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Michael Gehler, Silvio Vietta (Hrsg.): Europa - Europäisierung - Europäistik

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.04.2010

Cover Michael Gehler, Silvio Vietta (Hrsg.): Europa - Europäisierung - Europäistik ISBN 978-3-205-78388-6

Michael Gehler, Silvio Vietta (Hrsg.): Europa - Europäisierung - Europäistik. : Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2009. 500 Seiten. ISBN 978-3-205-78388-6. 69,00 EUR.
Reihe: Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen - 7.

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Europa als wissenschaftliches Forschungsfeld

Obwohl das politische Europa erst wenige Jahrzehnte existiert, obwohl die geopolitischen Veränderungen seit den 1990er Jahren die Auseinandersetzungen darüber belebt haben, was ein politisches Europa sein solle und die Beitrittserwartungen vor allem der osteuropäischen Staaten, aber auch die am Rande Europas gelegenen Länder, wie etwa die Türkei, ja sogar nordafrikanische Regionen, Befürworter wie Gegner zu ziemlich unversöhnlichen Positionen gebracht haben (vgl. dazu: Martin Große Hüttmann / Matthias Chardon / Siegried Frech, Hrsg., Das neue Europa, 2008, siehe die Rezension), ist die Frage, was Europa ist und sein solle, nach wie vor unbeantwortet. Dabei ist zeitweise das „alte“ Europa sogar zu einem Schmähwort geworden, angesichts der Bemühungen, so etwas wie ein europäisches Selbstbewusstsein zu zeigen. Denn das ist die Diskrepanz: Während das „junge“ Europa sich schwer tut, seinen auf diesem Kontinent lebenden Menschen eine „europäische Identität“ zu vermitteln, stellt sich das mythische Europa seit Jahrtausenden in der Geschichte und in den Menschheitserzählungen als ein machtvolles Gebilde dar. Die Fragezeichen, die in die Gedächtnislücke der Europäer immer wieder hereinbrechen, einerseits das „europäische Erbe“ betonen, andererseits die „europäischen Zwistigkeiten“ hervorrufen, machtpolitisch, egoistisch, ideologisch und idealistisch, stellen sich sowohl als Menetekel wie als Verheißung dar. Europa ist eine Wirtschafts-, Kultur-, Glaubens-(?)gemeinschaft, ja sogar eine Schicksalsgemeinschaft; diese Etiketten kleben auf den verschiedenen (Denk-)Schubfächern der Europäer. Als ein bezeichnendes Beispiel für die Schwierigkeiten, die bei der Vermittlung einer „europäischen Dimension“ für junge Europäer auftreten, kann der (bisher gescheiterte?) Versuch angeführt werden, ein „europäisches Geschichtsbuch“ für die Schulen in Europa einzuführen. Die bereits in den 1980er Jahren begonnene Initiative von Historikern, für den schulischen Unterricht so etwas wie ein gemeinsames Geschichtsbild zu entwickeln, ist bisher nicht recht weiter gekommen. Bezeichnend auch die Probleme, die die Europäer mit einer gemeinsamen europäischen Verfassung haben. Der hehre Einleitungssatz in der Präambel des Entwurfs einer „Verfassung für Europa“ vom 20. 6. 2003 – „In dem Bewusstsein, dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung und Vernunft…“ – ist bisher auch Makulatur geblieben.

