David Klemperer: Sozialmedizin - Public Health
Rezensiert von Diplom Pflegepädagogin Meggi Khan-Zvorničanin, 06.07.2010
David Klemperer: Sozialmedizin - Public Health. Lehrbuch für Gesundheits- und Sozialberufe.
Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010.
350 Seiten.
ISBN 978-3-456-84824-2.
29,95 EUR.
CH: 49,90 sFr.
Unter Mitarbeit von Bernard Braun. Mit einem Geleitwort von Rolf Rosenbrock. Mit Unterstützung der deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention. Empfehlung des deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-456-85550-9 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Gesundheit und Krankheit verstehen, den Gesundheitszustand von Individuen und Bevölkerungsgruppen verbessern - hiermit befassen sich verschiedene Berufsgruppen an unterschiedlichen Orten im Gesundheitssystem. Sie benötigen hierfür fundiertes, fächer- und disziplinenübergreifendes Fachwissen. Das vorliegende Lehrbuch bietet erstmals einen systematischen Einstieg in sozialmedizinische Fragestellungen für Personen aus dem Kreis der Gesundheits- und Sozialberufe.
Über den Autor
David Klemperer ist Internist, Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen, Sozialmedizin, Umweltmedizin, Hochschullehrer an der Hochschule Regensburg. Darüber hinaus ist er aktiv in zahlreichen Gremien, Netzwerken und Vereinen mit Bezug zu Public Health bzw. Sozialmedizin und zu Qualitätsentwicklung im Gesundheitswesen.
Entstehungshintergrund
Seit Beginn der 1990er Jahre gibt es in Deutschland (wieder) das akademische Fach „Public Health“ bzw. „Sozialmedizin“. Gegenstandsbereich dieses transdisziplinären Faches ist die Theorie und Praxis der bevölkerungsbezogenen Förderung und Sicherung der Gesundheit.
Bereits vor und zwischen den beiden Weltkriegen lehrten und wirkten in Deutschland eine Reihe prominenter Sozialmediziner, z.B. Max von Pettenkofer (1818 – 1901), Rudolf Virchow (1821 – 1902) und Ludwig Teleky (1872 – 1959). Ihre Arbeiten, die sich überwiegend mit den Einflüssen von Umwelt-, Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Bevölkerungsgesundheit befassen, gelten als wesentliche Beiträge für die Begründung und Weiterentwicklung der Sozialmedizin als wissenschaftliche Disziplin.
Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde die Sozialmedizin in Deutschland ihrer wissenschaftlichen und sozialethischen Tradition beraubt. Sie mutierte zur „Rassenhygiene“ und war integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Medizinverbrechen geworden. Aus diesem Grund waren bevölkerungsmedizinische Ansätze im Nachkriegsdeutschland diskreditiert. Das Gesundheitswesen erhielt ein individualmedizinisches Fundament.
Ein halbes Jahrhundert später, in der 1990er Jahren, erlebte die ursprüngliche Tradition der deutschen Sozialmedizin einen Aufschwung. Indem man durch neu aufgebaute Forschungsverbünde, Public Health Studiengänge und die Etablierung der Versorgungsforschung in Deutschland auch an aktuelle, internationale Entwicklungen anknüpfte, konnte der wissenschaftliche Rückstand gegenüber anderen Ländern in vielen Bereichen aufgeholt werden.
Ein Beleg für diese Entwicklung ist das vorliegende Lehr- und Lernbuch. Es bietet einen Einstieg in zentrale Konzepte der Gesundheitswissenschaften und fasst hochaktuelle Wissensbestände systematisch zusammen. Komplexe Strukturen und Funktionsweisen des deutschen Gesundheitssystems mit seinen Teilsystemen werden transparent gemacht.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst sieben jeweils in sich abgeschlossene Kapitel. Jedes Kapitel enthält neben zahlreichen Abbildungen optisch hervorgehobene Verweise. Sie weisen entweder auf weiterführende Quellen zur Vertiefung hin, fassen Informationen in prägnanter Weise zusammen oder liefern Definitionen.
