Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.04.2010
Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2010. 298 Seiten. ISBN 978-3-88897-648-3. 19,90 EUR.
Resilienz oder menschliches Weltkulturerbe?
Wenn Begriffe gewissermaßen unser Leben und Streben bestimmen, beeinflussen und möglicherweise sogar verändern, ist es angebracht, eine Nachschau über Entstehung, Verständnisse und Missverständnisse des Begriffs vorzunehmen. Das ist zum einen eine Aufgabe der Sprachwissenschaftler, zum anderen eine für Sensibilitätsexperten. Der Germanist, Anglist und Journalist Ulrich Grober hat sich daran gemacht, vielleicht bei seinen geliebten Wanderungen in den Wäldern und Landschaften unserer Umgebung (vgl. dazu vom Autor: Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst, 2006), diesem Begriff auf die Spur zu kommen: Nachhaltigkeit ist in aller Munde, und der Begriff wird mittlerweile in so unterschiedlichen Zusammenhängen richtig und falsch benutzt, dass er, so befürchten nicht wenige, zu einer Floskel ohne Bedeutung zu werden droht. Da ist es sinnvoll, den Begriff "neu zu vermessen". Sustainability, dieser Begriff blitzte auf, als die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED), die so genannte Brundtland-Kommission, 1987 ihren Bericht "Our Common Future", unsere gemeinsame Zukunft, mit der Mahnung an die Menschheit vorlegte, eine ökologisch tragfähige Entwicklung einzuleiten und das throughput growth, das "Durchflusswachstums" - Denken einzustellen. Während allerdings die einen die Warnung eher als einen Kassandraruf verstehen und umschiffen wollen mit der Aufforderung, ein bisschen weniger (wirtschaftliches) Wachstum zu denken und zu produzieren, sehen die anderen den homo oeconomicus bereits in der Falle sitzen und nicht mehr zu retten. Das Dilemma ist deutlich: Wenn das Lehrwort zum Leerwort wird, verringern sich auch die Chancen zu verwirklichen, was die Weltkommission "Kultur und Entwicklung" 1995 als drängendste Aufgabe postuliert hat: "Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden". Über die Frage nach der Bedeutung und den Möglichkeiten, die (Eine) Welt nachhaltiger zu gestalten, gibt es mittlerweile vielfältige Auslassungen (vgl. z. B.die Rezension zu: Petra C. Gruber, Hrsg., Nachhaltige Entwicklung und Global Governance. Verantwortung, Macht, Politik, 2008).
Aufbau und Inhalt
Ulrich Grober geht an die Thematik erzählerisch heran. In dreizehn Kapiteln nähert er sich der Frage, wie die Begrifflichkeit sich im Laufe des philosophischen, ökologischen und real-globalen Denkens und Diskutierens der Menschen entwickelt und verändert hat.
Der Autor setzt an bei den sehr konkreten (Hunger- und Mangel-)Situationen im heutigen Afrika, etwa in der westafrikanischen Sahelzone, in der die Dürrekatastrophen die Menschen zu Entbehrungen zwingen und an Wirtschaftsweisen erinnern, die sie, wie es scheint, in der globalen Euphorie vergessen hatten; an ein Resilienzdenken und –handeln, als „Fähigkeit, Schläge aller Art von sich abfedern zu lassen und Widerstandskräfte zu mobilisieren, um Perioden der Entbehrung nicht nur zu überstehen, sondern aktiv zu überwinden und dabei Lebensmut, Lebensfreude und Freundlichkeit zu bewahren“. Von dieser Form des Nachhaltigkeitsdenkens, bis zum Sonnengesang des heiligen Franziskus ist ein scheinbar weiter Weg; und doch finden wir bereits hier die Grundideen, die sich auch beim französischen Philosophen Descartes, bei Spinoza, bei Goethe…, lesen lassen. Es war der Oberberghauptmann Carl von Carlowitz, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erkannte, dass der massive und ungezügelte Raubbau der Wälder nicht nur zu einer ökologischen Katastrophe, sondern auch zum wirtschaftlichen Zusammenbruch des Staates führen müsse. „Daß man mit dem Holtz pfleglich umgehe“, so schreibt er es 1713 in seiner „Sylvicultura oeconomica“ ins Stammbuch der Zeitgenossen. Die Formel, die für das Nachhaltigkeitsverständnis bis heute gilt: Nicht mehr Holz nutzen, als der Wald hervorbringen kann. Der Pfarrer und Naturforscher