Manuel Rupp: Notfall Seele
Rezensiert von Ilja Ruhl, 03.05.2010

Manuel Rupp: Notfall Seele. Ambulante Notfall- und Krisenintervention in der Psychiatrie und Psychotherapie. Georg Thieme Verlag (Stuttgart) 2010. 3., aktualis. u. erweiterte Auflage. 220 Seiten. ISBN 978-3-13-102173-1. 39,95 EUR. CH: 67,90 sFr.
Thema
Die ambulante Intervention bei Menschen mit psychischen Krisen und in Notfällen erfordert einerseits Sensibilität und Einfühlungsvermögen, andererseits das Wissen, wie richtig und situationsangemessen vorzugehen ist. Die Literatur zu diesem Thema ist überschaubar, praktische Handreichungen finden sich nur vereinzelt. Rupp leistet mit seinem Buch zu dieser Thematik einen Beitrag.
Autor
Manuel Rupp, geb. 1945, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat eine eigene Praxis in Basel und arbeitet außerdem als systemischer Psychotherapeut und ist Supervisor. Rupp gibt vielfältige Seminare z.B. zur Burnout-Prophylaxe und zur Gewaltprävention für MitarbeiterInnen im psychosozialen Bereich.
Aufbau
Das Buch ist in einen Grundlagen- und einen Praxisteil gegliedert.
1. Grundlagen der Notfall- und Krisenintervention
Im ersten Kapitel werden zunächst die Begriffe Notfall und Krise erläutert und voneinander abgegrenzt sowie epidemiologische Hintergründe erörtert. Dieser Einführung schließt sich die Darstellung verschiedener Schlüsselsyndrome (z.B. „verzweifelt, suizidal) an, die an späterer Stelle die Gliederung des Buches vorgeben. Die Darstellung der Schlüsselsyndrome orientieren sich an einem Schema, das neben der Laiendarstellung des Syndroms, wie sie z.B. am Telefon erlebt werden kann, auch die Beziehungsdynamik, das Erscheinungsbild sowie die möglichen dahinterliegenden Erkrankungen darlegt. Im Unterkapitel „Setting, Prinzipien, Selbsthilfe“ wird auf die verschiedenen Dienste und Institutionen des psychosozialen und psychiatrischen Versorgungsnetzes näher eingegangen, sowie verschiedene Interventionsorte und ihre Auswirkungen auf die Intervention vorgestellt.
Im Unterkapitel „Ablauf einer Notfallintervention“ erfahren die LeserInnen, wie sich die verschiedenen Phasen und Schritte einer Notfallintervention gestalten. Besonderes Augenmerk legt Rupp dabei auf die Einschätzung der Dringlichkeit von Maßnahmen.
Das erste Kapitel schließt mit einem Text zu Kommunikation, Medikation und Klinikeinweisung. Hier finden sich eine Vielzahl von Hinweisen zum Rollenverständnis in der Notfallintervention und der daraus resultierenden Kommunikationsstile. Außerdem wird für ärztliche LeserInnen erläutert, welche Medikamente ein Notfallkoffer beinhalten sollte. Das Unterkapitel schließt mit Hinweisen zur Einweisung in eine psychiatrische Klinik.
2. Praxis der Notfall und Krisenintervention
Die Gliederung des zweiten Kapitels orientiert sich an den im ersten Kapitel bereits angesprochenen Schlüsselsyndromen. Diese werden durchgängig nach einem einheitlichen Schema dargestellt. Unter dem Gliederungspunkt „Erstkontakt, Aufklärung“ werden die für dieses Schlüsselsyndrom typischen Beschreibungen seitens der in der Krise befindlichen Person oder der Angehörigen vorgestellt. Desweiteren wird für syndromspezifische Probleme bei der Auftragsklärung wie Auftragskonflikte, Ambivalenzen oder auch Ohnmachtsgefühle auf Seiten der helfenden Person sensibilisiert. Im nächsten Schritt erläutert Rupp die Vorbereitungsphase der Notfallintervention. Zentral ist hier die Triage, also die Abklärung der Dringlichkeit der Interventionsform, die mittels Beispielfragen illustriert wird.
Der Gliederungspunkt „Abklärungsphase“ geht ausführlich auf die Gesprächsführung und den Kommunikationsstil im Zuge des Notfallkontaktes ein oder weist auf das Risiko einer Gefahrenunterschätzung bei konflikthaften Situationen hin.
Im nächsten Schritt, der „Abklärungsphase“ wird ebenfalls die spezifische Gesprächsführung für diesen Zeitraum der Intervention erläutert. Dieser Phase schließt sich dann der Untergliederungspunkt „Maßnahmephase“ an, in dem für jedes Schlüsselsyndrom unterschiedliche Interventionsstrategien empfohlen werden. In der Maßnahmephase spielen neben den Hinweisen zur Medikation auch die Notfallkonferenz mit Angehörigen, BetreuerInnen etc. des Notfallpatienten sowie der Ausblick auf die nächsten Tage eine entscheidende Rolle. In der Beschreibung dieser Phase finden sich konkrete Tipps und Hinweise für ein weiteres ambulantes Vorgehen sowie Evaluationskriterien für die Entscheidung für oder gegen eine Klinikeinweisung.