Das Geleitwort des Lehrbuches stammt von Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Leiter der Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB), der seit den 1980er Jahren die Entwicklung von Public Health in Deutschland entscheidend prägte.
Das Lehrbuch ist auf folgende Weise gegliedert:
- Geleitwort von Rolf Rosenbrock
- Danksagung
- Einleitung
- Wissenschaftlichkeit
- Epidemiologie und Forschungsmethoden
- Evidenzbasierte Medizin und evidenzbasierte Praxis
- Wie wir Gesundheit und Krankheit verstehen
- Prävention und Gesundheitsförderung
- Soziale Ungleichheit der Gesundheit
- Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik
- Literaturverzeichnis
- Abkürzungsverzeichnis
- Sachregister
- Autor
In der Einleitung erfährt man etwas über die Zielsetzung des Buches: Gesundheit und Krankheit verstehen, und zwar in Auseinandersetzung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen, die diese Konzepte beeinflussen. In didaktischer Hinsicht will das Werk ein „Lernbuch“ sein. Es soll der selbstständigen Aneignung sozialmedizinischen Basiswissens dienen und Lernende anregen, „zu fragen, zu verstehen, zu analysieren, zu kritisieren, zu verändern, Probleme zu erkennen und sie zu lösen“ (ebd. S.11).
Das erste Kapitel ist mit knapp 10 Seiten deutlich kürzer gehalten, als die folgenden. Es trägt den Titel Wissenschaftlichkeit und will zu einer „konstruktiv-skeptische[n] Grundhaltung“ gegenüber der Medizin und den Wissenschaften ermutigen sowie für das Vorkommen von Interessenskonflikten in diesen Bereichen sensibilisieren. Hiefür zieht der Autor zahlreiche medizin- und wissenschaftshistorische sowie aktuelle Beispiele heran.
Das zweite Kapitel erstreckt sich über ca. 35 Seiten. Es ist dem Thema Epidemiologie und Forschungsmethoden gewidmet. Inhaltlich wird zunächst der Begriff „Epidemiologie“ erklärt und seine Bedeutung für Public Health erläutert. Dann werden zentrale, epidemiologische Grundbegriffe und weitere Gesundheitsmaße angesprochen, wie z.B. „Population“, „Fall“, „Messung“, „Morbidität“, „Mortalität“, „Lebenserwartung“, „Inzidenz“ etc. Das folgende Unterkapitel befasst sich mit kausalitätsbezogenen Grundbegriffen, wie z.B. „Outcome“, „Determinante“, „Störfaktor (Confounder)“ etc. Es liefert Grundlagen für die nachfolgenden Unterkapitel, in denen es um das Verständnis epidemiologischer Daten und die Erläuterung verschiedener Studientypen geht. Anhand zahlreicher Abbildungen und am Beispiel klassischer gesundheitswissenschaftlicher Studien wird der Lehrstoff veranschaulicht.
Das dritte Kapitel umfasst ca. 20 Seiten und befasst sich mit dem Themenkomplex evidenzbasierte Medizin (EBM) und evidenzbasierte Praxis. Das aus dem angloamerikanischen Sprachraum stammende Konzept EBM, so erfährt man, wurde in den 1980er Jahren entwickelt. Ein Anlass hierfür waren Studienergebnisse, aus denen deutlich geworden war, dass ärztliche Entscheidungen, entgegen der verbreiteten Annahme, weniger auf wissenschaftlich gesichertem Wissen beruhen, als vielmehr auf tradierter oder persönlicher Erfahrung. Befürworter des Konzepts EBM wollen die Entscheidungssicherheit für Ärzt/innen und Patient/innen durch den Einsatz systematischer, wissenschaftlicher Methoden erhöhen. Hierfür wird anhand klinischer Studien und aktueller Übersichtsarbeiten nach der jeweils bestmöglichen Beweislage (Evidenz) für spezifische medizinische Interventionen gesucht und in Form von ärztlichen Leitlinien oder Patienteninformationen zusammengefasst.
