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Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): Vom Zauber des Schönen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.04.2010

Cover Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): Vom Zauber des Schönen ISBN 978-3-552-05495-0

Konrad Paul Liessmann (Hrsg.): Vom Zauber des Schönen. Reiz, Begehren und Zerstörung. Zsolnay (Wien) 2010. 256 Seiten. ISBN 978-3-552-05495-0. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 34,50 sFr.

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Schönheit können wir nicht begreifen, aber erleben

Zu allen Zeiten, seit Menschen zusammen leben, sich vergleichen, in die vielfältigen Formen eines Spiegels schauen, sich über das eigene Aussehen freuen, erschrecken, triumphieren über die eigene Schönheit und die Hässlichkeit anderer Menschen, haben sie auch darüber nachgedacht, was es ist: Schönheit! Der französische Lyriker, Philosoph und Essayist .Paul Ambroise Valéry (1871 - 1945) hat das einmal so ausgedrückt: Schönheit ist, was uns verzweifeln lässt! Die Vorbilder von Schönheitsauffassungen, etwa die ägyptische Nofretete, wie wir sie heute im Berliner Neuen Museum bewundern können, oder Leonardo da Vincis Mona Lisa, die uns im Pariser Louvre rätselhaft anschaut, haben ohne Zweifel geprägt, was wir unter Schönheit verstehen. Die „Schönheitsköniginnen“ von heute sind nach wie vor nach diesen Bildern „gemacht“; und die „Schönheitschirurgie“ ermöglicht die Veränderung des eigenen Aussehens, das man sich selber nicht mehr erkennt. Die Lust und Last mit den Schönheitsempfindungen hat Philosophen immer wieder umgetrieben. Aristoteles und seine Zeitgenossen haben Schönheit immer in Verbindung mit dem Guten gebraucht: „Das Schöne ist eine Form des Guten“ (C. Oser-Grote, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005). Mit dem deutschen Sprichwort – „Wahre Schönheit kommt von Innen“ – wird ja ausgedrückt, dass ein guter Charakter attraktiv und ein schlechter hässlich macht. Diese volkstümliche Auffassung haben übrigens die amerikanischen Forscher Kevin Kniffin von der Universität von Wisconsin und David Sloan Wilson von der Binghamton-Universität in Experimenten bestätigt gefunden: Wenn Menschen andere Personen als schön oder hässlich einschätzen, berücksichtigen sie dabei auch deren Charaktereigenschaften der Personen. Das ist gar nicht so verwunderlich; erleben wir doch selbst oft genug, dass wir Menschen als attraktiv empfinden, wenn wir ihr soziales Engagement und Empathie bewundern und anerkennen, auch wenn sie nicht den so genannten Schönheitsidealen entsprechen. Ob eine vorläufige Antwort darin liegt, was der US-amerikanische Schauspieler, Regisseur, Filmproduzent und Begründer des Erzählkinos, David Lewelyn Wark Griffith (1875 – 1948) formuliert hat, dass die Lebensumwelt es ist, die den Sinn für die Schönheit schärft: „Hätte ich Kinder, würde ich versuchen, ihnen den Sinn für das Schöne zu vermitteln, indem ich sie in einer einfach-schönen Umgebung aufwachsen ließe“?

Entstehungshintergrund

Beim 13. Philosophicum Lech, vom 16. bis 20. September 2009, haben die Veranstalter dieses renommierten Denkseminars im österreichischen Vorarlberg (vgl. dazu auch die Rezension zum Tagungsband des 12. Philosophicums: „Geld. Was die Welt im Innersten zusammenhält?“) sich an die scheinbar nicht zu beantwortende Frage nach dem Zauber des Schönen gewagt. Und, das sei vorweg gesagt, sie haben zwar (selbstverständlich) nicht die „ideale Schönheit“ gefunden; aber in der Bandbreite der Überlegungen und Reflexionen darüber, ob Schönheit Ausdruck eines subjektiven Empfindens ist, oder ob objektive Kriterien für die Bestimmung von Schönheit zu finden seien, sind die Referentinnen und Referenten aus den verschiedenen Fachgebieten zu interessanten Antworten gekommen. In der Einführung zum Tagungsband bringt es der Herausgeber, der Initiator und wissenschaftliche Leiter des Philosophicums, der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann, auf den Punkt: „Das Schöne …, in seiner vollkommenen Gestalt, wirft uns immer wieder auf unsere eigene Kontingenz, Unzulänglichkeit, Unvollkommenheit in ästhetischer und ethischer Hinsicht zurück“.

