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Hauke Brunkhorst, Regina Kreide u.a. (Hrsg.): Habermas-Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 30.08.2010

Cover Hauke Brunkhorst, Regina Kreide u.a. (Hrsg.): Habermas-Handbuch ISBN 978-3-476-02239-4

Hauke Brunkhorst, Regina Kreide, Christina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. 392 Seiten. ISBN 978-3-476-02239-4. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.

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Thema

Vielleicht kann man Jürgen Habermas als den letzten lebenden «Meisterdenker» Deutschlands bezeichnen. Wie es sich für einen Denker dieses Formats ziemt, ist er viel gerühmt und oft geschmäht worden. Sein Werk bezieht sich auf eine Breite von Themen, die seinesgleichen sucht. Philosophie, Soziologie, Psychologie, Politische Theorie, Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft und Sprachwissenschaft werden angesprochen. Ein Handbuch erlaubt, gezielt auf Ausschnitte aus diesem Werk zuzugreifen, sei es über spezifische Kontexte oder ausgewählte Begriffe, deren Versammlung die enorme inhaltliche Fülle des Habermasschen Denkens widerspiegelt.

Herausgeber

Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Universität Flensburg.

Regina Kreide ist Vertretungsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Giessen.

Cristina Lafont ist Professorin für Philosophie an der Northwestern University in Evanston (USA).

Aufbau

Die Publikation enthält folgende Hauptkapitel:

  • Intellektuelle Biographie
  • Kontexte
  • Texte
  • Begriffe
  • Anhang

Inhalt

Habermas‘ intellektuelle Biographie macht gleich zu Beginn deutlich, was es heisst, ein Zeitgenosse von Kluge, Lübbe, Luhmann, Wehler, Dahrendorf, Grass, Enzenberger usw. zu sein. Alle erlebten sie als Jugendliche die Hölle des Zweiten Weltkriegs und anschliessend die mannigfaltigen Unaufrichtigkeiten des im Wiederaufbau befindlichen Deutschlands. «Das kann man fast bis in jeden Satz, den Habermas geschrieben hat, verfolgen und nachvollziehen», schreiben Hauke Brunkhorst und Stefan Müller-Dohm (S. 2). Es ist eine Generation, die zu prägenden Intellektuellen der Kriegsgeneration, Schmitt, Heidegger, Jünger, Freyer, Gehlen, Schelsky usw., auf kritische Distanz geht, den Nationalsozialismus aber noch aus eigener Erfahrung kennt, im Unterschied zu den Studierenden der späten 60er und 70er Jahre, die sodann die sogenannten «68er» bilden sollten. Nicht von ungefähr habilitierte Habermas mit «Strukturwandel der Öffentlichkeit» beim von den Nazis verfolgten Marxisten Abendroth. Fast von Beginn weg schlägt Habermas‘ Denken die Richtung ein, Philosophie und Sozialwissenschaft in einer kritischen Gesellschaftstheorie zu integrieren. Habermas war Berufssoziologe von 1956–59 und 1964–82 sowie Berufsphilosoph von 1961–71 und 1983–94. Zur 68er-Generation passte der in der Habilitationsschrift dargestellte Gedanke, dass die ganze Gesellschaft demokratischer Legitimation und somit einer kritischen Öffentlichkeit, d.h. ihrer Repolitisierung bedarf. Allerdings demaskierte Habermas jede Totalrevolution als «Scheinrevolution», eine Kritik, die ihm die Studentenbewegung ebenso übel nahm wie seine Rede vom «linken Faschismus» in Anbetracht provokativer kapitalismuskritischer Gegengewalt. Stets ist ihm die Verfassung gültige Legitimationsgrundlage, was er Jahre später mit dem Begriff «Verfassungspatriotismus» zum Ausdruck bringen soll. Ein Grundgedanke erhält sich von den frühen Schriften bis zum opus magnum, der Theorie des kommunikativen Handelns: «Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis», heisst es da (auf S. 507 im 2. Band). Darum hat sich die bürgergesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung gegen wirtschaftliche und staatliche Imperative zur Wehr zu setzen, und zwar in der «postnationalen Konstellation» globalisierter Zeiten nur umso mehr. Zur Meinungsbildung trägt Habermas selber mit vielen Interventionen, immer mehr auch im Bereich internationaler Politik und internationalen Rechts, bei.