Das vierte Kapitel trägt die Überschrift: Wie wir Gesundheit und Krankheit verstehen – Modelle, Konzepte, Theorien.Es gehört mit ca. 60 Seiten zu den umfangreicheren Kapiteln des Buches. Die zwölf Unterkapitel schneiden sehr unterschiedliche Themenbereiche an, z.B. medizinhistorische Modelle von Gesundheit und Krankheit, Klassifikationssysteme von Krankheiten und Behinderungen, Krankheiten und Behinderung im Sozialrecht, Alternative Medizin, die Wurzeln der Sozialmedizin in Deutland, Medizin im Nationalsozialismus. Ein gemeinsamer Nenner dieser Themenvielfalt ist eine spezifische Perspektive. Aus dieser stellen das Verständnis von und der Umgang mit Gesundheit und Krankheit keine ahistorischen, universellen Phänomene dar. Vielmehr erschließt sich ihr Verständnis vor dem Hintergrund spezifischer historischer und gesellschaftlicher Bedingungen, durch die bestimmte Phänomene (z.B. ein Verständnis von Behinderung) jeweils erst hervorgebracht werden.
Das fünfte Kapitel befasst sich mit dem Thema Prävention und Gesundheitsförderung. Es umfasst ca. 40 Seiten und ist in zehn Unterkapitel gegliedert. In diesem Kapitel werden Grundbegriffe zum o. g. Thema erläutert und Basiswissen anhand zahlreicher Beispiele und Illustrationen bereitgestellt. So geht es beispielsweise um die Klärung der Begriffe Prävention, Gesundheitsförderung, Primärprävention und Kuration, die Unterscheidung von Verhältnis- versus Verhaltensprävention und die Erklärung, was Gesundheitswissenschaftler/innen unter dem Terminus Präventionsparadox verstehen. Anhand aktueller Beispiele (z.B. AIDS-Prävention) werden Bezüge zur gesellschaftspolitischen Bedeutung des Themas hergestellt. Im letzten Unterkapitel geht der Autor am Beispiel aktueller Empfehlungen der gesetzlichen Krankenkassen auf Verfahren, Chancen und Risiken der Sekundärprävention bzw. Krankheitsfrüherkennung ein.
Das sechste Kapitel ist dem Thema Soziale Ungleichheit der Gesundheit gewidmet. Es besteht aus ca. 40 Seiten und ist in acht Unterkapitel unterteilt. Die Lernenden erfahren in diesem Kapitel, dass fast jeder messbare Aspekt von Gesundheit und Krankheit sozial ungleich verteilt ist. Ein höherer sozioökonomischer Status geht dabei regelhaft mit besserer, ein niedriger mit schlechterer Gesundheit einher. Im Zusammenhang mit diesem Lehrinhalt erhält man eine Einführung in die Grundbegriffe sozialwissenschaftlicher Ungleichheits- und Armutsforschung. Anschließend erläutert der Autor am Beispiel klassischer Studien und hochaktueller Forschungsergebnisse wie Gesundheit und soziale Lage miteinander verwoben sein können, wie soziale Ungleichheiten der Gesundheit entstehen und mit welchen wissenschaftlichen Konzepten sich diese Phänomene fassen lassen, z.B. mit dem Konzept der Verwirklichungschancen von Amartya Sen.
7. Das siebte Kapitel trägt die Überschrift Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik. Es bildet das Schlusskapitel und ist mit knapp 80 Seiten, unterteilt in 13 Unterkapitel, das umfangreichste des Lehrbuches. Angefangen mit der Beleuchtung von Fragen wie, was ist ein Gesundheitssystem, welche Formen von Gesundheitssystemen gibt es und wie beschreibt bzw. misst man Qualität der Gesundheitsversorgung über eine Einführung in die Gesundheitspolitik greift der Autor eine Vielzahl relevanter Unterthemen auf, wie z.B. die Kranken- und Pflegeversicherung, Vergütungssysteme, Pflegestatistik, Arzneimittelversorgung, Rehabilitation, gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen. Wie schon in den vorhergehenden Kapiteln gibt es auch hier zahlreiche Illustrationen und Verweise zum ergänzenden bzw. vertiefenden Quellenstudium.
