von Clemens Kammler, Rolf Parr u.a. (Hrsg.): Foucault-Handbuch
Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 01.09.2010

von Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Schneider (Hrsg.): Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2008. 454 Seiten. ISBN 978-3-476-02192-2. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.
Thema
Michel Foucault, 1984 nach 58 Lebensjahren verstorben, darf als ein, um es mit einem Wort von ihm selber zu sagen, «Diskursivitätsbegründer» gelten. Sein Werk strahlt bis heute in beeindruckend viele wissenschaftliche Disziplinen aus. Für die Soziale Arbeit ist seine Relevanz recht früh entdeckt worden, und zwar vor allem aufgrund seiner innovativen Sichtweise von Normalität, Normalisierung und Disziplinierung sowie von Diskurs und Macht. Was der Meisterdenker Foucault Sozialer Arbeit sonst noch zu bieten hat, kann in einem Handbuch gezielt und ergiebig erkundet werden.
Herausgeber
- Clemens Kammler, geb. 1952, ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft/-didaktik an der Universität Duisburg-Essen.
- Rolf Parr, geb. 1956, ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft/-didaktik an der Universität Bielefeld.
- Ulrich Johannes Schneider, geb. 1956, ist Professor für Philosophie an der Universität Leipzig.
Aufbau
Die Publikation ist folgendermassen aufgebaut:
- Biographie
- Werke und Werkgruppen
- Kontexte
- Begriffe und Konzepte
- Rezeption
- Anhang
Inhalt
Das erste Kapitel «Zur Biographie» fragt sich, «wer dieser Mensch war, der über das ‹Verschwinden des Menschen› philosophierte, der trotz einer erfolgreichen intellektuellen und akademischen Karriere danach verlangt, ‹ein anderer zu werden›» (S. 1). Foucault wird 1926 als mittleres von drei Geschwistern in eine recht wohlhabende Arztfamilie geboren. Wie so viele Grössen des französischen Geisteslebens absolviert Foucault die Ecole Normale Supérieure in Paris. Trotz schulischen Misserfolgen und sogar Selbstmordversuchen schliesst er seine dortige Ausbildung mit der Agrégation in Philosophie ab. Er nimmt eine Stelle als Assistenzprofessor für Psychologie an der Universität Lille an. Seine erste Veröffentlichung gilt denn auch dem Schweizer «Daseinsanalytiker» Ludwig Binswanger. Über einen Kontakt mit dem Religionsphilosophen Georges Dumézil gelangt er ins schwedische Uppsala und leitet da das französische Kulturinstitut. Sein Text «Wahnsinn und Gesellschaft» wird gar als akademische Qualifikationsarbeit in Schweden abgelehnt, soll später aber doch zum Gelingen der Doktorprüfung in Frankreich beitragen. Seine nächsten Stationen sind Warschau und Hamburg. Nach acht Jahren der Wanderschaft kehrt Foucault 1960 nach Paris zurück. Hier wird der Soziologe Daniel Defert sein Lebensgefährte. Während «Die Geburt der Klinik» Foucaults wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten fortsetzt, schreibt er auch über verschiedene Schriftsteller wie Bataille, Blanchot u.a. In Clermont-Ferrand unterrichtet er jahrelang Philosophie und Psychologie. In dieser Zeit entsteht «Die Ordnung der Dinge», jenes Buch, das ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt macht. Drei Jahre später beendet «Die Archäologie des Wissens» Foucaults wissensarchäologische Arbeiten und eröffnet das Feld der Diskursanalyse. Nach einem Abstecher nach Tunis hilft Foucault just 1968 neben anderen mit dem befreundeten Gilles Deleuze mit, die neue Universität Vincennes nahe bei Paris aufzubauen. Schliesslich wird er 1970 auf die höchste Stellung berufen, die sich einem Wissenschaftler in Frankreich darbietet, nämlich ans Collège de France in Paris. Dieser Lehrstuhl wird auf die innehabende Person zugeschnitten, für Foucault heisst er «Geschichte der Systeme des Denkens». «Die Ordnung des Diskurses» lautet der Titel von Foucaults Antrittsvorlesung. Hier wie auch in den späteren Werken «Überwachen und Strafen» und «Der Wille zum Wissen» (als erstem Band einer Geschichte der Sexualität) offenbart sich immer mehr auch die politische Seite Foucaults, die nie eine parteipolitische war. Die vierzehn Vorlesungstexte (aufgrund von Manuskripten und Mitschnitten) bis zu seinem Tod 1984 behandeln Themen wie die Macht der Psychiatrie, Anormalität, Gouvernementalität oder die Hermeneutik des Subjekts. Die letzten acht Lebensjahre experimentiert Foucault mehr als bis dahin mit seiner Lebensform der Homosexualität, vor allem auch in San Francisco. In seinem Todesjahr werden der zweite und dritte Band seiner Sexualitätsgeschichte veröffentlicht, der vierte und abschliessende Band kann nicht mehr erscheinen. Ulrich Johannes Schneider zieht folgendes Fazit zu Foucaults Leben und Werk: «Die überlieferten biographischen Zeugnisse reichen nicht aus, um Foucault als einen tatsächlich sich immer neu entwerfenden Menschen zu qualifizieren. Intellektuell aber sprechen die permanenten Revisionen der Arbeits- und Interessenschwerpunkte und die damit verbundenen begrifflichen Transformationen eine deutliche Sprache» (S. 4).