Das zweite Kapitel «Kontexte» belegt nur schon mit der Menge der Unterkapitel, fünfundzwanzig an der Zahl, wie breit das Interesse Habermas gefächert ist. Von der Psychoanalyse zum Staatsrecht, von der Sprechakttheorie zum Poststrukturalismus reicht das Spektrum der Einträge. Etwas überraschend widmen sich die beiden letzten Unterkapitel jüdischer Philosophie sowie dem Monotheismus.

Das dritte Kapitel «Texte» stellt siebzehn wichtige Publikationen Habermas‘ vor und setzt mit seiner Dissertation über Schelling aus dem Jahre 1954 ein. Ihr gilt neben der Theorie des kommunikativen Handelns und seinem Buch über den philosophischen Diskurs der Moderne erstaunlicherweise der längste Beitrag. Das letzte Unterkapitel endet bereits im Jahre 2004, als Habermas das Völkerrecht thematisierte, das heisst also genau nach einem halben Jahrhundert Publikationspraxis. Weitere Werke sind seither noch erschienen.

Das vierte Kapitel «Begriffe» wiederholt den Eindruck einer grossen inhaltlichen Bandbreite aus dem vorangehenden Kapitel. Dreiunddreissig Begriffe werden in alphabetischer Reihenfolge abgehandelt. Zwischen Deliberation zu Beginn und Weltbürgergesellschaft am Ende finden sich naheliegende Einträge wie zu Diskursethik, kommunikativem Handeln und nachmetaphysischem Denken und etwas weniger naheliegende wie zu Intellektuellen oder kommunikativer Anthropologie.

Den Schluss macht der Anhang als Serviceteil mit Zeittafel, Bibliographie zu Primärtexten und Sekundärliteratur, Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie Personenregister, jedoch ohne Sachregister.

Diskussion

Der Vorteil eines Handbuchs liegt darin, mannigfaltige Aspekte eines Lebenswerks in übersichtlicher Form darbieten zu können, die man sich sonst in zuweilen mühsamer Kleinarbeit zusammensuchen muss. Diesen Vorteil nutzt das Handbuch bestens. Die Themen sind gut gewählt, die Beiträge sind sachkundig verfasst und geben den Blick frei auf ein faszinierendes Werk, das während mehr als eines halben Jahrhunderts entstanden ist, sich dabei stets ebenso weiterentwickelt hat wie es sich treu geblieben ist. Dabei scheuen die Autorinnen und Autoren auch vor Kritik nicht zurück, was die Lektüre nur bereichert.

Fazit

Habermas ist, wie man weiss, kein «einfacher Autor». Seine Texte sind reich an Differenzierungen, Gedanken und Argumenten und darum oft auch an Voraussetzungen, hinsichtlich welcher Vorkenntnisse vorteilhaft sind. Das vorliegende Handbuch lässt sich denn nur bedingt für einführende Zwecke gebrauchen. Es bietet wohl jenen mehr Nutzen, die sich gezielt bezüglich einer ausgewählten Problematik kundig machen wollen – dann allerdings einen grossen Nutzen, denn die einzelnen Beiträge zeugen beinahe immer von hoher Kompetenz der Verfasserinnen und Verfasser. Als Handbuch lädt es zum Verweilen ein, da man, hat man eine Fährte einmal aufgenommen, kaum mehr zu einem Ende kommt, weil man stets auf weitere spannende Dinge verwiesen wird. Habermas erweist sich dabei als der erwartet vielfältige, herausfordernde und anregende Denker.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 30.08.2010 zu: Hauke Brunkhorst, Regina Kreide, Christina Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2009. ISBN 978-3-476-02239-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9238.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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