Rüdiger Müller-Isberner, Sabine Eucker: Therapie im Maßregelvollzug
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 30.06.2010
Rüdiger Müller-Isberner, Sabine Eucker: Therapie im Maßregelvollzug. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft (Berlin) 2009. 155 Seiten. ISBN 978-3-941468-13-9. D: 34,95 EUR, A: 41,15 EUR, CH: 69,50 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-95466-287-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Autorinnen und Überblick
Rüdiger Müller-Isberner und Sabine Eucker arbeiten als ärztlicher Direktor und leitende Psychologin in der größten Maßregelvollzugsklinik Hessens in Haina. Beide Autoren sind in der forensischen Fachwelt langjährig als Autoren, Wissenschaftler und Referenten bekannt. Die vorliegende Publikation basiert auf Kapiteln aus dem renommierten Handbuch zur Psychiatrischen Begutachtung von Venzlaff, Foerster und Dreßing, das die Autoren 2004 und 2008 dort publiziert hatten. Diese Beiträge wurden für den vorliegenden Band überarbeitet, erweitert und neu zusammengestellt. Die für die Behandlungspraxis ausgelegten Beiträge wollen eine wissenschaftsbasierte Orientierung zur forensischen Kriminaltherapie vermittelten.
Aufbau und Inhalt
Der nur ca. 120 Textseiten umfassende schmale Band ist in 14 Kapitel untergliedert, welche jeweils einen Umfang von knapp einer halben Seite bis zu 19 Seiten umfassen. Neben der Einleitung finden sich Überlegungen zum
- Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Kriminalität
- Grundlagen der Kriminaltherapie
- Klientel des psychiatrischen Maßregelvollzugs (MRV)
- Organisation und Durchführung des MRV
- Praxis der Behandlung
- Kriminaltherapeutische Methoden
- Besondere Behandlungsprobleme bei einzelnen Patientengruppen
- Evaluation
- Rechtliche Fragen aus psychiatrischer Sicht
- Begutachtungsfragen
- Ethische Aspekte
- Maßregelvollzug und Öffentlichkeit
- Ausblick
Das 23 Zeilen kurze Einleitungskapitel greift lediglich die zentralen rechtlichen Grundlagen des psychiatrischen Maßregelvollzugs in Deutschland auf und benennt den Gegenstand der Behandlung von Patienten im Vollzug: die Verbesserung der Kriminalprognose.
Im Abschnitt zum Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Kriminalität verweisen die Autoren zunächst auf empirische Befunde, die ein erhöhtes Delinquenzrisiko bei bestehender psychischer Störung, etwa ein erhöhtes Gewaltrisiko belegen. Überwiegend amerikanische Studien benennen ein um bis das 10-fach erhöhte Risiko für Straftaten bei Menschen mit schizophrenen Psychosen, bipolarer Störung oder Depression. Die Abhängigkeit des Kriminalitätsrisikos von einer bestehenden psychischen Störung wird vor dem Hintergrund individueller Defizite (Einschränkung der Emotionalität, Empathiefähigkeit, Affekt- und Impulskontrolle, etc.) der Patienten beschrieben. Die Ursachen der für den MRV zentralen Störungsbilder wird in biologischen, vorwiegend genetischen Aspekten und der darauf aufbauenden Gen-Umwelt-Interaktion verortet. Die genetische Disposition, wie sie z. B. für bestimmte Formen der Persönlichkeitsstörung beschrieben wurde, trifft auf bestimmte Umweltbedingungen, die antisoziales Verhalten fördern und aufrechterhalten (z. B. bestimmte familiäre Bedingungen und soziale Netzwerkmerkmale). Am Beispiel der dissozialen Persönlichkeit wird der Zusammenhang zwischen psychischer Störung und Kriminalität abschließend erörtert.
