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Yesim Erim: Klinische interkulturelle Psychotherapie

Rezensiert von Prof. Dr. Hannes Stubbe, 26.07.2010

Cover Yesim Erim: Klinische interkulturelle Psychotherapie ISBN 978-3-17-020849-0

Yesim Erim: Klinische interkulturelle Psychotherapie. Ein Lehr- und Praxisbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2009. 323 Seiten. ISBN 978-3-17-020849-0. 48,00 EUR. CH: 65,90 sFr.

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Thema

Seit Emil Kraepelins (1856-1926) „Vergleichender Psychiatrie“ (1904), Wilhelm Wundts „Völkerpsychologie“ (1900ff) und Sigmund Freuds „Totem und Tabu“ (1912/13) haben sich verschiedene Arbeitsrichtungen bzw. Disziplinen in Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie herausgebildet, die eine kulturvergleichende bzw. interkulturelle Ausrichtung vertreten. Zu nennen sind hier z.B. in der Psychiatrie die „Transkulturelle Psychiatrie“ (Wittkower, Pfeiffer etc.), die „Ethnopsychiatrie“ (Wulff etc.) und die „Kulturpsychiatrie“ (Wen-Shing Tsen etc.), in der Psychologie die „Transkulturelle Psychologie/ Kulturvergleichende Psychologie“ (Thomas, Stubbe etc.), die „Psychologische Anthropologie“ (Beuchelt, Stubbe etc.), die „Klinische Ethnopsychologie“ (Quekelberghe), und in der Psychotherapie die „Transkulturelle (Kinder-)Psychotherapie“ (Andritzky, Stubbe, Leyer, Heise, Kakar etc.). In den meisten deutschsprachigen Psychotherapie-Lexika wie z.B. G.Stumm & A.Pritz (Hrsg.), Wörterbuch der Psychotherapie (2000) oder Psychotherapie-Lehrbüchern wie z.B. Reimer, Eckert, Hautziger, Wilke, Psychotherapie. Ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen (2007) oder Renneberg, Heidenreich & Noyon, Einführung Klinische Psychologie (2009) ist der Begriff „Interkulturelle Psychotherapie“ überhaupt nicht enthalten bzw. wird nicht diskutiert (zum Begrifflichen vgl. Stubbe, Lexikon der Ethnopsychologie und Transkulturellen Psychologie, 2005). Diese Bücher sind leider in der gesellschaftlichen und kulturellen Realität Deutschlands und im Zeitalter der Globalisierung noch nicht angekommen.

Es ist deshalb sehr verdienstvoll, dass jetzt die türkischstämmige Privatdozentin und Oberärztin Yesim Erim eine „Klinische Interkulturelle Psychotherapie“ herausgegeben hat, die speziell auf die deutschen Verhältnisse mit ihrer Vielfalt der unterschiedlichsten Migrantengruppen ausgerichtet ist.

Das „Kleine Lexikon der ethnischen Minderheiten in Deutschland“ (1997) zählte bereits 196 verschiedene Gruppen in Deutschland mit entsprechenden Literatur- und Zahlenangaben auf. Es ist jedoch verständlich, dass in Erims Lehrbuch nicht auf alle diese unterschiedlichen Gruppen eingegangen werden kann, sondern vor allem auf türkisch- bzw. polnischstämmige Migranten, sowie Migranten aus den ehemaligen GUS-Staaten und dem ehemaligen Jugoslawien.

Aufbau …

Sie gliedert ihr Buch in folgende 7 Teile mit entsprechenden Unterkapiteln:

  1. Teil: Interkulturelle Psychotherapie
  2. Teil: Psychische Störungsbilder im Kontext der Migration
  3. Teil: Implementierung von Psychotherapieangeboten für Migranten
  4. Teil: Spezielle Aspekte der Psychotherapie mit Migranten
  5. Teil: Kasuistische Einblicke in die Lebenswelten der Migranten
  6. Teil: Ethnosoziokulturelle Leitfäden für die größten Migrantengruppen
  7. Teil: Klinische Hilfen

… und Inhalt

In diesem Lehr- und Praxisbuch werden alle wichtigen Probleme der Interkulturellen Psychotherapie in Theorie und Praxis angesprochen, u.a.

  • die Dolmetscherfrage,
  • die interkulturelle Diagnostik,
  • die interkulturelle Beziehungsdynamik zwischen Patient und Therapeut,
  • spezifische Störungsbilder bei Migranten (z.B. Somatisierung, PTSD, Sucht),
  • die angemessenen psychotherapeutischen Versorgungskonzepte,
  • die Psychotherapie mit Flüchtlingen und Folterüberlebenden,
  • die stationäre Psychotherapie,
  • die Gruppen-, Familien- und Einzel-Psychotherapie,
  • die Sozialarbeit mit Migranten im Kontext der Psychotherapie,
  • sowie die Epidemiologie.

Einige Kasuistiken veranschaulichen sehr gut die spezifische psychosoziale Situation der Migranten.

Diskussion

Was den formalen Aufbau der Texte angeht, so hätte man sich für ein Lehrbuch eine manchmal didaktisch wohlgefälligere und eingängigere Darbietung (z.B. Kästchen, Hervorhebungen, Leitlinien etc.) gewünscht.

Wünschenswert wäre außerdem eine stärkere Einbeziehung der sich in Deutschland gegenwärtig rasant entwickelnden Forschungsrichtungen wie die Sozialpsychologie (vgl. Einstellungen, Stereotype, Vorurteile, Rassismus), Transkulturelle Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie, die Interkulturelle Psychologie, Ethnopsychologie, Ethnopsychoanalyse, Psychologische Anthropologie, Interkulturelle Sozialarbeit etc. gewesen. So ist auch das Literaturverzeichnis noch ergänzungsbedürftig.

Man sollte sich bei der Lektüre dieses Klinischen Lehrbuches auch daran erinnern, was der Migrationsforscher Klaus J.Bade (2004) zu Recht betont, wenn er vom „Normalfall Migration“ in der Menschheits- und deutschen Geschichte spricht, und sich vor einer grundsätzlichen „Psychopathologisierung“ (im Sinne eines Abwehrmechanismus) der Migranten-Gruppen hüten. Die Sesshaftigkeit des Menschen ist erst eine Erfindung des Neolithikums! Also jüngeren Datums.

Fazit

Das Buch ist für alle, die sich im Gesundheitsbereich mit Migranten beschäftigen, eine sehr gute Einführung.

Rezension von
Prof. Dr. Hannes Stubbe
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Es gibt 5 Rezensionen von Hannes Stubbe.

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Zitiervorschlag
Hannes Stubbe. Rezension vom 26.07.2010 zu: Yesim Erim: Klinische interkulturelle Psychotherapie. Ein Lehr- und Praxisbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2009. ISBN 978-3-17-020849-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9280.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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