Das zweite Kapitel «Werke und Werkgruppen» setzt mit der interessanten Beobachtung ein, dem Foucaultschen Werk drohten zwei Gefahren: erstens, es pauschal in der Kategorie des Poststrukturalismus oder Neostrukturalismus zu verorten, und zweitens, den Selbstinterpretationen des Autors zu folgen, die dazu tendierten, mit strategischer Absicht die Widersprüche zwischen verschiedenen Werkphasen einzuebnen. Stattdessen wird empfohlen, die Kohärenz des Werks gerade in der ständigen Problematisierung eigener Positionen zu entdecken. Dies überwindet die falsche Alternative von Kontinuität und Diskontinuität. Eine Foucaultsche Methode, die sich durch das Werk hindurch verfolgen liesse, ist also nicht aufzufinden, eine nachträgliche Vereinheitlichung nicht ratsam. Allerdings scheint sich sein Denken stets um die Frage nach dem Subjekt zu drehen. Kammler meint denn: «Sein eigenes Denken ‹in der Leere des verschwundenen Menschen› … rekonstruiert jene Produktions-, Macht- und Sinnverhältnisse, jene historisch-sozialen Praktiken, in denen sich Subjektivität als Erkenntnisgegenstand historisch konstituiert» (S. 10). Skepsis ist auch angebracht, wenn es darum geht, verschiedene Werkphasen zu bestimmen. Diskursanalyse und dann Machtanalyse; oder die Abfolge von Wissen – Macht – Subjektivierung; oder die erste Phase noch unterteilt in Arbeiten über das Normale und Pathologische und sodann zur Problematisierung des Denkens – so lauten einige Vorschläge. Man darf bei solchen Versuchen der Phasierung auch nicht vergessen, dass Foucaults Begriffe, die er als Werkzeuge eines Werkzeugkoffers auffasst, in neuen thematischen Kontexten veränderte Funktionen übernehmen. Das gilt gerade für so wichtige Begriffe wie Diskurs, Macht, Archäologie oder Genealogie. Solche begrifflichen Entwicklungen lassen sich aber mit gängigen Phaseneinteilungen (bis jetzt noch) nicht parallelisieren. Vor diesem Hintergrund werden im Handbuch in zwölf Kapiteln wichtige Werke und Werkgruppen diskutiert, beginnend bei «Schriften zur Psychologie und Geisteskrankheit» und endend bei Foucaults Vorlesungen.
Das dritte Kapitel «Kontexte» enthält vier Unterkapitel. Es bezieht Foucault auf die «Referenzautoren» Kant, Hegel und Marx, Nietzsche sowie Heidegger und stellt «zeitgenössische Bezüge in Frankreich» her zur Phänomenologie und zum Existentialismus, zu Althusser, Lacan, Deleuze und Derrida. Anschlüsse an Foucault werden sodann gefunden bei Butler, Agamben, Negri sowie bei der Interdiskurstheorie bzw. Interdiskursanalyse. Schliesslich werden «Überschneidungen und Differenzen» gesichtet mit Blick auf die Kritische Theorie sowie Bourdieu und Luhmann.
Das vierte Kapitel «Begriffe und Konzepte» stellt in knapper Form 29 zentrale Ansatzpunkte aus Foucaults Werkzeugkoffer vor. Hier finden sich auch Einträge beispielsweise zu ‹Aussage›, ‹Ereignis›, ‹Geständnis›, ‹Ontologie der Gegenwart› oder ‹Wahrsprechen›.
Das fünfte Kapitel «Rezeption» entfaltet ein beeindruckendes sozial- und geisteswissenschaftliches Panorama. Mit nicht weniger als siebzehn akademischen Disziplinen wird die enorme Ausstrahlungskraft des Foucaultschen Werks demonstriert. Dessen Einfluss reicht zum Beispiel bis zu Disability Studies oder zur Sportwissenschaft.
Den Schluss bildet der Anhang als Serviceteil mit Zeittafel, Listen mit Primär- und Sekundärliteratur, Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie Personenregister, jedoch ohne Sachregister.
Diskussion
Insgesamt ist dieses Handbuch sehr gelungen. Es trägt die wichtigen Mosaiksteine zu Foucaults Schaffen zusammen, ohne der – falschen – Absicht zu unterliegen, irgendeine vermeintliche Einheit in diesem Werk herzustellen. Da es weit verzweigt ist und die Sekundärliteratur nicht mehr zu überblicken, bietet das Handbuch eine wertvolle Übersicht und damit Orientierung. Interessierte können sich gezielt an ausgewählten Stellen vertiefen.
Fazit
Die Konsultation des Handbuchs erspart die Lektüre von Primärliteratur sicherlich nicht. Wer nicht bereits ein wenig vertraut mit Texten von Foucault ist, kann Einführungen zur Hand nehmen, von denen schon einige auch auf Deutsch vorliegen. Das Handbuch bietet denjenigen, die sich bei bestimmten Aspekten kundig machen, gewisse Themen Foucaults überblicken und besondere Kontexte kennenlernen möchten, ausgezeichnete Dienste. Die einzelnen Beiträge sind meist von (sehr) guter Qualität.
Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 01.09.2010 zu:
von Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Schneider (Hrsg.): Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2008.
ISBN 978-3-476-02192-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9239.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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