Aufbau und Inhalt

Der Literaturwissenschaftler der Freien Universität Berlin, Winfried Menninghaus macht sich in seinem Beitrag daran, die „vier Vektoren der Schönheit: Sexualität, Technik, Sprache, Kunst“ zu befragen. Dabei geht es ihm vor allem um die Frage nach den Verhaltensadaptionen bei Menschen „im Horizont des evolutionstheoretischen Schemas von Variation und Selektion“. Im Sinne von Kant stellt der Autor am Beispiel von menschlichen Verhaltensmustern die Frage nach dem „ästhetischen Urteil“, und zwar als Darstellungsmuster in der (weit verstandenen Auffassung von) Kunst, der sexuellen Präsentation und des Sprachvermögens.

Der Oldenburger Geschichtsphilosoph Johann Kreuzer reflektiert die Auffassungen über das Schöne in der Antike, wenn er „göttliche Begeisterung“ als Merkmal von Platons Dialog in Phaidros kennzeichnet. Das „Schöne“ schauen und sich gleichzeitig des „wahren Schönen“ erinnern, führt zum Wahnsinn. Denn der „Glanz…, der uns im Schönen mitnimmt, ist bloßes Erscheinen… das allein für sich und für nichts anderes steht“. In vier Stationen – Odyssee, Heraklit, Pindar, Odyssee – kreist der Autor gewissermaßen die apokalyptische Drohung ein mit der versöhnlichen Einsicht, dass „die Kunst eines sich Erhaltens – eines Bleiben-Könnens – durch alle Verlusterfahrungen hindurch“ die göttliche Begeisterung des antiken Denkens verstehbar macht.

Die Wiener Künstlerin und Professorin für Philosophische und historische Anthropologie, Elisabeth von Samsonow, sieht im Philosophieren Begriffsarbeit, also Auseinandersetzung mit Sprache. Mit dem provozierenden Titel „From Helena to hell“ setzt sie sich mit der Triade von Schönheit, Leben und Tod in der griechischen Mythologie auseinander. Die „schöne Helena“ als Idealgestalt und Menetekel, als Erfüllung und Katastrophe. Da ist der Schritt vom akademischen Philosophieren hin zur Aufdeckung des Eigentlichen nicht weit zu der Frage nach der „Rechtfertigung der Menschheit“; und so sind wir von Helena tatsächlich bei der „Erdvergessenheit der Philosophie“ gelandet.

Martin Seel, Philosoph der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M., referiert über die „Lebendigkeit des Schönen- nicht allein der Natur“. Seine These: „Wer das Naturschöne vergisst, kann die Schönheit der Kunst und anderer Artefakte nicht verstehen; wer es von deren Attraktionen zu isolieren versucht, wird seine Eigenart verfehlen“. Wenn unsere „Landschaftsblindheit“ dazu führt, dass wir blind und taub werden „gegenüber dem realen und metaphorischen Draußen des natürlichen Raums“, dann kommt es zu einer „Verschüttung des (unseren) ästhetischen Potentials“.

Der Erlanger Kulturgeograph Werner Bätzing macht sich Gedanken, wie sich die Veränderungen in der Naturwahrnehmung, -nutzung und –ausbeutung der Alpen, die in der europäischen Kulturgeschichte eine herausgehobene Aufmerksamkeit erfahren haben, von „Arkadien“ hin zur „Sport-, Event- und Funregion“ vollziehen. Dabei reflektiert er die Sichtweisen, wie „die schönen Alpen in der Agrargesellschaft“ wahr genommen wurden, wie sie sich in der Industrie- und in der Dienstleistungsgesellschaft darstellen und wie sie in der Landschaftsästhetik heute verstanden werden. Er warnt davor, dass „eine Ästhetik, die keinen Inhalt vermittelt, ( ) bestenfalls auf modische Weise kurzfristig beeindrucken, aber nicht langfristig oder dauerhaft“ wirken kann.