Entstehungshintergrund

Angesichts dieser Defizite, Verwirrungen und hegemonialen Wortführerschaften zur Frage, was Europa ist, sind theoretische Überlegungen nicht nur intellektuelle Pflichtübungen und philosophische Reflexionen, sondern notwendig für den Gerüstbau eines „Hauses Europa“. Weil ein Haus nicht nur Unterkunft und Bleibe für Menschen, nicht nur Schutz vor den Unbilden des Lebens und der Umwelt, nicht nur Schlafstelle, sondern auch Wohlfühlort und humaner Entwicklungsraum sein soll, deshalb haben die Wissenschaften die wichtige Aufgabe zu leisten, Analysen und Perspektiven für diese Baustelle anzubieten. An der Stiftung Universität Hildesheim im Niedersächsischen hat sich mit der Etablierung und Vernetzung der Sozial- und Kulturwissenschaften auf den verschiedenen Gebieten der Lehre und Forschung herausgebildet, was mittlerweile als das „Hildesheimer Modell“ bezeichnet wird. Vom 30. 4. bis 2. 5. 2008 haben sich in Hildesheim Bildungs-, Sprach-, Geschichts- und Politikwissenschaftler, Philosophen und Rezeptionsforscher zu einer Fachtagung zusammengefunden, um über Theorien und Methoden der Europaforschung zu diskutieren. Der wissenschaftstheoretische Begriff „Europäistik“, der bereits von Harald Haarmann 1976 als linguistische Kennzeichnung in der europäischen Sprachforschung eingeführt und in den 1990er Jahren von Wolfgang Schmale für die Historiografie verwendet wurde, hat mit dem „European Turn“ in den Geschichts- und Kulturwissenschaften (vgl. dazu auch: Jörg Döring / Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, transcript Verlag, Bielefeld 2008, 456 S., siehe die Rezension), eine neue, weiterreichende Bedeutung gewonnen. Die Hildesheimer Initiatoren wollen mit dem Leitbild „Europäistik“ mehr als eine kooperierende und interdisziplinäre Forschung der einzelnen Fachdisziplinen initiieren: „Unter der Leitperspektive der Europäistik … dominiert nicht die Geschichte der Nationen die europäische Geschichte, sondern umgekehrt die europäische Geschichte die der Nationen“. Diese europäische „Zurück zu den Quellen“ – Denken lässt sich mit dem Paradigma charakterisieren: Die Kategorie Zeit dominiert den Raum. Die Hildesheimer Konferenz von 2008 hat das Who-is-who der Europadenker und –theoretiker zusammen gebracht. Ihr Anliegen ist nicht, Europa neu zu erfinden, sondern die historische und aktuelle Entwicklung dieses Lebens- und Kulturraumes der Europäer kritisch zu betrachten und zu begleiten. Dabei ist den Herausgebern und den Autoren wichtig, mit der wissenschaftlichen Initiative einer „Europäistik“ auf fünf Eckpunkte zu verweisen:

Europa ist räumlich, zeit- und gegenwartsgeschichtlich mehr als die EU. Europa als Einheit ist Vielfalt. Der Einigungsprozess in Europa muss als komplexe, mehrdimensionale Entwicklung verstanden werden. Europa ist eingebunden in die globale Dimension. Die Europaforschung geht von einem pluralistischen Wissenschaftsverständnis aus und versteht sich als multidisziplinär.

Autoren und Inhalt

Die Hildesheimer Herausgeber, Michael Gehler, Leiter des Instituts für Geschichte und Silvio Vietta, Professor für Literatur- und Kulturgeschichte, gliedern den umfangreichen Tagungsband, der gleichzeitig als Programmatik für den neuen wissenschaftlichen Ansatz der Europäistik verstanden werden kann und der in der Publikationsreihe „Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen“ des Böhlau-Verlags erscheint, in die Einführung in das Thema durch die Herausgeber und sieben Kapitel. Im ersten Kapitel kommen die Sprachwissenschaften zu Wort, im zweiten die Geschichtswissenschaften, im dritten die Europäische Kulturgeschichte, im vierten die Philosophie, im fünften sind es schul- und hochschuldidaktische Überlegungen, im sechsten wird Europa aus dem Blick der Aussereuropäer betrachtet, und im siebten wird eine Bibliographie über Europa und Europäisierung vorgelegt.

Der Sprachwissenschaftler Harald Haarmann (geb. 1946), der den Begriff Europäistik in den Wissenschaftsdiskurs gebracht hat, setzt sich mit der Thematik „Alteuropa“ auseinander und unternimmt eine spannende, interdisziplinäre Expedition zu den Ursprüngen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt Europas. Mit seiner sprachwissenschaftlichen Analyse von den frühen, indoeuropäischen, griechischen und lateinischen Einflüssen, bis hin zum Heute, charakterisiert der Autor die Sprachentwicklung in Europa „als kontinuierlich andauernd“. Für die Einschätzung der Bedeutung der Europaforschung für das Hier und Jetzt des Europäisierungsprozesses heißt das, dass „europäische Identität ( ) nur lebensfähig (ist), wenn sie nicht als Ersatz gewachsener kultureller Identitäten missverstanden wird, sondern … als Bewusstsein dieser Vielfalt konzipiert wird“.

