Gillie E. J. Bolton: Reflective Practice
Rezensiert von Dr. Vera Kalitzkus, 27.10.2010

Gillie E. J. Bolton: Reflective Practice. Writing and Professional Development.
SAGE Publications, Ltd
(London) 2010.
3. revised Auflage.
304 Seiten.
ISBN 978-1-84860-212-0.
Preis: 22.99 Pound (Listenpreis).
Thema
Reflektierende Praxis – Schreiben und professionelle Entwicklung. „Reflection is an attitude which makes the difference between 20 years of experience or only 1 year experience repeated 20 times.” (Bolton 2009: 752)
Reflektierende Praxis heißt, kontinuierlich aus der eigenen Erfahrung zu lernen und nicht in der Prägung durch die ersten Berufsjahre zu verharren. Professionelle Entwicklung verlangt Eigenverantwortlichkeit, eine ethische Haltung, und die Bereitschaft, sich selbst, die eigene Praxis und die eigenen Werte kritisch zu hinterfragen. Das ist ein Ziel, das bei zunehmendem Beklagen von Deprofessionalisierungstendenzen in den Gesundheitsberufen oder in der sozialen Arbeit, von großer Bedeutung ist.
„Reflective Practice – Writing & Professional Development“ ist ein Arbeitsbuch, das sich diesem Ziel widmet. Es ist eine Quelle für theoretische Grundlagen dieser Form des Reflektierens und ein praktisches Handbuch für diejenigen, die die Methode für sich oder für den Einsatz in Kursen erlernen wollen.
Gillie Bolton versteht unter reflektierender Praxis Folgendes: Reflektierende Praxis untersucht kritisch die Werte und Theorien, die die alltäglichen Handlungen beeinflussen. Dies geschieht über die reflektierende wie reflexive Untersuchung der Praxis. Es beinhaltet eine gründliche Überprüfung von Ereignissen und Situationen: der daran beteiligten Personen, ihrer Erfahrungen und Gefühle darüber. Dazu gehört auch das erneute Betrachten oder Durchleben der Erfahrung, um es in den Fokus zu rücken und aus verschiedenen Perspektiven durchzuspielen. Reflexion geht noch einen Schritt weiter: hierzu muss man sich aus einer Distanz in der jeweiligen Situation betrachten, etwa um zu ergründen, wie man unbewusst an der Schaffung von sozialen oder professionellen Strukturen beteiligt ist, die möglicherweise konträr zu den eigenen Werten stehen. (Bolton 2010: xix).
Für diesen Prozess empfiehlt Gillie Bolton eine besondere Form des Schreibens: das Durch-den-Spiegel-Schreiben (“Through-the-mirror writing“), das in sich bereits den reflektierenden Prozess beinhaltet. Ihre Methode geht über rein reflektierendes Schreiben, bei dem man sich „nur“ mit dem Spiegelbild beschäftigt, hinaus: es erfordert ihrer Definition nach ein Hindurchgehen durch die reflektierende Oberfläche, hinein in eine reflektive und reflexive Welt, in der nichts als selbstverständlich angenommen werden kann. Alltägliche Handlungen und Annahmen über andere Menschen könnten hier eine radikal andere Bedeutung erfahren (Bolton 2010: xxi). Sich einem solchen Prozess auszusetzen, erfordert Mut und die Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen. Dies nicht als „unprofessionell“, sondern vielmehr als Stärke zu erfahren, ist ein wichtiger Aspekt dabei: „I‘m no longer uncertain about being uncertain: uncertainty is now my mantra“ (Teilnehmer, Bolton 2010: 3).
Reflektierendes Schreiben geschieht in Form von Geschichten: Episoden, Ereignissen, Begegnungen. Sie müssen sich nicht streng an die Fakten des Geschehens halten, auch verfremdende Erzählformen – etwa ein Filmskript oder ein Gedicht – sind möglich. So mag ein kreativer Raum entstehen, im dem sich die „andere Form“ des Wissens aus dem Bereich der Intuition und der Gefühle zeigen kann. Reflektierende Praxis – das Schreiben sowie der Austausch darüber in vertraulichen Gruppen – kann die narrative Kompetenz stärken, zu der sowohl Erzähl- wie auch Zuhörkompetenz gehören. Wofür ist das gut? „We have lost trust in ourselves, and ownership of our stories“, sagt Gillie Bolton (2010: 31) Durch-den-Spiegel-Schreiben sei ein Weg, Kontrolle über die eigenen Geschichten und Erfahrungen zurückzuerlangen. Doch es verlangt Mut, sich auch den kritischen Erfahrungen zu stellen: „We do not tell each other the things at our cutting edge of difficulty. We often do not even tell these to ourselves“, so Gillie Bolton (2010: 31). Doch Vertrauen in sich und in andere ist wichtig: „Wenn andere Menschen dir jemals vertrauen sollen, dann musst du spüren, dass du ihnen ebenfalls vertrauen kannst – selbst wenn du dich im tiefsten Dunkel befindest“, sagt der Soziologieprofessor Morrie Schwarz. [1] Den Blick nach innen zu wagen, ist ein erster wichtiger Schritt, sich anderen damit zu zeigen ein weiterer. Die Erfahrung der Unterstützung und Akzeptanz in der Gruppe hilft, mit der Verunsicherung, die durch die Öffnung zunächst geschieht, umzugehen.