Das Kapitel „Empirisch gesichertes Wissen zur Kriminaltherapie“ eröffnen die Autoren mit einer umfassenden Kritik am deutschen MRV: empirisch begründete Behandlungsprogramme würden dort oftmals „schlicht fehlen und im Falle ihres Vorhandenseins häufig schlecht implementiert, unzureichend evaluiert, theoretisch wenig begründet und unvollständig beschrieben und dokumentiert“ (17) sein. Auf welcher Basis dieser Befund erhoben wird, welche empirische Absicherung für diese These vorliegt, teilen Müller-Isberner und Eucker leider nicht mit. Dem Rezensenten ist keine umfassende Erhebung zur Qualität der Behandlung im psychiatrischen MRV in Deutschland bekannt, auf deren Grundlage sich ein solch düsteres Bild zeichnen ließe. Als zentrale Bausteine werden dann Pharmakotherapie, Case Management, Ergotherapie, Arbeitstherapie, psychoedukative Verfahren, Training sozialer Fertigkeiten, Training kognitiver Fähigkeiten und Psychotherapie benannt und jeweils kurz beschrieben. Damit finden vorwiegend bereits länger eingeführte Behandlungsansätze Berücksichtigung, die hier kurz definiert und vorgestellt, allerdings nicht umfassend beschrieben werden. Die Autoren formulieren die Notwendigkeit der Evaluation forensisch-psychiatrischer Behandlung und Nachsorge und stellen auch hier eine Reihe amerikanischer Evaluationsstudien zur Wirksamkeit der Straftäterbehandlung vor.
Im Kapitel zur „Klientel des psychiatrischen Maßregelvollzugs“ werden die häufigsten Diagnosegruppen (funktionelle Psychose, Persönlichkeitsstörung, geistige Behinderung und organische Hirnschädigung) genannt, wobei auch hier auf die Nennung der empirischen Grundlagen für diese Verteilung verzichtet wird. Die Patienten weisen, so die Autoren, oft eine umfangreiche Krankheitsgeschichte auf, so dass es zu chronifizierten Krankheitsbildern gekommen ist. Die Patienten werden als wenig motiviert für eine Behandlung beschrieben „und es ist schwierig mit ihnen umzugehen“ (31). Mehrheitlich sei für die Patienten nicht von einem Behandlungsziel der „Heilung“ auszugehen, Behandlungsziele sind eher Symptomreduzierung, Stabilisierung und die Verbesserung der sozialen Anpassung. Auf Grundlage einer statistischen Erhebung aus dem Bundesland Hessen werden Daten zur Patientenstruktur („Basisdaten“) vorgestellt, welche als repräsentativ für das gesamte Bundesgebiet eingeschätzt werden. Demnach befinden sich im MRV vorwiegend Menschen mit erheblicher Delinquenz (Körperverletzung, Tötungsdelikte, Sexualdelikte, Brandstiftung). Hinter der Delinquenz der Patienten stehen –neben der psychischen Erkrankung- weitere Faktoren, welche die Straffälligkeit begründen: Suchtmittelmissbrauch, Dissozialität, kognitive Beeinträchtigung und exogene Tatinduktion. In der hier vorgestellten Studie wurden pro Patient im Durchschnitt „2,5 Delinquenzursachen“ (33) gefunden. Entsprechend der breiten Streuung müssen Behandlungsprogramme im MRV an den unterschiedlichen Aspekten ansetzen.
Der Abschnitt zur Organisation des MRV beschreibt die Vor- und Nachteile kleinerer, gemeindeorientierter Einrichtungen und größerer, zentral organisierter Kliniken. Erstere profitieren von den kurzen Wegen bei Resozialisierung und Rehabilitation, letztere von der Möglichkeit, spezialisiertere Behandlungsprogramme für die insgesamt inhomogene Gruppe der Maßregelpatienten vorhalten zu können. Die Organisation der Behandlung soll insgesamt an den Prinzipien Behandlungsbedürfnisse (Aufnahme und Diagnostik, Behandlung, Entlassvorbereitung), Sicherungsgrad und Behandelbarkeit der Patienten orientiert sein. Bemerkenswert ist die Grundhaltung des Autorenteams, dass die Gesundung des Patienten „nur Mittel zum Zweck“ (38) sei, der Zweck sei der Schutz der Gesellschaft vor den psychischen kranken Straftätern, entsprechend der Tatsache, dass der Auftraggeber für die Behandlung nicht der Patient, sondern die Gesellschaft sei. Die daraus ableitbaren Grundregeln für den MRV begründen den Grundwiderspruch des MRV, der eben „Sicherung“ und „Besserung“ ermöglichen soll.