Der (em.) Direktor des Instituts für Angewandte Sprachwissenschaft der Universität Hildesheim, Reiner Arntz (1943), spricht über „Terminologien als Spiegel europäischer Sprachkultur“. Der Autor zeigt auf, dass trotz der unterschiedlichen Fachwortschätze in den europäischen Sprachen „die Terminologien der europäischen Sprachen in ihren Strukturen und ihrer Systematik auch deutliche Gemeinsamkeiten auf(weisen), in denen sich das gemeinsame kulturelle Erbe Europas widerspiegelt“. Arntz plädiert dafür, in den Angewandten Sprachwissenschaften den Europagedanken stärker in den Vordergrund zu rücken und sprach- und kulturübergreifende Lehrangebote mit europakundlichem Schwerpunkt für alle Fächer gemeinsam zu entwickeln.

Der Geschäftsführende Direktor des 2009 an der Universität Hildesheim eingerichteten Instituts für Interkulturelle Kommunikation, Stephan Schlickau (1961), stellt in seinem Beitrag „Sprachliches Handeln als Gegenstand einer vergleichenden Linguistik in Europa“ sprachwissenschaftliche Methoden für eine Analyse europäischer interkultureller Kommunikation vor. Er zeigt an verschiedenen Beispielen auf, „wie systemische und linguistisch fundierte Methoden zur Identifikation von Ähnlichkeiten und Unterschieden im sprachlichen Handeln verschiedener Kulturen dienen können und damit zu einer Grundlage für die Bewusstmachung von Vielfalt werden und ein besseres Verstehen ermöglichen“.

Das Kapitel „Geschichtswissenschaften“ leitet der Ordinarius für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien, Wolfgang Schmale (1956) mit der Frage nach der „Bedeutung der Europäistik für die Geschichtswissenschaften“ ein. Über die bisherigen Bestimmungen und Definitionen für eine „Europawissenschaft“ hinaus, plädiert Schmale für eine dekonstruierende Grundhaltung des neuen Wissenschaftsansatzes. Dabei hinterfragt er die gängige Schwerpunktsetzung „Einheit“ und kontrastiert sie mit dem der „Vielfalt“ und des „proprium Europa“. Dabei wird deutlich, dass letztere in stärkerem Maße prozesshaft und erzählend sind und es damit ermöglichen, Europa auch zu vermitteln.

Michael Gehler (1962) fragt, was „Europäistik“ für die Geschichtsschreibung der europäischen Integration heißt. Zur Standortbestimmung analysiert er zunächst die Situation, wie sie sich in der nationalstaatlichen Politik in Europa darstellt(e). In fünf Thesen formuliert er diese Bezugsgröße der Geschichte: Nationalstaaten waren die Begründer der europäischen Integration und gehören bis heute zu ihren Trägern. Die europäische Integration diente nach dem Zweiten Weltkrieg als Treibriemen für die ökonomische und politische Rekonstruktion der Nationalstaaten Europas. Nationale Interessen bestimmten und bestimmen weiterhin die europäischen Integrationsanstrengungen. Der Integrationswille der EGKS- und EWG-Staaten war prinzipiell unstrittig, jedoch graduell unterschiedlich akzentuiert. Die so genannten „late comers“ artikulierten stärkere Bedenken, die sich in nationalen Selbständigkeits- und Unabhängigkeitstendenzen und in der nationalen Geschichtsschreibung äußerten. Für eine europäische Integrationshistoriografie innerhalb der „Europäistik“ ist ein gemeinschaftsorientierter und multiperspektivischer Übergang erforderlich.