Wie wichtig der Blick nach innen für die professionelle Praxis sein kann, zeigt das Gedicht eines Hausarztes, der sich unfähig sah, als Arzt mit dem Tod von Kindern umzugehen. Erst dieses Gedicht über den Tod seines Bruders – aus der Perspektive eines kleinen Jungen geschrieben – ermöglichte es ihm, sich der Erinnerung zu stellen und damit die Blockade in seiner Tätigkeit zu überwinden (Bolton 2010: 39f.)
Autorin
Die Autorin Gillie Bolton arbeitet seit vielen Jahren freiberuflich im Bereich reflektierender Praxis. Zuvor war sie als Sozialanthropologin lange schreibend und lehrend im Feld der „medical humanities“ tätig. Sie war Gründungsmitglied des British Council for Medical Humanities und Senior Research Fellow am Kings College in London, GB. Dieser reichhaltige Erfahrungsschatz ist spürbar in ihr Buch eingeflossen. Gillie Bolton ergänzte diese dritte Auflage ihres Buches von 2001 um eine Vielzahl von Textbeispielen aus ihren Kursen, praktische Übungen und klare methodische Hinweise zu ihrer Umsetzung.
Aufbau und Inhalt
„In the end I found that the reflective process itself was where the bounties lay, and no amount of reading about reflecting could help me”, zitiert Gillie Bolton einen Kursteilnehmer im Vorwort. Man wird nur wirklich begreifen können, welche Perlen diese Übungen sind, so man sie selbst ausprobiert. Hinweise, wie dies geschehen kann, finden sich in diesem Buch viele. Gillie Bolton hat sich auch die Mühe gemacht, die Ansätze verschiedenster Disziplinen darzulegen, die sie zu dieser Form der reflektierenden Praxis führten. Jedes Kapitel endet mit Literaturhinweisen zur Vertiefung (“Read to learn“) und konkreten Schreibübungen mit Hinweisen zu ihrer Durchführung (“Write to learn“). Das regt dazu an, das Wissen über reflektierende Praxis gleich durch Erfahrung mit reflektierender Praxis zu ergänzen. Die Schreibübungen sind optisch hervorgehoben, was die Orientierung im Buch erleichtert. Die ebenfalls optisch abgesetzten Beispiele aus ihren Kursen machen deutlich, was in einer einzelnen Übung steckt und welche Art der Erfahrung den Teilnehmenden dadurch ermöglicht wird.
Im Vorspann des Buches werden die Schlüsselbegriffe ihres Konzeptes von reflektierender Praxis genannt und eine Erläuterung des Durch-den-Spiegel-Schreibens gegeben. Das ist hilfreich in der praktischen Arbeit, etwa in der Vorbereitung von Seminaren. Ein ausführlicher Sach- und Namensindex sowie umfassende bibliographische Angaben am Schluss des Buches erleichtern ebenfalls die Arbeit mit diesem Buch.
Der Hauptteil des Buches besteht aus 15 Kapiteln, die in drei thematische Blöcke zusammengefasst sind:
- Reflektion und Reflexivität: Was und Warum (“Reflection and reflexivity: what and why“)
- Reflektion und Reflexivität: Wie (“Reflection and reflexivity: how“)
- Reflektierendes Schreiben: Grundlagen (“Reflective Writing: foundations“)
Im ersten Teil werden grundlegende pädagogische Prinzipien und der theoretische Hintergrund für ihre Methode erläutert. Gillie Bolton geht auf zugrunde liegende ethische Werte und Modelle ein. Sie tut dies mit Bezug auf reichhaltige Quellen aus den unterschiedlichsten Disziplinen.
Im zweiten Teil des Buches wird das Wie von Reflektierender Praxis beschrieben. Damit können Praktiker wie Studierende den Prozess des reflektierenden Schreibens selbst erlernen. Darüber hinaus gibt es Hinweise für eine vertiefende Praxis (etwa in Form von Tagebuchnotizen). Gillie Bolton geht auch auf die Frage der Umsetzung von reflektierender Praxis in Workshops und Lehrgängen ein. Hier zeigt sich ihre eigene praktische Erfahrung, denn auch Probleme wie Bewertung und Evaluation, oder Teambildung fanden Eingang in ihr Buch.