Carl Nilsson Linnaeus (Linné) war es schließlich, der 1749 den weiteren, grundlegenden Gedanken zur Nachhaltigkeit formulierte, den der Generationenverantwortung: „Um die ununterbrochene Fortdauer der Geschöpfe zu erhalten… (ist es notwendig, J.S.), dass endlich der Untergang und die Auflösung des einen allezeit zur Herstellung des anderen dienen“. Und die Linie der Ökologen lässt sich weiter führen; mit Alexander von Humboldt etwa, der in seinem Opus magnum „Kosmos“ das Naturganze mit dem ganzen Menschen in Einklang zu bringen versuchte; und es war der Weimarer Biologe Ernst Haeckel, der 1866 zum Ökologischen den Entwicklungsbegriff hinzufügte: „Entwicklung heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Rätsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung gelangen können“. Bei der zweiten Konferenz der Vereinten Nationen, die sich 1992 in Rio de Janeiro mit der Lage der Menschheit auseinander setzte und postulierte – „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte“ –stand der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ im Mittelpunkt des globalen Diskurses. Über Asien, Afrika, Lateinamerika, Europa, bis hin zu unserem „vor Ort“ und der Diskussion um Energienutzung und –verbrauch ziehen sich die Reflexionen des Autors mit der aktuellen Frage: Gelingt der Übergang vom „fossilen Zeitalter“ zum solaren, zum „new deal“? Zahlreiche Weltmodelle liegen dafür vor; von den Berichten an den Club of Rome, über den Bericht an den Präsidenten, die Berichte der Nord-Süd- und der Süd-Süd-Kommission, bis hin zu Al Gores „Jetzt!“ (vgl. z. B. die Rezension zu: Al Gore : Wir haben die Wahl. Ein Plan zur Lösung der Klimakrise, München 2009). Denn dass die Menschheit längst an den Grenzen ihrer Existenz angekommen ist, wird kaum mehr bestritten. 2010 haben die Vereinten Nationen das Internationale Jahr der Biodiversität ausgerufen; eine engagierte internationale Expertengruppe hat einen Entwurf für eine Weltethik zum Schutz und zur Erhaltung des Lebens auf der Erde in den globalen Diskurs gebracht; „Erdpolitik“ als neue Herausforderung für die Menschheit ist angesagt (vgl. dazu: Ernst U. von Weizsäcker, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt, 1990; sowie: Jill Jäger / Klaus Wiegandt, Hrsg., Was verträgt unsere Erde noch? Wege in die Nachhaltigkeit, Frankfurt/M., 2006).
Fazit
Der „ökologische Fußabdruck“, als Maßband für die Vermessung des notwendigen Lebensraums für ein gerechtes, lebenswertes menschliches Leben auf der Erde, bedarf der Neuvermessung, damit die schreckliche Spirale des zunehmenden Reichtums der bereits Wohlhabenden und der zunehmenden Armut der Habenichtse lokal und global beendet und zurückgedreht werden kann und ein humanes Leben für alle Menschen auf der Erde möglich wird. Ulrich Grober hat eine faszinierende Erzähl-Analyse über den Begriff „Nachhaltigkeit“ verfasst. Dabei ist er von der semantischen Betrachtung, über den historischen Aufriss zur ganz existentiellen Menschheitsfrage gekommen; zufällig? Nein, denn die Gedanken, die er in der Nähe von Goethes Gartenhaus in Weimar vor der vom Dichterfürsten entworfenen „Stein des guten Glücks“ hat, symbolisieren für den Autor, in der Stille des Ortes und der Klangfülle der Natur das, was wir „nachhaltige Entwicklung“ bezeichnen. Ein gutes Bild, das jeder an vielen Orten erleben kann, wenn er sich einlässt auf ein Bewusstsein, dass ein nachhaltiges Denken und (Er-)Leben, lokal und global, nicht vom Himmel fällt oder von irgendwelchen Mächten gegeben wird, sondern erworben werden muss, „vor Ort“ und in Gemeinschaft mit den immerhin schon vielen Menschen auf der Erde, die davon überzeugt sind, dass wir eine „empathische Zivilisation“ benötigen (vgl. z. B. die Rezension zu: Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.04.2010 zu:
Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2010.
ISBN 978-3-88897-648-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9284.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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