Diskussion
Von einem Lehrbuch darf man erwarten, dass es leicht zu lesen, didaktisch gut aufbereitet und zum Nachschlagen geeignet ist. Außerdem sollte es seinen Gegenstandsbereich thematisch vollständig abdecken.
Dem Autor, David Klemperer, ist es hervorragend gelungen, ein wichtiges, aktuelles Lehrwerk für den Unterricht an Fachhochschulen und für Weiterbildungen in Gesundheits- und Sozialberufen zu gestalten: die Texte sind in gut lesbarem, humorvollen Stil geschrieben und werden durch ansprechende Illustrationen ergänzt. Didaktisch sinnvoll sind auch die optisch hervorgehobenen Textabschnitte mit verdichteten Lehrinhalten, Definitionen und Quellenverweisen. Bei der thematischen Auswahl wurde aktuelles Wissen berücksichtigt und dort, wo es sinnvoll erscheint, um historische Informationen und Hintergrundwissen ergänzt. Da die Kapitel jeweils abgeschlossene Einheiten bilden, eignet sich das Buch sehr gut als Nachschlagewerk.
Was den Aspekt der Vollständigkeit betrifft, könnte beklagt werden, dass eine Reihe von sozialmedizinisch relevanten Themen nicht oder nur unvollständig angeschnitten werden, z.B. Genderaspekte in der Medizin, Gesundheit und Migration, gesundheitliche Folgen des demografischen Wandels, globale Gesundheit, Gesundheit in der neoliberalen Unsicherheitsgesellschaft, gesundheitliche Folgen des Klimawandels.
Dem Autor ist jedoch zu Gute zu halten, dass er bereits in seiner Einleitung hervorhebt, sein Werk könne und wolle keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vielmehr habe er sich um eine sinnvolle Auswahl bemüht, um Lernenden aus Gesundheits- und Sozialberufen einen leichten Einstieg in das Thema Sozialmedizin – Public Health zu ermöglichen. Damit wolle er Lust auf mehr machen. Wer sich für weiterführende und vertiefende Informationen interessiert, findet deshalb in dem Werk umfangreiche Literaturhinweise und Links zu Originalquellen.
Dass es dem Autor wirklich ernst damit ist, seiner Leserschaft Zugang zu ergänzenden Informationen zu verschaffen, wird auch daran ersichtlich, dass es eine Website zum Buch gibt (www.sozmad.de). Darin wird ein Quellenverzeichnis bereitgestellt, das Hyperlinks zu allen im Buch genannten Internetquellen enthält und regelmäßig aktualisiert wird.
Fazit
David Klemperer ist ein hochaktuelles, didaktisch gut aufbereitetes Lehr- und Nachschlagewerk zum Thema Sozialmedizin – Public Health gelungen. Es füllt eine Lücke, indem es sich erstmals an Studierende und Fachkräfte aus dem Kreis der Gesundheits- und Sozialberufe wendet. Ihnen bietet das Buch einen schnellen Einstieg in die Thematik und regt durch zahlreiche Links und Verweise zum vertiefenden Selbststudium an.
Rezension von
Diplom Pflegepädagogin Meggi Khan-Zvorničanin
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Zitiervorschlag
Meggi Khan-Zvorničanin. Rezension vom 06.07.2010 zu:
David Klemperer: Sozialmedizin - Public Health. Lehrbuch für Gesundheits- und Sozialberufe. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2010.
ISBN 978-3-456-84824-2.
Unter Mitarbeit von Bernard Braun. Mit einem Geleitwort von Rolf Rosenbrock. Mit Unterstützung der deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention. Empfehlung des deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9259.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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