Im dritten und letzten Teil vertieft Gillie Bolton die Grundkomponenten ihrer Methode des Durch-den-Spiegel-Schreibens: Narration, Metapher und andere Schreibformen, wie Gedicht oder Genres.
Auf der Verlagsseite im Internet finden sich ergänzende Materialien zum Buch wie zusätzliche Schreibübungen zu den einzelnen Kapiteln, Folien und Handouts sowie Erfahrungsbeispiele von Praxisworkshops und Übungen.
Diskussion
Gillie Boltons bilderreiche Sprache bringt Freude beim Lesen und erleichtert den Zugang zu dieser komplexen Methode. Sie nimmt uns mit auf die Reise in die Welt, die sie auf ihrem Weg selbst durchschritten hat. Mit ihren eindrücklichen und lebendigen Zitaten spricht sie die andere Form von Wissen an, die im professionellen Alltag häufig zu kurz kommt. Nicht analytisches Denken und Fakten sind hier gefragt, sondern Gefühl, Intuition, Kreativität und Assoziationen. So ist der Zugang zu Bereichen möglich, die im Alltag zunächst nicht offen stehen.
Die von Gillie Bolton vorgestellte Methode ist aber auch eine Herausforderung. Dies zeigt sich bei eigenen Schreibübungen oder in der Durchführung von Seminaren. So auch die Erfahrung von John Archambeault mit der Anwendung dieser Methode bei Studierenden der Sozialen Arbeit. Die Teilnehmenden seines Kurses fanden sich in dem Konflikt wieder, einerseits Ängste und Unsicherheiten, die in ihrer Arbeit entstanden waren, zuzugeben, und andererseits kompetent und in Kontrolle der Situation zu wirken, um sich so als für diese Arbeit befähigt zu erweisen. Verängstigt zu erscheinen, so machte eine Studentin deutlich, wird als unprofessionell und schwach eingeschätzt. Archambeault erläutert, dass dieses Spannungsfeld auch sonst in der Sozialen Arbeit existiert: Sollen Gefühle ignoriert und unterdrückt werden, um professionell und objektiv zu sein? [2] Dies Problem ist aus der Medizin ebenfalls bekannt. Reflektierendes Schreiben weist einen anderen Weg: Es schärft die Selbstwahrnehmung und hilft, Verständnis für sich und Empathie für andere zu entwickeln. Den Wert, der darin liegt, zu vermitteln, bleibt eine Herausforderung, ebenso die Umsetzung in durchstrukturierten Curricula im sozialen oder medizinischen Bereich, die Reflexion zwar fordern, doch deren Schwerpunkt immer noch auf Faktenwissen liegt.
Fazit
Gillie Bolton hat ein umfassendes Praxisbuch für die professionelle Weiterentwicklung geschrieben. Es eignet sich sowohl zum Selbststudium für Praktiker im Berufsleben und Studierende als auch für DozentInnen, die diese Methode in Kursen anbieten möchten. Das Fächerspektrum der möglichen Einsatzbereiche ist breit: es reicht von der sozialen Arbeit, Medizin, Pädagogik, Gesundheitsversorgung, Therapie und Beratung, klinischen Psychologie bis hin zu Wirtschaft und Marketing. Das Buch ist aber nicht nur ein Arbeitsbuch. Auch diejenigen, die sich für die theoretischen Hintergründe interessieren, werden von der Lektüre profitieren. Durch-den-Spiegel-Schreiben wird von Gillie Bolton überzeugend als Werkzeug zur Entwicklung von Reflexionsvermögen von Studierenden und Praktikern dargestellt. Diese Methode ist ein wichtiger Baustein, um eigenständiges und ethisch verantwortliches Handeln zu fördern. Es ist ein Weg, die Praxis menschlicher zu gestalten und Tendenzen der Deprofessionalisierung entgegenzuwirken. Ihr Buch kann dabei eine große Hilfe sein.
[1] Albom, Mitch (2002): Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens. München: Goldgmann; S. 76.
[2] Archambeault, John (2010): Engaging social work students in reflective writing using Bolton‘s Reflective Practice: Writing and Professional Development. Examples of reflective practice workshops and exercises. Reflective practice writing and facilitation by leading experienced practitioners, S.2-7. www.uk.sagepub.com/bolton, acc. 1.10.2010.
Rezension von
Dr. Vera Kalitzkus
medical anthropologist, Institut für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
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Es gibt 4 Rezensionen von Vera Kalitzkus.
Zitiervorschlag
Vera Kalitzkus. Rezension vom 27.10.2010 zu:
Gillie E. J. Bolton: Reflective Practice. Writing and Professional Development. SAGE Publications, Ltd
(London) 2010. 3. revised Auflage.
ISBN 978-1-84860-212-0.
Preis: 22.99 Pound (Listenpreis).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9245.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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