Wolfram Kaiser (1966) von der Universität Portsmouth und Stefan Krankenhagen (1969) von der NTNU Trondheim/Norwegen informieren und diskutieren über die „Konstruktion europäischer Integration und Identität im geplanten Musée de’ Europe in Brüssel“. Das Forschungsprojekt „Exhibiting Europe“ will zum einen klären, wie kollektive Erinnerungen gesammelt und präsentiert werden können; zum anderen geht es um die Erarbeitung von innovativen, ästhetischen Darstellungs- und Kommunikationsformen von erinnerter Vergangenheit und projizierten Zukunftsvisionen Europas. Die Europäistik soll dabei dazu beitragen, „Ausstellungen und Museen, die Europa zu ihrem Thema haben oder nationale Geschichte europäisch kontextualisieren, aus vergleichender historischer Perspektive in ihre transnationalen wie supranationalen Kontexte zu stellen und dabei die spezifischen Repräsentationsformen, die Europa nicht nur abbilden, sondern konstruieren, mitzudenken“.

Der Historiker Hans-Heinrich Nolte (1938), bis 2003 an der Universität Hannover tätig, referiert über „Europa und Europäisierung im Kontext der Weltgeschichte“. Die Einordnung der Ereignisse, die der Autor als Gewinn ansieht – Menschenrechtskatalog, parlamentarische Verfassung, Toleranz und Anstieg des durchschnittlichen Lebensstandards im kapitalistischen System – und jene, die er als Bedrohung und negativ benennt – Genozidbereitschaft, Vereinzelung, Steigerung der Ungleichheit – zeigt er in drei Meistererzählungen auf: Aufstieg des Westens, Dependenztheorien, Europa als Provinz. „Es scheint so, als ob im 21. Jahrhundert China, Indien, Japan sowie andere Gesellschaften Asiens dabei sind, an ihre Führungsrolle in früheren Jahrhunderten anzuknüpfen oder jedenfalls, sich als große Provinzen der Welt zu profilieren –so wie Europa“.

Den dritten Teil „Europäische Kulturgeschichte“ beginnt Silvio Vietta (1941) mit der Darstellung des Modells einer europäistischen Literatur- und Kulturgeschichte „Romantikforschung europäisch“. Dabei deckt er drei Fehlschlüsse in der populären und populärwissenschaftlichen Diskussion auf: Zum einen, dass das Romantische in einem „Urgegensatz“ zur Aufklärung und Rationalität steht; zum zweiten die Identifizierung des Romantischen mit dem Deutschtum, und drittens die Identifizierung des Deutschen mit dem Irrationalen. Zahlreiche Interpretationen und scheinbar fest gemauerte Ungefragtheiten bei der Einordnung der Romantik als das Eigene Deutsche engen den literaturwissenschaftlichen Blick ein; heraushelfen könnte eine Europäistik der Kulturwissenschaft und eine Europäisierung des Kanons der literarischen Bildung.

Die Juniorprofessorin für Wissens- und Geschlechtergeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität, Claudia Bruns (1969), diskutiert in ihrem Beitrag die Bedeutung der Europäistik für eine Wissensgeschichte des Rassismus, indem sie nach der „Europäistik als ’kritische Okzidentialismusforschung’“ fragt. Die Autorin stellt dabei, durch die (verständliche und notwendige) Schwerpunktsetzung der deutschen Rassismusforschung in der Nachkriegszeit auf die Erforschung des Antisemitismus, eine Vernachlässigung der kolonialen Rassismen in Europa fest. Erst die Critical Whiteness-Forschung (vgl. dazu auch: Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Unrast-Verlag, Münster 2005, 540 Seiten), hat es ermöglicht, „die Geschichte Europas nicht einseitig als Fortschrittsgeschichte zu homogenisieren, sondern diese komplexer und reflexiver zu machen, indem sie Wendepunkte, Bruchstellen, Krisen und Opfer gewaltsamer Entwicklungen der Moderne ebenso in den Blick nehmen würde wie die damit verbundenen Prozesse der Emanzipation“.