Das längste Kapitel des Bandes befasst sich mit der Praxis der Behandlung. Kernstück ist für die Autoren das Rückfallvermeidungsmodell, die Annahme, dass bestimmte Entscheidungs- und Verhaltensmuster zu Delikten führen. Die Identifikation und Kontrolle dieser Muster, ggf. der Aufbau alternativer Verhaltensmöglichkeiten soll zur Deliktverhinderung führen. Da Maßregelpatienten oftmals nicht über ausreichende Behandlungsmotivation verfügen, ist dem Aufbau von Veränderungsmotivation und der „Herstellung von Therapiefähigkeit“ (47) in diesem Kapitel bereiter Raum gewidmet. Müller-Isberner und Eucker legen den Schwerpunkt hier auf die Aspekte Transparenz, Konfrontation und klare Grenzsetzung bzgl. unerwünschter Verhaltensweisen wie Gewaltandrohung, Entweichung, Behandlungsverweigerung etc. Leider beschränken sich die Autoren auf die an vielen Stellen breit publizierte kriminaltherapeutische Basistechnik der Arbeit am Deliktszenario. Angaben zur biografischen Verortung des problematischen Verhaltens, zur Aufarbeitung eigener Missbrauchs- und Gewalterfahrungen der Täter fehlen völlig. Als weitere Schritte der Behandlungspraxis werden Techniken der Therapieevaluation („Verlaufskontrolle“), sowie stichpunktartig Resozialisierung und Nachsorge umrissen, die jeweiligen Quellen dazu benannt. Leider bleiben die Ausführungen zu den letzten beiden Aspekten skizzenhaft, so dass eine direkte Umsetzung in die Praxis schwer fallen dürfte. Ausführlich wird aber auf die Situation der im MRV tätigen Berufsgruppen und unterschiedlichen Belastungssituationen (burn-out, Spannungsfeld von Behandlung und Sicherung, langfristige Behandlungsdauer) eingegangen. Allerdings bleiben die Hinweise zur Verbesserung der Mitarbeitersituation auch hier eher an der Oberfläche („Wertschätzendes Besprechungsklima, in dem aktive Beiträge jedes einzelnen Mitarbeiters … ausdrücklich erwünscht sind“) (57), bzw. gehen über das Maß an Selbstverständlichkeiten („kompetente Besprechungsleitung“) (57) nicht hinaus.
In einem eigenen Kapitel werden dann „Krimnaltherapeutische Methoden“ beschrieben. Die Autoren zielen hier auf medikamentöse Behandlung und vorwiegend manualisierte Behandlungsprogramme aus der internationalen Straftäterbehandlung mit kognitiv-behavioraler Ausrichtung. Daneben werden weitere allgemeine Behandlungsansätze aus dem gesamten Sozial- und Gesundheitsbereich (Ergotherapie, Casemanagement, Milieutherapie) aufgezählt. Auch die „klassische Sozialarbeit“ (67) findet hier eine kurze Erwähnung, wobei die Disziplin hier eine Reduktion auf rein sozial-administrative Aspekte erfährt („Beschaffung finanzieller Mittel“; „Erfassung und Sicherung der sozioökonomischen Situation“) (67).