Der Kulturwissenschaftler an der Universität Braunschweig, Thomas Küpper, fragt nach den Schönheitsversprechungen von Kitsch: „Zu schön, um wahr zu sein“. Um vom Einfältigem beeindruckt und beeinflusst zu sein, bedarf es der Rückvergewisserung, „dass man dem Einfältigen nicht völlig anheimfällt“. Dann könne man sich sogar am Kitsch erfreuen, ohne selbst kitschig zu werden. Am Beispiel der Liebesromane von Hedwig Courths-Mahler, im Tourismus und den Inszenierungen des Geigers André Rieu macht der Autor deutlich, dass Kitschzauber auch Vertrautheit und damit eine „heile Welt“ erzeugen kann, die die alltäglichen Miseren nicht aufhebt, höchstens für ein paar Stunden vergessen lässt.

Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Birgit Schwarz spricht über die Vorstellungen der Nationalsozialisten über die Bildende Kunst: „Das Schöne als Wille und Vorstellung“. Das Schöne, so die Ideologie, solle Macht haben über die Menschen; dem wäre, stünde dahinter nicht die menschenverachtende, rassistische Politik des Dritten Reiches, ja erst einmal zuzustimmen. Doch die Einstellungen der Menschen zum befohlenen Schönen und damit zur diktierten Macht eines Kampfes der Rassen, wie dies mit der Überhebung der germanischen Rasse gegenüber anderen, minderwertigen Völkern geschah, macht die Hybris deutlich. Es war Hitlers Auffassung vom Genie, das das Böse in seine Schönheitsempfindungen brachte, und damit seines und das seiner Politik.

Für die Medientheoretikerin der John Hopins University/USA, Bernadette Wegenstein, ist „der kosmetische Blick“ Anlass, über die Geschichte und Theorie der Körpermodifikation von Plato bis Michael Jackson nachzudenken. Es ist die „Makeover-Kultur“, das Schöner-Machen des (hässlichen oder unbefriedigenden) Aussehens durch äußerliche Eingriffe, die zu einer innerlichen, nach außen sichtbaren Veränderung und zum Markenzeichen in der Mediengesellschaft führen sollen. Von der antiken Auffassung, dass das Schöne gleichzeitig das Gute ist, das das Böse überwindet, über die Lehre von der Physiognomik und der Darwin’schen Ästhetiklehre, bis hin zur Eugenik-Theorie und rassistischen Züchtungspraxis im 19. Jahrhundert und der heutigen Attraktivitätsforschung – es bleiben immer eine Leere und gleichzeitig Erfüllung übrig, die, wer weiß es, möglicherweise zur Normalität wird.

Die Pädagogik-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum, Käte Meyer-Drawe, fragt nach der Bedeutung und Interpretation des Sprichworts: „Wer schön sein will – muss leiden?“ Schön sein wollen, das ist selten ein Antrieb für Robinsons. Denn der Blick in den Spiegel muss auch darüber hinaus gehen und die Aufmerksamkeit, Bewunderung (und den Neid) von anderen Menschen bewirken. Was man dafür tun will, am eigenen Körper und Geldbeutel, hängt natürlich davon ab, in welcher gesellschaftlichen Situation man lebt, welche Erwartungshaltungen von ihr produziert und medialisiert werden – und nicht zuletzt, wie das eigene Spiegelbild aussieht.

