Bernd Rainer Birgmeier: Soziale Arbeit: "Handlungswissenschaft", [...]
Rezensiert von Dr. Henning Imker, 28.10.2003
Bernd Rainer Birgmeier: Soziale Arbeit: "Handlungswissenschaft", "Praxiswissenschaft" oder "Praktische Wissenschaft"? BPB-Verlag diritto Publikationen (Eichstaett) 2003. 427 Seiten. ISBN 978-3-927728-47-9. 29,90 EUR.
Einführung in das Thema
Seit den 1960er/70er Jahren wird verstärkt versucht, Sozialarbeit und Sozialpädagogik (sofern denn hier ein wesentlicher Unterschied besteht) wissenschaftlich zu fundieren und als dritte Disziplin neben Allgemeiner und Schulpädagogik innerhalb der Erziehungswissenschaften zu etablieren. Zu dieser Zeit wurden die ersten universitären erziehungswissenschaftlichen Studiengänge mit dem Schwerpunkt Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingerichtet mit dem Ziel, Diplompädagogen auszubilden, die in geeigneten Institutionen (wie zum Beispiel Heimen oder Beratungsstellen) übergeordnete Funktionen übernehmen sollten, die bisher u.a. von Diplompsychologen wahrgenommen wurden. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, bedurfte es einer stärker theorieorientierten und insgesamt umfassenderen Ausbildung als derjenigen, die an Fachhochschulen angeboten wurde. Um als eigenständige Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaften akzeptiert zu werden, bedurfte es also - und das in möglichst kurzer Zeit - einer spezifischen Wissenschaft der Sozialen Arbeit, kurz: Sozialarbeitswissenschaft.
Obwohl sprachlogisch durchaus vernünftig (analog Erziehung - Erziehungswissenschaft oder durch Übernahme des Begriffs 'social work science' aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum), wurde diese Namensgebung zunächst belächelt oder unter 'Exotika' abgelegt. Erst Jahre später und nach einer Reihe von Grabenkämpfen - die ersten Ansätze waren fast schon in Vergessenheit geraten - erlebte der Begriff und die Beschäftigung mit Sozialarbeitswissenschaft eine Renaissance. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass mit dem Erscheinen dieses Bandes von Birgmeier ein neuer Versuch unternommen wird, der Sozialarbeitswissenschaft wieder Leben einzuhauchen. Dieser Versuch weckt Erwartungen, die allerdings vom Verfasser von vornherein gedämpft werden, da er die vielfältigen und äußerst heterogenen Entwürfe von Sozialarbeitstheorien oder Sozialarbeitswissenschaft "allenfalls zu diskutieren und kritisch hinsichtlich ihres tatsächlichen 'Wissenschaftsgehaltes' zu reflektieren" (15) gedenkt. Wer sich also Hoffnungen darauf macht, dass mit diesem Buch ein Beitrag zu einer substantiellen Weiterentwicklung der Sozialarbeitswissenschaft geleistet wird, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Dem Verfasser geht es in erster Linie nicht um Antworten, von denen einige sicherlich schon lange auf sich warten lassen, sondern um Fragen, "die den verschiedenartigsten Argumentsträngen bezüglich einer 'Wissenschaft' der Sozialpädagogik und/oder Sozialarbeit zugrunde liegen" (15).
Aufbau und Inhalte
Der Band enthält sieben Kapitel. Im ersten Kapitel begibt sich der Verfasser auf "Spurensuche nach einer 'Wissenschaft der Sozialen Arbeit' und/oder 'Sozialarbeitswissenschaft'" und zeichnet hier die unterschiedlichen Versuche nach, eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit zu etablieren. So wurden u.a. die Fragen aufgeworfen, ob der in Frage kommende Gegenstandsbereich Sozialarbeit oder Sozialpädagogik zu sein habe, ob Soziale Arbeit/Sozialarbeitswissenschaft der Erziehungswissenschaft zuzuordnen sei (was die auf Befreiung von Fremdbestimmung Erpichten weit von sich wiesen), ob die Sozialpädagogik die Leitdisziplin der Sozialarbeit/Sozialpä- dagogik sein soll, ob zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeit überhaupt essentielle Unterschiede bestehen, ob es sich bei Sozialarbeit um eine Disziplin oder Profession handelt und dergleichen Dinge mehr. Dass vor lauter Reputationskämpfen kaum Antworten auf elementare Fragen gefunden wurden, nimmt kaum Wunder. Wer als Außenstehender mit dieser Thematik nicht vertraut ist, wird sich schwer tun nachzuvollziehen, warum es bei diesen Fragestellungen überhaupt geht. Das ist zwar nicht dem Verfasser anzulasten; dennoch ist zu fragen, warum diese unfruchtbaren Diskussionen erneut entfacht werden, wenn nicht an der einen oder anderen Stelle Klarheit geschaffen wird.