Im vierten Kapitel kommt die Philosophie als Europawissenschaft zu Wort. Der Hildesheimer Philosoph Tilman Borsche (1947) stellt philosophische Reflexionen zum Thema „Europa als Zukunft – Zukunft Europas“ an. Die uralte Frage „Was ist Europa?“ lässt sich eindeutig nicht beantworten; weshalb es vielleicht hilfreich ist, danach zu fragen, „Was ist ein Europäer?“ und die aktuell-politische: „Welches Europa wollen wir?“. Die Schwierigkeit der Beantwortung auch dieser Frage besteht darin, dass das künftig zu errichtende Europa doch etwas anderes sein sollte als eine Nation im traditionellen Sinne. Für Borsche ist die Solidaritätsfrage entscheidend, und zwar eine kollektive Solidarität, die gründet in dem Bewusstsein, dass europäisches Handeln auch gut für die nationalen Interessen ist; dass ein gemeinsames Geschichtsbild vorhanden ist; dass das gemeinsame Bekenntnis zur Demokratie selbstverständlich ist; dass schließlich eine gemeinsame Verfassung die europäische Identität zum Ausdruck bringt.

Der Wiener Germanist Christian Stadler (1966) reflektiert die „europäische Identität und ihre geistig-philosophischen Grundlagen“. Dabei diskutiert er sowohl die geopolitischen Grundlagen, wie sie sich im europäischen Einigungsprozess darstellen, die rechtlich-philosophischen, wie sie z. B. im Reformvertrag von Lissabon deutlich werden; als auch die philosophisch-historischen Markierungen. Es komme, so der Autor, darauf an, den Begriff der europäischen Identität in die Spannweite einer „phänomenalen“ Gemeinsamkeit Europas einerseits und einer „noumenalen“ Bedingung der Möglichkeiten andererseits zu bringen.

Der an der Pädagogischen Hochschule Weingarten lehrende Philosoph Ralf Elm (1958) geht die Frage nach der Bedeutung der Europäistik für die Philosophie dadurch an, dass er Heideggers Analysen zur Metaphysik und neuzeitlichen Rationalität zum Anlass nimmt, sowohl seine Irrungen und Verstrickungen in seinem philosophischen Denken, als auch seine auf die antike griechische Philosophie zurückgreifenden Sinn- und Seinshorizonte darzustellen. Inwiefern die „Unverfügbarkeit des Anfangs“, die „Nicht-Beherrschbarkeit des Fortgangs“ und die „Nicht-Machbarkeit des neuen und ’anderen Anfangs’“ ein Baustein zu einer Europäistik aus philosophischer Perspektive sein kann, stellt Elm zur Diskussion.

Das fünfte Kapitel „Europa studieren – schul- und hochschuldidaktische Überlegungen“ leitet der Direktor des Seminars für Geschichte und Philosophie der Universität Köln, Jürgen Elvert (1955) ein mit dem Beitrag: „Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Geschichtsschreibung in Forschung und Lehre. Dass sich die Erziehungs- und Geschichtswissenschaften schwer tun, „Europäisierung“ als ein neues Paradigma des schulischen und außerschulischen Lehrens und Lernens zu denken und in Lehrpläne umzusetzen, ist für Didaktiker kein Geheimnis. Die Bemühungen des Rates und der im Rat vereinigten Minister für das Bildungswesen (1988), wie auch die der KMK, „das Bewusstsein der jungen Menschen für die europäische Identität zu stärken und ihnen den Wert der europäischen Kultur und der Grundlagen, auf welche die Völker Europas ihre Entwicklung heute stützen wollen… zu verdeutlichen“ und die europäische Dimension in Unterricht und Erziehung zu etablieren, sind, das erkennen wir unschwer in der Bildungswirklichkeit Elvert weist darauf hin, dass sich auch das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft (wie sicherlich ebenso der Erziehungs- und Sozialwissenschaften, JS.) immer noch zu stark auf nationalhistoriografischen Wegen befindet.