Der Wiener Anthropologe Karl Grammer reflektiert über die evolutionspsychologischen Grundlagen der Schönheit, indem er die „Darwin’sche Ästhetik“ diskutiert. Er macht darauf aufmerksam, dass sich in unserer Wahrnehmung eingebaute Vorurteile befinden, die sich evolutionstheoretisch nachweisen lassen; das geht sogar soweit zu behaupten, dass „attraktivere Menschen auch gesünder sind“. Die Präferenzen wirken sich sowohl auf die Partnerwahl, als auch Kontaktwilligkeit, Freundschaften und soziale Selektionen aus: „Geschlechtstypische Hormonmerkmale, Durchschnittlichkeit und Symmetrie sind die Pfeiler der Schönheitswahrnehmung“. Das sind beunruhigende, wie auch versöhnliche Merkmale, denn „schöne Gesichter besitzen … einen Nachteil: Weil Schönheit … mit Durchschnitt assoziiert wird, können wir uns schöne Gesichter schlechter merken“. Das ideal schöne Gesicht ist deshalb ein Gesicht, das dem Durchschnitt entspricht.

Der Lübecker Mediziner und Schriftsteller Ulrich Renz spricht über sein Forschungsgebiet „menschliche Schönheit“. Es sind drei Fragen, die er in seinem Referat erläutert: Wie nehmen wir Schönheit wahr? Was bewirkt sie? Warum wirkt sie? In der Wahrnehmungsforschung scheint sich tatsächlich die Frage der Fragen zu beantworten. Denn es ist das „Attraktivitätsstereotyp“, das sich in der Gleichsetzung des Schönen mit dem Guten ausdrückt; etwa in der Vermutung, „dass attraktive Gesichter eine Glücksspur tragen, unattraktive einen Hauch von Ärger“. Wenden wir diese Einschätzung, so lässt sich sagen: Die kognitiven, also vom Verstand geleiteten Wahrnehmungen von Schönheit und Schönheitswirkung ist das Ergebnis einer Verwechslung.

Erstmals hat 2009 das Philosophicum Lech einen Preis für schriftstellerische und philosophische Leistungen vergeben. Der Wiener Autor Franz Schuh wurde mit dem Essay-Preis "Tractatus", für "geistigen Furor und schriftstellerische Brillanz" ausgezeichnet. Schuh nennt sich selbst einen, der sich nicht auskennt, und mit der „dialektischen Verführung…in der Lage zu sein, alles durch sein Gegenteil zu beleuchten“. Die Philosophin an der Universität Zürich und Mitjurorin des Preiskomitees, Ursula Pia Jauch, stellt in ihrer Laudatio auf den Preisträger fest, dass es (eigentlich) nicht eines Philosophen Werk sei zu loben, sondern eher zu granteln und zu kritisieren. Das Dilemma überwindet sie mit dem schönen Bild aus der frühesten philosophischen Denkschule des Thales von Milet und der sokratischen Nachfolge: Der Philosoph und Astronom schaut fasziniert in den Himmel, um den Lauf der Sterne zu studieren. Dabei übersieht er den Rand einer Zisterne und stürzt. Die diese Szene beobachtende Magd lacht und fragt: „Wie kannst du, o Thales, erkennen, was am Himmel ist, wenn du nicht einmal siehst, was vor deinen Füßen liegt?“. Damit führt uns Ursula Pia Jauch von den Sternen und Theorien hin zu der philosophischen Aufgabe, nicht mit der Moral, sondern von ihr zu reden und zu handeln; wie das das Vorarlberger Philosophicum Jahr für Jahr versucht.

Fazit

Das diesjährige Lecher Philosophicum vom 22. bis 26. September 2010 trägt den Titel: „Der Staat. Wie viel Herrschaft braucht der Mensch?“; ohne Zweifel eine wichtige wie aktuelle Frage, angesichts der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt, die es so schwer hat und macht, zu EINER WELT zu werden. Gäbe es die intellektuelle und wirkungsvolle Veranstaltung nicht, müsste man sie einrichten. Die Tagungsbände, die sich von 1999 bis zum aktuellen Band 2010 lesen wie ein „How to think and how to make?“ einer Lebensbewältigung in den Wogen der Krisen und Jammertale, als unverzichtbare Wegweiser für Politiker, Philosophen und dich und mich!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245