Kapitel acht ist den besonderen Behandlungsproblemen bei einzelnen Patientengruppen gewidmet. Acht Patientengruppen (u. a. Sexualstraftäter, Gewaltstraftäter, Brandstifter, „Psychopathy“) werden auf insgesamt 13 Seiten aufgegriffen. Einige Überlegungen zu Behandlungsstrategien werden angestellt und die aktuelle Praxisliteratur aufgelistet. Die Darstellungen sind auch hier eher stichpunktartig und stellen in einzelnen Abschnitten (z. B. zu Psychopathy) nicht den vollständigen Wissensstand dar.
Die Evaluation der psychiatrischen Kriminaltherapie ist Gegenstand des neunten Kapitels. Hier erfolgt zunächst erneut die Feststellung, dass es keine bundesweite Erhebung zur Klientel und ihrer Behandlung im Maßregelvollzug gibt. Unterschiedliche Evaluationskonzeptionen werden im Weiteren vorgestellt und am Beispiel der Datenlage in Hessen beispielhaft erläutert. Dort kam es ab den 1990er Jahren zu einer Verbesserung des Behandlungserfolgs, der durch die Abnahme schwerer Rückfallstraftaten der entlassenen Patienten gekennzeichnet ist. Die Autoren sehen die positive Entwicklung der Leistungskennwerte in der Einführung unterschiedlicher Techniken und Methoden begründet: Differenzierung des stationären Behandlungsangebots nach Patientengruppen, Einführung evidenzbasierter Kriminaltherapie und damit Abkehr von tiefenpsychologisch orientierten Behandlungsansätzen hin zur Verhaltenstherapie, Risikobeurteilung der Patienten mittels strukturierter Verfahren (PCL, HCR-20), Einführung verbindlicher ambulanter Nachsorge und Aufstockung des Personals. Die Autoren weisen allerdings auch darauf hin, dass besonders problematische Patientengruppen (z. B. Menschen mit Persönlichkeitsstörung) weiterhin therapeutisch nicht so erreicht werden können, dass ihre Entlassung möglich würde. Die Entlassungszahlen in dieser Gruppe haben sich bei gleichbleibenden Einweisungszahlen mittlerweile halbiert.
Im zehnten Kapitel wird ausführlich auf die rechtlichen Grundlagen und die sich daraus ergebenden Fragen des Maßregelvollzugs eingegangen. Ausführlich befassen sich die Autoren u. a. mit den Aspekten Schweigepflicht, Grundrechtseinschränkungen, Zwangsbehandlung und Lockerungsgewährung. Die umfangreiche Weitergabe von Informationen zum Behandlungsverlauf ergibt sich aus der Notwendigkeit, Lockerungs- und Entlassempfehlungen gegenüber den juristischen Instanzen zu begründen, u. a. Müller-Isberner und Eucker sehen hier keinerlei Einschränkungsbedarf und plädieren für ein hohes Maß an Transparenz gegenüber den Patienten, wodurch deren „Unbehagen“ begegnet werden könne. Im Bereich der Grundrechtseinschränkungen spielt der Freiheitsentzug eine zentrale Rolle. Durch die Zentrierung auf kriminaltherapeutische Technik und standardisierte Risikoeinschätzung sei dem Grundrechtsgedanken auf persönliche Freiheit entsprochen, wodurch eine objektive Abwägung, ob Eingriffe in die Grundrechte notwendig sind, erfolgen könne.
Im elften Kapitel gehen die Autoren auf unterschiedliche Begutachtungsfragen ein. Diese betreffen die Notwendigkeit der Anordnung der Unterbringung im MRV und dessen Beendigung, die Vollzugsreihenfolge bei paralleler Verhängung von Haftstrafe und Unterbringung, verschiedene Formen von Prognosegutachten und Stellungnahmen. Die Erörterung der Grundlagen und Überlegungen zur Ausgestaltung der Bearbeitung werden hier durch zwei knappe Fallbeispiele ergänzt, wodurch die theoretischen Ausführungen gut nachvollziehbar werden.