Susanne Popp (1955) von der Universität Augsburg und Vorsitzende der Konferenz für Geschichtsdidaktik, gibt einen Überblick über „visualisierte Geschichte in den Lehrwerken Europas“. Sie charakterisiert die Curriculumsituation „zwischen polysemantischen Vermittlungsstrategien und kanonischer Engführung“. Weil Geschichte, so Walter Benjamin, nicht in Geschichten darstellt), sondern in Bildern, widmet die Autorin gerade der Visualisierung von geschichtlichen Anlässen und Ereignissen ihre Aufmerksamkeit; denn werden etwa Bilder, die im nationalen Impetus entstanden sind und sich in den Geschichtswerken in den Bildungslandschaften Europas wieder finden, als historische und Zeit-Zeugen mit dem europäischen Blick betrachtet und nicht (nur) mit dem nationalhistoriografischen, so lassen sich Erkenntnisse mit transnational-europäischer und weltpolitischer Bedeutung gewinnen.

Der Vizerektor für Sozial- und Gesellschaftswissenschaften der Pädagogischen Hochschule Salzburg, Christoph Kühlberger (1975) analysiert verschiedene Geschichtsbücher in Österreich und anderen europäischen Ländern. Dabei stellt er fest, dass „tendenziell… ein integrativer Zugriff im Geschichtsunterricht jene historischen Zusammenhänge, die nur schwerlich als europäisch gelten können, vernachlässigt, auslässt oder marginalisiert“; damit aber werden wesentliche Entwicklungen in der europäischen Geschichte ausgeklammert bzw. gewohnte kanonische Traditionen unreflektiert fortgeschrieben. Mit dem Modell der „dezentrierten Spirale“, vom Lokalen, über das Regionale, Nationale, Kontinentale zum Globalen, bietet er für die Geschichtsdidaktik einen Zugriff für die stärkere Betonung der europäischen Identität an, wie sie im Spatial turn formuliert wird und einen Perspektivenwechsel, „dass historisches Lernen nicht bestimmte kollektive Muster legitimieren oder tradieren will (darf, JS), sondern bei den Schülern/-innen jene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften anbahnen möchte, damit diese selbständig mit fremden und eigenen historischen Sinnbildern umzugehen lernen, um Orientierung zu gewinnen“.

Im sechsten Kapitel geht es um die Betrachtung, wie Europa von den außerhalb des Kontinents lebenden Menschen gesehen wird. Die Politikwissenschaftlerin Claudia Derichs (1965), bis vor kurzem an der Universität Hildesheim und jetzt an der Universität Marburg tätig, hat ihren Forschungs- und Lehrschwerpunkt auf Asien und den Nahen Osten gelegt. Mit ihrem Beitrag „Europa als Counterpart des ’Orient’“ reflektiert sie die asiatischen Perspektiven bei der Betrachtung des Nachbarkontinents Europa. Sie stellt fest, dass die Regionalismusforschung neue Erkenntnisse und Anforderungen (auch) für die Europaforschung bringt. Derichs diskutiert dabei am Beispiel des Großraums Ostasiens mehrere theoretische Ansätze, die von der Politikwissenschaft in die Europäistik eingebracht werden können. Dieser „neue Regionalismus“ stellt sich insbesondere in neuen Formen der Identitätsbildung, der Kooperationen und Institutionalisierungen dar, die es den Europäern ermöglichen sollten, den „Blick über den nationalen (und europäischen) Tellerrand zu wagen; und dabei als Appell an die Europaforschung gerichtet, „die anderen Weltregionen nicht primär in ihrer Beziehung zur EU/zu Europa zu untersuchen, sondern auch diejenigen interregionalen Verbindungen einzubeziehen, die sich außerhalb Europas entwickelt haben“.

Der aus Moskau stammende Kulturwissenschaftler, Doktorand an der Universität Hildesheim, Alexej Ponomarev (1978) widmet sich in seinem Beitrag nicht vordringlich der Frage, ob Russland ein Teil des europäischen oder des asiatischen Raumes sei; vielmehr nimmt er „die ästhetische Wende zur Moderne als Brücke zwischen ’Ost’ und ’West’“ zum Anlass, bei der Rezeptionsgeschichte der europäischen Literatur in Russland nachzuschauen. Erst einmal: „Die kulturelle und nationale Identität Russlands (ist) ohne die europäische nicht denkbar“, mit Umkehrschluss! Am Beispiel des Romantisierungsprozesses in Russland macht er deutlich, dass Konfrontation und Adaption sich gegenseitig bedingten und miteinander konkurrierten. Welche der von Europa beeinflussten kulturellen und geistesgeschichtlichen Ideen in der zukünftigen Entwicklung in Russland sich durchsetzen, ist bislang nicht entschieden.

