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Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 30.08.2010

Cover Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch ISBN 978-3-476-02235-6

Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. 436 Seiten. ISBN 978-3-476-02235-6. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.

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Thema

Pierre Bourdieu ist mitnichten ein Unbekannter in der Sozialen Arbeit. Nicht nur prägte er zeitlebens und prägt er auch nach seinem Tod im Jahre 2002 immer noch den gesellschaftstheoretischen Diskurs wie nur wenige sonst. Mit dem Buch «Das Elend der Welt», einem Gemeinschaftswerk zahlreicher Autorinnen und Autoren, die Bourdieu um sich scharte, werden den Lesenden unmittelbare Einblicke in den belasteten Alltag jener eröffnet, die zur Klientel Sozialer Arbeit zählen. Bourdieus theoretische Konzeption ist um die Begriffe Kapital, Habitus, Feld und Praxis zentriert. Diese Grundbegriffe vor allem sind von der Sozialen Arbeit rezipiert worden, darunter das Konzept der Kapitalien mit seinen diversen Untersorten wohl am meisten. Bourdieus Gedankenwelt hat Sozialer Arbeit indessen viel mehr zu bieten, und diese Welt gilt es noch auszukundschaften. Die Form eines Handbuchs eignet sich dafür ganz besonders.

Herausgeber

Gerhard Fröhlich, geb. 1953, ist Professor am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Linz und verantwortet (mit Ingo Mörth) die Datenbank HyperBourdieu.jku.at.

Boike Rehbein, geb. 1965, ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin und verfasste «Die Soziologie Pierre Bourdieus» (Konstanz 2006).

Aufbau

Die Publikation hat folgende Hauptkapitel:

  • Einflüsse
  • Begriffe
  • Werke
  • Rezeption
  • Anhang

Inhalt

In der Einleitung legen die beiden Herausgeber ihr Ziel folgendermassen dar: «Wir wollen mit diesem Handbuch Leserinnen und Leser dazu anregen, sich gerade nicht vorschnell und unkritisch mit bourdieuschen Vokabeln zu schmücken und so zum üblichen ‹Uni-Bluff› beizutragen. Wir möchten motivieren, in die kritische Aneignung und Auslegung der Texte Bourdieus zu investieren» (S. IX). Wohltuend wirken die nachfolgende Bemerkung, Bourdieu mache es einem mit seinen langen Schachtelsätzen, unklaren Begriffsdefinitionen und schwer verständlichen Passagen nicht gerade leicht, sowie das Bekenntnis: «Wir alle verzweifelten zeitweise an Bourdieu, zweifelten, und mancher Versuch einer konsistenten Deutung kann wohl als gescheitert angesehen werden» (S. X).

Das erste Kapitel «Einflüsse» beginnt damit, dass Joseph Jurt das Leben Bourdieus Revue passieren lässt. Dabei wird der weite Weg deutlich, der von Bourdieus kleinem Geburtsort Denguin im abgelegenen Departement Pyrénées Atlantiques ans Collège de France in Paris führte, der zentralen Bildungseinrichtung Frankreichs. Auf den dortigen Lehrstuhl für Soziologie wurde Bourdieu 1981 berufen. Das Kapitel erörtert im Weiteren, inwiefern französische Epistemologie, Phänomenologie, Strukturalismus und Autoren wie Cassirer, Durkheim, Elias, Foucault, Marx, Mauss, Weber und Wittgenstein das Denken Bourdieus prägten.

Das zweite Kapitel «Begriffe» enthält über vierzig einzelne Artikel, die Bourdieus Begriffsuniversum ausleuchten. Hier zeigt sich, dass Bourdieu eben nicht bloss der Theoretiker von Kapital und Habitus ist. Seine Begrifflichkeit ist weit verzweigt und hat sich im Laufe der Werkgeschichte stetig verändert. Die Verfasserinnen und Verfasser verschweigen auch begriffliche Unschärfen nicht.

Das dritte Kapitel «Werke» ist in drei Unterkapitel gegliedert: «Frühwerke» bezieht sich auf den Beginn von Bourdieus Wirken während seiner Wehrdienstzeit in Algerien sowie auf die anschliessenden bildungssoziologischen und wissenschaftstheoretischen Werke. Zu der Zeit entwickelte sich Bourdieu vom gelernten Philosophen zum Ethnologen und schliesslich zum Soziologen. Das Unterkapitel «Hauptwerke» bespricht zuerst zu Recht Bourdieus Bücher «Entwurf einer Theorie der Praxis», «Sozialer Sinn» und «Die feinen Unterschiede», alle bei Suhrkamp verlegt. Es folgt, etwas überraschend, «Der Staatsadel». Den Schluss bilden Bourdieus späte, politisch orientierte Texte, in denen er beherzt gegen den Neoliberalismus anzugehen versucht. Das – letzte – Unterkapitel «Feldanalysen» zeigt auf, dass sich seine Werkgeschichte auch als Wanderung durch die Felder begreifen lässt, denn ähnlich wie Luhmann verfasste Bourdieu ein Buch nach dem anderen zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern wie Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion oder Kunst.

