregungen vermitteln. Wesentliche Aspekte gelungener Beziehungsgestaltung sollen verdeutlicht werden und die Bedeutung der Reflexion der eigenen Beziehungserfahrungen soll den Lesern klar werden.
Autorinnen
Prof. Dr. Tanja Jungmann ist Diplom-Psychologin und Juniorprofessorin im Institut für Sonderpädagogik in der Abteilung „Psychologie bei sonderpädagogischem Förderbedarf“ an der Leibniz Universität Hannover tätig. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Entwicklungsdiagnostik, ganzheitliche Entwicklungsförderung, Sprachentwicklung, Bindung und Evaluationsforschung.
Dr. Christina Reichenbach ist Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Psychomotorik und arbeitet am Ernst-Kiphard-Berufskolleg, Fachschule für Motopädie in Dortmund. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war sie zudem als Vertretungsprofessorin an der Leibniz Universität Hannover tätig, vor allem in den Bereichen psychomotorische Entwicklungsförderung, Selbstkonzept und förderungsorientierte Diagnostik.
Aufbau
Die Veröffentlichung gliedert sich in drei Teile auf:
Im ersten Teil werden Bindung und Beziehung im konzeptuellen Rahmen von Risiko- und Schutzfaktoren betrachtet. Die Bindungstheorie und, im Unterschied dazu, Beziehung und Beziehungsgestaltung werden grundsätzlich in den Kapiteln 2 und 3 erläutert.
Im zweiten Teil werden zunächst klassische Anwendungsfelder für bindungs- bzw. beziehungsorientierte Interventionen benannt. Danach wird in den Kapiteln 5, 6 und 7 unterschieden nach Altersgruppen der Kinder in
- Beziehungsorientierte elternzentrierte Frühprävention (0-3 Jahre)
- Beziehungsorientierte Intervention in Krippe, Kindertagesstätte und Kindergarten (0-6 Jahre) und
- Beziehungsorientierte Intervention in der Schule (>6 Jahre)
Im dritten Teil der Veröffentlichung geht es um die pädagogische Beziehungsgestaltung und die Praxisreflexion. In Form eines Praxisleitfadens kann die Identifikation eigener beziehungsfördernder oder beziehungsstörender Verhaltensweisen in pädagogischen Alltagssituationen reflektiert werden. Es geht also zum einen darum, eigenes beziehungsförderndes oder beziehungsstörendes Verhalten zunächst zu erkennen und zum anderen darum, Möglichkeiten der Selbstreflexion praktischen Handelns zu erhalten.
Inhalt
Die Schlüssel zu einem Fördererfolg in Situationen mit Kindern sind Bindung und Beziehung zu diesen Kindern. Ohne eine positive Beziehungsgestaltung können keine Lernerfolge bei Kindern beobachtet werden. In der vorliegenden Veröffentlichung wird verdeutlicht, wie entscheidend eine gelungene Beziehungserfahrung im Vergleich zu einer misslungenen Beziehungserfahrung die kindliche Entwicklung beeinflusst. Diese Erkenntnis lässt sich auf viele Förderkontexte mit Kindern übertragen, z.B. Frühe Hilfen, Frühförderung, Tagebetreuung in Krippen und Kindertagesstätten und Schulen. Die Beziehung zur pädagogischen Fachkraft ist ein wichtiger Schutz- und Ressourcenfaktor für Kinder. Auch anhand von Fallbeispielen wird dies verdeutlicht. Es werden weiterhin Ideen zur Beziehungsgestaltung vermittelt und Anregungen für die Reflexion der eigenen Beziehungserfahrungen vermittelt.
Das Risiko- Schutzfaktorenkonzept wird zunächst als theoretischer Rahmen für das weitere Verständnis erläutert. Als der wesentlichste Schutzfaktor der kindlichen Entwicklung kann eine gelungene Eltern-Kind-Bindung benannt werden. Weitere Schutz- und Risikofaktoren werden erläutert.
Das Kapitel 2 widmet sich der Bindungstheorie. Zunächst wird der Bindungsbegriff erläutert, an dem man sich hier orientiert: Unter Bindung wird die enge soziale Beziehung zu bestimmten Personen, die Schutz oder Unterstützung bieten können, verstanden. Weiterhin werden Explorations- und Bindungsverhaltenssystem von Kleinkindern, als angeborene Verhaltenssysteme, erläutert. Die Entwicklung des Bindungsverhaltens, nach Bowlby (im Säuglingsalter) und nach Largo (im Kleinkind- und Schulalter) wird dargestellt.
Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema Beziehung und Beziehungsgestaltung. Hier werden der Beziehungsbegriff und verschiedene Aspekte der Beziehungsgestaltung näher betrachtet. Das Kinder ihre gemachten Beziehungserfahrungen auch auf neue Bezugspersonen und neue Beziehungen übertragen, ist wichtig zu wissen.
Im Kapitel 4 werden die Anwendungsfelder für bindungs- bzw. beziehungsorientierte Interventionen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen beschrieben. Hier wird unterschieden nach indirekten, direkten und erweiterten Interventionen, wobei die Gruppe der direkten Interventionen das Familiensystem des Kindes ausmacht. Indirekte Interventionen können durch Institutionen (Kita, Jugendamt, Schule, …) oder Multiplikatoren (Erzieher, Therapeuten, …) eingesetzt werden. Erweitere Interventionen sind Maßnahmen, bei denen die Bindungstheorie und die Ergebnisse der Bindungsforschung zwar eine maßgebliche Rolle spielen, die aber einerseits durch andere theoretische Zugänge ergänzt sowie andererseits mit juristischen, sozialpädagogischen und politischen Elementen verknüpft werden, z.B. Projekte.
Die Beziehungsorientierte elternzentrierte Frühprävention im Alter von 0 bis 3 Jahren wird im Kapitel 5 beschrieben. Diese Programme der frühen Hilfen werden hauptsächlich eingesetzt, um einerseits Kindeswohlgefährdungen, Vernachlässigungen und Misshandlungen vorzubeugen und andererseits aber auch präventiv gegen spätere sozial-emotionale Probleme vorzugehen. Als ausgewählte Programme werden in der Veröffentlichung näher vorgestellt
- Die entwicklungspsychologische Beratung für junge Eltern
- Das STEEP-Programm
- Das Hausbesuchsprogramm des Modellprojekts Pro Kind und
- SAFE – Sichere Ausbildung für Elter
Unter der Überschrift „Beziehungsorientierte Interventionen in Krippe, Kindertagesstätte und Kindergarten“ für Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren, werden in Kapitel 6 zunächst die Bedeutung der der Erzieher-Kind-Beziehung und die Krippenbetreuung aus bindungstheoretischer Sicht näher beleuchtet. Dann werden drei Programme beziehungsorientierter Intervention in Krippe und Kindergarten vorgestellt: B.A.S.E., Kindergarten plus und das FAUSTLOS-Curriculum für den Kindergarten.
Kapitel 7 beschäftigt sich dann mit der Altersgruppe ab sechs Jahren unter der Überschrift „Beziehungsorientierte Interventionen in der Schule“. Es werden Einflussfaktoren für die Lehrer-Schüler-Beziehung benannt, die z.B. auch vom Klassenklima oder dem Einfluss der anderen Schüler abhängt. Unter dem Stichwort „Bindung und Lernen“ wird verdeutlicht, dass die sozial-emotionale Gesundheit eines Kindes eindeutige Auswirkungen auch auf den Schulerfolg hat. An Beispielen wird hier näher darauf eingegangen. Verschiedene Ansätze von beziehungsorientierten Interventionen werden vorgestellt, die sich nach dem Bindungstyp des Kindes richten: unsicher-vermeidende Schüler, unsicher-ambivalente Schüler oder desorganisiert gebundene Schüler.
Im dritten Teil des Buches geht es zum einen um die pädagogische Beziehungsgestaltung. Hier werden dem Leser Tipps und Hinweise gegeben, um das eigene Verhalten als beziehungsfördernd oder aber als beziehungsstörend einzuordnen. Zum anderen geht es hier um die große Bedeutsamkeit der Selbstreflexion des eigenen praktischen Handelns. Als sinnvolle Instrumente zur Selbstreflexion werden die Supervision, die kollegiale Fallbesprechung und Beratung und die leitfadengestützte Selbstbeobachtung.
In einem allerletzten Satz (vor dem Literaturverzeichnis) weisen die Autorinnen darauf hin, dass es neben dem Erkennen der Grenzen der eigenen Professionalität unerlässlich ist anzuerkennen, dass man nur dann feinfühlig positive Beziehungen gestalten kann, wenn man selber Psychohygiene betreibt und es einem selber gut geht.
Diskussion
Die Erkenntnis, wie wichtig eine gesunde und sichere Bindung von Säuglingen und Kleinkindern an ihre primären Bezugspersonen ist und welche enormen Auswirkungen es für das restliche Leben von Menschen hat, wenn sie sich nicht sicher binden konnten und keine positiven Erfahrungen in den ersten Lebenswochen und -monaten gemacht haben, kommt in der pädagogischen Alltagsgestaltung in den letzten Jahren immer mehr an. Weitergehend wird auch immer deutlicher, wie wichtig der Aufbau und die Gestaltung von guten Beziehungen für die Entwicklung von Kindern und deren Lernerfolge im Alltag ist.