Paul Michael Lützeler (1943), Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft und für Europastudien an der Washington University in St. Louis/USA, denkt darüber nach, welchen Einfluss „US-Schriftsteller in Europa“ haben, insbesondere bei der Etablierung des „American Dream“. Lützeler geht es in seinem Beitrag insbesondere um die Frage nach dem Kulturtransfer in theoretischer Sicht. Die verschiedenen Richtungen, Mentalitäten und literarischen Ausdrucksformen von Schriftstellern aus den USA, von Benjamin Franklin und Thomas Jefferson, über Margaret Fuller, Marc Twain bis zu Gertrude Stein, Hemmingway, Henry Miller und anderen, fokussieren in der europäischen Rezeption überwiegend den American Dream. Jeremy Rifkin allerdings hat 2004 allerdings den Zeigefinger gewendet mit seinem Buch „The European Dream“ und der (globalen) Mahnung, vom Homo oeconomicus zum Homo empathicus zu werden (vgl. dazu auch: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Campus Verlag, Frankfurt/M., 2010, 468 S.).

Michael Gehler und die Doktorandin der Universität Hildesheim, Theda Bader (1978) legen im siebten Kapitel eine umfangreiche Bibliografie zum Themenbereich „Europa – Europäisierung – Europäistik“ vor, die sie klassifizieren in die Abteilungen:

  • Dokumentation und Editionen (I),
  • Bibliografien, Chronologien, Handbücher, Lexika und Nachschlagewerke (II),
  • Biografien, Erinnerungen, Memoiren und zeitgenössische Schriften (III),
  • Monografien, Gemeinschaftswerke und Spezialstudien (IV),
  • Sammelwerke (V) und
  • Aufsätze und Beiträge in Wochen- und Monatszeitungen, Diskussionspapieren, Fachzeitschriften, Sammelwerken und Festschriften (VI).

Zwar wird sich nicht jeder Autor und jede Autorin, die über Europathemen veröffentlicht hat, in der Bibliogafie wieder finden; aber Literaturauflistungen haben ja in sich, von Menschen geschrieben zu werden, die auch etwas übersehen.

Fazit

Diese (erste) umfassende Darstellung zu neuen wissenschaftlichen Ansätzen, Methoden und Inhalten zu den Themen- und Forschungsbereichen „Europa – Europäisierung – Europäistik“ ist ein Verdienst, der ohne Zweifel sowohl der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu den Fragen, was Europa ist, wie es sich entwickelt hat und werden soll, zugute kommt, wie auch Einflüsse und Auswirkungen haben wird, wie sich Europa im Bewusstsein der Europäer etabliert. Es fällt freilich auf, dass bei den Diskutanten die Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftler sich weitgehend zurückhalten. Das ist eine Lücke und sollte bei der Etablierung der Europäistik aufgefüllt werden; denn Europa entsteht in den Köpfen der jungen Menschen, und er muss, erzieherisch und bildend (nicht nur fachbildend) in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht werden. Damit europäische Identität nicht mehr gewünscht und eingefordert werden muss, sondern existiert, in Denken und Handeln der Menschen, die auf diesem Kontinent leben und sich als Teil der Menschheitsfamilie verstehen, wie dies in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert ist – „Die Anerkennung der allem Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (bildet) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ – bedarf es auch der Forschung. Die Europäistik kann ein Baustein dafür sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.04.2010 zu: Michael Gehler, Silvio Vietta (Hrsg.): Europa - Europäisierung - Europäistik. : Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2009. ISBN 978-3-205-78388-6. Reihe: Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen - 7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9268.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.


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