Ethische Aspekte spielen in der Psychiatrie, vor allem dort wo es zu Zwangsbehandlung, zur Einschränkung von Grundrechten und zum dauerhaften Widerspruch zwischen Besserung und Sicherung, zum Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle kommt eine erhebliche Rolle. Die Autoren gehen auf diese Thematik mit nur einer halben Seite Text ein. Über diese Thematik sei „viel geschrieben worden“ (121). Anstatt diese Diskussionsgeschichte nachzuzeichnen und wesentliche Eckpunkte zusammen zu fassen, beklagen Müller-Isberner und Eucker erneut, dass es versäumt wurde, aus dem Freiheitsrecht der Patienten „für die Behandler die Verpflichtung ab(zu)leiten, jene evidenzbasierten Verfahren zur Anwendung zu bringen, die sich in der (Psycho)Therapieforschung als die signifikant wirksameren erwiesen haben“ (121). Dieser Gedankengang, bedürfte allerdings der Ausformulierung und weiteren Begründung und damit der Beantwortung ethischer Fragestellungen, wofür im knappen Kapitel allerdings der Platz fehlt(e).
Dem Verhältnis MRV und Öffentlichkeit ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Auf einer Seite Text wird festgehalten, dass es „Maßregelvollzug und Öffentlichkeit … nicht leicht miteinander“ (123) haben. Zwischenfälle in der Behandlung, vordringlich Entweichungen untergebrachter Patienten führen zu negativer Presse, was von Behandlungseinrichtungen dann regelhaft als „unfaire Behandlung“ (123) beklagt würde. Anstatt diesen Ritualen zu folgen, formulieren die Autoren eine offensive Pressearbeit, welche –natürlich- die Evidenzbasierung der Klinik, die allgemeine Verlässlichkeit dieser Methoden und das Bedauern des aktuellen Vorfalls zum Ausdruck bringen soll.
13 Zeilen umfasst schließlich das abschließende vierzehnte Kapitel „Ausblick“. Hier wird erneut kritisiert, dass das in den letzten Jahren umfangreich gewachsene Wissen zur Täterbehandlung, so wie es im vorliegenden Band vorgestellt wird, in der Praxis nicht umgesetzt würde. Stattdessen würden persönliche Neigungen und Vorlieben der Therapeuten die Behandlungspraxis prägen. Hier sehen die Autoren „für die Zukunft noch deutliche Verbesserungspotentiale“ (125).
Diskussion
Die Autoren treten an, die „erste vollständige Zusammenfassung aller Aspekte zum Thema“ (Umschlagrücken) darzustellen und damit „eine große Lücke“ zu füllen. Gemessen an diesem Anspruch geraten die einzelnen Kapitel des Buches zu kurz und haben oft eher überblicksartigen Charakter. Erklärungsansätze zum Zusammenhang psychische Störung und Kriminalität beschränken sich z. B. auf die in der Person des Täters liegenden Defizite, es fehlen Hinweise zu psycho-sozialen Aspekten, etwa, wie psychische Störungen in der modernen Psychiatrie behandelt werden, unter welchen Bedingungen diese Menschen gefördert bzw. nicht gefördert werden und ggf. durch die Maschen des Gesundheitssystems fallen, oder welche Inklusionsmaßnahmen es für diese Menschen gibt, bevor sie straffällig werden. Ebenso fehlt die Darstellung des Diskurses zu den rasanten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, welche zu individuellen Belastungen und zur Entwicklung psychischer Probleme führen. Das dem Buch zugrunde liegende Störungsverständnis ist auf in der Person des Täters verortete Defizite und kriminogene Bedürfnisse konzentriert. Die aktuellen Ansätze zur Ressourcenorientierung in der Täterbehandlung fehlen völlig.