Mir ist sehr wichtig an dieser Veröffentlichung, dass die Begriffe Bindung und Beziehung deutlich voneinander getrennt werden. Es ist für pädagogische Fachkräfte nicht Aufgabe, Bindungen zu den Kindern einzugehen, mit denen die tagtäglich zu tun haben. Gute, feinfühlige Beziehungen müssen eingegangen werden, um den Kindern Bildungsmöglichkeiten bieten zu können. Ohne Beziehung keine Bildung, ist kurzgesagt ein Schlüssel zu Lernerfolgen von Kindern.
Mit den grundlegenden Informationen zur Bindungstheorie, den Phasen der Bindungsentwicklung, den unterschiedlichen Bindungstypen und der Stabilität von Bindungsmustern im Lebenslauf werden wichtige Ausgangsdetails vermittelt. Die Frage nach der Möglichkeit von pädagogischen Fachkräften, ungünstige Bindungserfahrungen von Kindern korrigieren zu können, wird meiner Meinung nach zu kurz beantwortet. Die Definition des Beziehungsbegriffs und die Aspekte der Beziehungsgestaltung werden ausführlich behandelt.
Mit dem Aspekt der Altersgruppe der Kinder veranschaulichen Jungmann und Reichenbach sehr gut, welche Programme und Ansätze es für beziehungsorientierte Interventionen in der Frühprävention, in Krippe und Kindertagesstätte und in Schulen mittlerweile gibt. Die Darstellung und Diskussion der Modelle ist gelungen und vermittelt einen guten Überblick.
Besondere Aufmerksamkeit möchte ich noch auf Teil 3 des Buches legen. Leider ist dieser Teil, für meinen Geschmack, zu kurz geraten. Hier wird die Bedeutung von eigenen Bindungs- und Beziehungserfahrungen der pädagogischen Fachkräfte thematisiert. Wie kann ich also mein eigenes Verhalten als beziehungsfördernd oder eben beziehungshemmend erkennen und entsprechend unterstützen bzw. dem entgegen arbeiten? Welche Möglichkeiten der Selbstreflexion meines praktischen Handelns habe ich in der alltäglichen Arbeit? Diese Fragen werden von den Autorinnen angesprochen. Ich würde mir wünschen, dass hier mehr Raum vorhanden gewesen wäre. Pädagogische Fachkräfte haben in der heutigen Praxis nicht selbstverständlich Methoden wie z.B. Supervision oder kollegiale Beratung zur Verfügung. Sie müssen also zum einen lernen, sich auf solche selbstreflektierenden Methoden überhaupt einzulassen und zum anderen häufig auch, sich das Angebot solcher Methoden zunächst einmal erkämpfen. Ich halte es dennoch für sehr wichtig, dass die eigenen Verhaltensweisen regelmäßig und organisiert reflektiert werden können.
Fazit
Die Veröffentlichung von Jungmann und Reichenbach halte ich für einen gut gelungenen Versuch, aus wissenschaftlichen Erkenntnissen einen Leitfaden für die Praxis zu erstellen. Es werden die wichtigsten Forschungsergebnisse erläutert - die Umsetzung dieser Ergebnisse in die praktische Arbeit wird immer wieder angeregt.
Es bleibt zu wünschen, dass diese wichtigen Informationen über die frühesten Erfahrungen von Kindern und die Möglichkeiten, auch in den folgenden Jahren mit Kindern gute Bildungschancen zu erarbeiten, auf hohes Interesse stoßen. Jede pädagogische Fachkraft, ob Erzieher/innen, Lehrer/innen oder andere, sollten sich mit dem Thema auseinandersetzen und die eigene praktische Arbeit dementsprechend reflektieren. Ich halte das vorliegende Buch für gut geeignet, in die Thematik einzusteigen.
Rezension von
Dipl. Soz-Päd. Sonja Alberti
Diplom Sozialpädagogin, Fachberatung und Fortbildnerin, Inhaberin Online-Lernplattform für die Frühpädagogik
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Zitiervorschlag
Sonja Alberti. Rezension vom 22.02.2011 zu:
Tanja Jungmann, Christina Reichenbach: Bindungstheorie und pädagogisches Handeln. Ein Praxisleitfaden. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG.
(Dortmund) 2009.
ISBN 978-3-938187-56-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9229.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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