Das vierte Kapitel «Rezeption» belegt eindrücklich die globale Bedeutung von Bourdieus Schaffen. Bourdieu war ein Vielschreiber, und ebenso war er Leiter eines Grossunternehmens, bildete er doch den Mittelpunkt und die Drehscheibe eines vielköpfigen Netzwerks kritischer Intellektueller. (Der Rezensent, der selber einmal von Bourdieu zu einem ¾-jährigen Forschungsaufenthalt nach Paris eingeladen worden war, konnte sich ein eigenes Bild von der grossen Betriebsamkeit und Arbeitsintensität machen.) Zwei Beiträge verfolgen die Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum, ein abschliessender Artikel durchleuchtet kritisch in wissenschaftstheoretischer, methodischer, empirischer, theoretischer, grundbegrifflicher und politischer Perspektive das Werk.

Den Schluss macht der Anhang als Serviceteil mit Glossar, Listen mit Primär- und Sekundärliteratur, Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie Personenregister, jedoch ohne Sachregister.

Diskussion

Insgesamt ist dieses Handbuch sehr gelungen. Dennoch seien einige Mängel nicht verschwiegen:

  • Kritisch kann man als Erstes einwenden, dass einige namhafte deutsche Bourdieu-Expertinnen und –Experten nichts zum Handbuch beigetragen haben bzw. offenbar nicht für eine Mitarbeit zu gewinnen waren, beispielsweise Beate Krais, Gunter Gebauer, Hans-Peter Müller, Franz Schultheis oder Markus Schwingel.
  • Man hätte sich auch Artikel zu weiteren Stichworten vorstellen können. Es fehlen zum Beispiel solche zum (kollektiven) Intellektuellen, zu Regel/Regelmässigkeit oder zu Struktur – diese Stichworte sind unverständlicherweise nicht einmal im Glossar aufgeführt. Allerdings ist zuzugestehen, dass diese Themen in Artikeln zu anderen Stichworten zur Sprache kommen.
  • Sehr schade ist, dass zwar Berichte über die deutschsprachige und angelsächsische Rezeption enthalten sind, die französische Sekundärliteratur insgesamt aber viel zu wenig zum Zuge kommt. Das liegt wohl an der Sprachbarriere.
  • Was die Auswahl der Hauptwerke betrifft, ist es eher unüblich, Bourdieus Buch «Der Staatsadel» dazuzuzählen. Aber man kann dessen Erwähnung auch als Versuch interpretieren, der Diskussion über Bourdieu einen Impuls zu verleihen.
  • Leider werden dann und wann Übersetzungsfehler tradiert, so zum Beispiel, wenn von «Habitusformen» die Rede ist, wo im französischen Original einfach «les habitus» steht, oder von «Praxisformen» (statt Praktiken).
  • Vergleiche mit anderen herausragenden Gesellschaftstheoretikern unserer Zeit kommen selten zur Sprache. Tatsächlich bietet die deutschsprachige Sekundärliteratur hierzu eher wenig Material. Zu geringe Bedeutung erhält aber doch der Vergleich mit Luhmann, den exemplarisch, wenn auch mit deutlicher Schlagseite zu Luhmann hin, der Band «Bourdieu und Luhmann» (herausgegeben von Armin Nassehi und Gerd Nollmann) anstellt. Und, erstaunlich genug, spielt die Strukturierungstheorie von Anthony Giddens fast gar keine Rolle im Handbuch.

Trotz dieser Einwände bietet das Handbuch enorm vielfältige und reichhaltige Einblicke in das Werk und Wirken Bourdieus. Die Beiträge sind kompetent verfasst. Erfreulich ist, dass das Handbuch auch keine Kritik scheut. Es lädt denn sehr zum Verweilen und Herumstöbern ein und bereichert noch Spezialistinnen und Spezialisten um manch eine Perspektive auf das Werk Bourdieus.

Fazit

Man sollte ein Handbuch nicht mit einer Einführung verwechseln. Tatsächlich macht der Gebrauch des Buches wohl erst richtig Spass, wenn man bereits recht vertraut mit Bourdieus Werk ist. Die Herausgeber machen in der Einleitung zu Recht darauf aufmerksam, dass die Lektüre der Handbuchbeiträge – leider – kaum leichter zu fallen vermag als jene der Originaltexte: Eine Übersetzung in diesem Sinne ist den Beitragenden schwer gefallen. Aber abgesehen davon leistet das Handbuch sehr wertvolle Dienste, da es gut aufgebaut und thematisch recht vollständig ist. Zudem sind die einzelnen Beiträge meist von (sehr) guter Qualität. Man gerät denn unweigerlich ins Herumblättern, weil «an jeder Ecke» Dinge warten, die die Neugier wecken.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 30.08.2010 zu: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hrsg.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. ISBN 978-3-476-02235-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9236.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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