Die Unterkapitel zu den einzelnen Schlüsselsyndromen enden mit der Thematik der Nachbetreuung und des Übergangs von der Notfall- zur Krisenintervention.
Diskussion
Ausführliche Praxisanleitungen zur Intervention bei psychiatrischen Notfällen sind in der Fachliteratur unterrepräsentiert, obwohl psychiatrische Notfälle, dies belegt Rupp im einleitenden Kapitel anschaulich, kein seltenes Vorkommnis darstellen. Er definiert den oft inflationär verwendeten Begriff der „psychischen Krise“ und grenzt ihn vom „Notfall“ klar ab.
Besonders erfreulich und für den praktischen Nutzen von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass sich der Autor von den gängigen diagnostischen Kategorien zunächst löst und stattdessen eingängige Schlüsselsyndrome benennt und beschreibt. Von diesen ausgehend findet sich eine Vielzahl von Klärungs- und Interventionsstrategien, die nicht allein auf den Menschen dem die Intervention direkt gilt, fokussiert, sondern auch den Blick für Angehörige und andere verstrickte Personen schärft und diese einbindet. Dies geschieht zum einen vor dem Hintergrund, Entlastung zu schaffen aber auch Ressourcen des sozialen Systems der betroffenen Person zu aktivieren. Überhaupt nehmen die Hinweise zur richtigen Medikation nur einen kleinen Teil der Kapitel ein, während der Autor viel Wert auf die angemessene und respektvolle Kommunikation mit allen beteiligten Personen und die Berücksichtigung der Beziehungsdynamik zwischen Betroffenen und Angehörigen legt.
Kommunikation ist bei Rupp wörtlich zu nehmen. In vielen Gesprächs-Beispielen und mit Hilfe spezifischer Fragen macht er greifbar, wie auf der einen Seite das richtige situative Vorgehen sein könnte. Auf der anderen Seite warnt der Autor auch vor falschen Kommunikationsstilen im Zusammenhang mit den entsprechenden Schlüsselsyndromen.
Sehr konkret und praxisbezogen sind auch die umfangreichen Handreichungen zur Überleitung von der Notfall- zur Krisenintervention. Rupp wird somit dem Titel des Buches gerecht, der ja die Krisenintervention umfasst, er weist aber auch die Notwendigkeit hin, psychiatrische Notfallintervention nicht auf die schnelle Klärung der aktuellen Situation zu beschränken, sondern „nachhaltig“ zu intervenieren.
Im Bemühen, die Texte mittels Gliederungspunkten durchzustrukturieren ist der Autor etwas über das Ziel hinausgeschossen. Die Vielzahl der Gliederungsebenen erschwert die Lektüre stellenweise eher, als dass sie sie erleichtert. Andererseits ist der Aufbau stringent und logisch. Das Nachschlagen insbesondere in Bezug auf die Schlüsselsyndrome und die jeweilige Interventionsphase geht schnell von der Hand. Positiv hervorzuheben sind auch die vielen veranschaulichenden Grafiken und auflockernden Zeichnungen. Abgerundet wird der gute Gesamteindruck durch das heute in vielen Fachbüchern nicht selbstverständliche Glossar und umfangreiche Stichwortverzeichnis.
Zielgruppen
Der Verlag gibt als Zielgruppen ÄrztInnen, Pflegefachkräfte, SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen, PsychotherapeutInnen und Rettungsfachkräfte an. Geht man bei der Frage nach den Zielgruppen von beruflichen Kontexten aus, so eignet sich „Notfall Seele“ insbesondere im Bereich des stationären und noch mehr des ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit psychischer aber auch geistiger Behinderung. Eine große Bereicherung wird das Buch auch im Rahmen der Soziotherapie und der psychiatrischen ambulanten Pflege sein. Und nicht zuletzt ist es „Notfall Seele“ zu wünschen, dass es für die zurzeit in Deutschland entstehenden Home-Treatment-Teams zum Standardwerk avanciert.
Fazit
Die Notfälle, auf die ein Profi treffen kann, sind so unterschiedlich, wie es Menschen sind. Dieser Vielfalt in einer Anleitung Herr zu werden ist ein schwieriges Unterfangen, das Rupp mit dem inzwischen in dritter Auflage erschienenen Werk „Notfall Seele“ geglückt ist. Der Zugang zur Thematik über die Schlüsselsyndrome macht die Orientierung im Text besonders einfach und praxisnah. Die Fülle von konkreten Tipps, Fallbeispielen und handlungsleitenden Hinweisen verschafft Interessierten, die mit ambulanten psychiatrischen Notfällen konfrontiert sind, mehr Sicherheit im Umgang mit diesen. Ihnen sei der Kauf dieses Buches zu empfehlen. Sie werden nicht enttäuscht.
Rezension von
Ilja Ruhl
Soziologe M.A.
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Zitiervorschlag
Ilja Ruhl. Rezension vom 03.05.2010 zu:
Manuel Rupp: Notfall Seele. Ambulante Notfall- und Krisenintervention in der Psychiatrie und Psychotherapie. Georg Thieme Verlag
(Stuttgart) 2010. 3., aktualis. u. erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-13-102173-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9252.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.
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