Besonders schmerzlich fällt der knappe, zu kurz greifende Stil bei der Diskussion um Behandlungsgrundlagen auf. So hätte zumindest die Festlegung des Behandlungszwecks in Kapitel Fünf (Behandlung als Mittel zum Zweck des Gesellschaftsschutzes, S. 38) diskutiert werden müssen. Diese Chance unterblieb. Schließlich lässt sich aus § 63 StGB auch ein Behandlungsanspruch für den psychisch kranken Straftäter ableiten (Besserung), ein genuiner Menschenrechtsanspruch, der auch jenseits von Sicherung und Schutz der Allgemeinheit eine Rolle spielt. Die Zentrierung der Behandlung auf kriminaltherapeutische Ansätze wie Deliktrekonstruktion und Arbeit mit Rückfallvermeidungsplänen, bei völligem Fehlen der Biografiearbeit und allgemein psychotherapeutischer Methodik greift zu kurz und wird auch dem Entwicklungsbedürfnis vieler Patienten nicht gerecht. Für ein praxisorientiertes Buch sind erstaunlich wenige Fallbeispiele enthalten, die notwendig wären, um die theoretischen Ausführungen auf Praxisebene nachvollziehen zu können. Dadurch wird die Chance, ein Buch für die Praxis zu schreiben weitgehend vergeben. In einzelnen Abschnitten fehlen innovative Ansätze; so heißt es z. B. im Abschnitt zur Behandlung von „Patienten die das Merkmal ‚Psychopathy‘ aufweisen“ (84), dass diese schlichtweg nicht behandelbar seien. Hier wäre die Darstellung und Diskussion neuerer Behandlungsansätze (vgl. Rezension zu Rotgers) mehr als wünschenswert gewesen.
Die mit der Reform der Führungsaufsicht 2007 gewachsene Bedeutung ambulanter und teilstationärer Behandlungsansätze in der Forensischen Psychiatrie wird nur knapp aufgegriffen. Die Aspekte Wiedereingliederung und Entlassung werden auf knapp einer Seite, die Nachsorge auf zwei Seiten abgehandelt. Der im Buch proklamierte Praxisanspruch kommt auch hier deutlich zu kurz.
Zielgruppe
Die Autoren möchten mit dem vorliegenden Band Praktiker des Maßregelvollzugs, Ärzte, Psychologen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter und Ergotherapeuten ansprechen und ihnen eine rasche wissenschaftsbasierte Orientierung über evidenzbasierte Therapie im MRV vermitteln. Das Buch wendet sich auch an Studierende in den genannten Ausbildungsgängen.
Fazit
Die Autoren schreiben zum Stellenwert der vorliegenden Publikation: „Dieses Buch stellt erstmalig umfassend alle Aspekte der Behandlung in der Unterbringung gem. § 63 StGB dar und füllt damit eine Lücke“. Das ist deutlich übertrieben. Mit den Standardwerken von Stolpmann, Schmidt-Quernheim & Hax-Schoppenhorst (vgl. die Rezension), sowie dem fünfbändigen Handbuch Forensische Psychiatrie (vgl. die Rezension) liegen umfangreiche und vor allem vollständigere, aktuellere Kompendien vor. Es entsteht der Eindruck, dass die knappen Ausführungen der Autoren, die im Rahmen eines Begutachtungshandbuches bereits publiziert wurden, für die vorliegende Veröffentlichung lediglich knapp überarbeitet und arrangiert wurden. Eine „umfassende alle Aspekte der Behandlung“ darstellende Publikation ist so nicht entstanden.
Literatur
- Stolpmann, G. (2001): Psychiatrische Maßregelbehandlung. Eine Einführung. Göttingen: Hogrefe
- Venzlaff , U., Foerster, K. (Hg.) (2004): Psychiatrische Begutachtung. 4. Auflage. Heidelberg: Gustav Fischer Verlag
- Foerster, K., Dressing, H. (Hg.) 2008): Psychiatrische Begutachtung. 5. Auflage. München: Elsevier, Urban
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 30.06.2010 zu:
Rüdiger Müller-Isberner, Sabine Eucker: Therapie im Maßregelvollzug. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Berlin) 2009.
ISBN 978-3-941468-13-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9297.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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