Im zweiten Kapitel werden Antworten auf die Frage diskutiert, ob Soziale Arbeit: Auf dem Weg zur Wissenschaft - als "Handlungswissenschaft", "Praxiswissenschaft" oder "Praktische Wissenschaft" zu verstehen sei (so die Kapitelüberschrift). In seinem Resümee dieses Kapitels listet der Verfasser fünfzig (!) verschiedene Kennzeichnungsversuche der Sozialen Arbeit/Sozialarbeitswissenschaft auf; sie reichen von "Wissenschaft mit und für die Praxis", "neue Sozialwissenschaft", "integrative synoptische Wissenschaft" über "clinical science" bis zur "technologischen Wissenschaft". Ob Sozialarbeitswissenschaft als eine der drei in der Kapitelüberschrift genannten Wissenschaftstypen zu gelten hat, geht aus den Ausführungen des Verfassers nicht hervor.
Im dritten Kapitel wird auf grundsätzliche "Wege sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Erkennens und Handelns" eingegangen und die Uneinigkeit hinsichtlich des Wissenschaftsbegriffs in der Sozialen Arbeit erörtert. Dass dies eine der zentralen Streitfragen bei der wissenschaftlichen Fundierung der Sozialarbeit ist, leuchtet unmittelbar ein, denn durch die wissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Ausrichtung werden entscheidende Elemente eines Ansatzes (einer 'Schule') determiniert (zum Beispiel der Objektbereich: sollen Normen inhärente Bestandteile einer Theorie der Sozialarbeit sein oder nicht? Oder: Soll in Begründungszusammenhängen das Postulat der Wertfreiheit gelten? usw.). Hierzu gehört auch die Entscheidung, ob eine Sozialarbeitswissenschaft methodologisch eher dem Weg der Natur- oder dem der Geisteswissenschaften folgen soll, womit auch die Streitfrage wieder aufgeworfen wird, ob in einer Theorie sozialarbeiterischen Handelns Erklärungs- oder Verstehensmodelle dominieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Einführung des Lenkschen Stufenmodells der Interpretation und der Schemainterpretationen, die möglicherweise in einem methodischen Prinzip zusammengeführt werden.
Im vierten Kapitel nimmt Birgmeier diese Gedanken in seiner "wissenschaftlichen Betrachtung von 'Handlung' im Rahmen von Sozial- und Geisteswissenschaft" wieder auf, um dann im fünften Kapitel Überlegungen zu "Handlungstheorien und -konzeptionen im disziplinären Vergleich" anzustellen, wobei auch auf ältere Ansätze wie z.B. Gehlen, Weber, Schütz, aber auch auf Coleman sowie Homann und Suchanek rekurriert wird.
Ob und ggf. welche der handlungstheoretischen Ansätze bereits Eingang in die Sozialarbeitstheorien gefunden habe, wird im sechsten Kapitel zu klären versucht. Warum hierzu noch grundlegend das Verhältnis der Sozialpädagogik zur Allgemeinen Pädagogik aufgearbeitet wird, ist allerdings nicht ganz einsichtig.
Im siebten und letzten Kapitel plädiert Birgmeier für einen Perspektivenwechsel von der Handlungskompetenz seitens der Akteure in Sozialer Arbeit zur Handlungsinkompetenz seitens der Adressaten (so die Kapitelüberschrift). Hier werden noch einmal die zentralen Gedanken der ersten sechs Kapitel aufgenommen und Antworten auf die Frage zu geben versucht, welchen Weg eine Sozialarbeitswissenschaft gehen sollte.
Diskussion
Die Gesamtbeurteilung dieses Bandes fällt nicht leicht. Einerseits werden wichtige Argumentationsstränge in der Entwicklung einer Sozialarbeitswissenschaft äußerst akribisch nachgezeichnet und durch entsprechende Literatur belegt. Insofern bietet Birgmeier dem Leser, der sich in die gesamte Diskussion zu diesem Thema einarbeiten und sie nachvollziehen möchte, einen in seiner Komplexität beachtlichen Einstieg in die Thematik. Zweifelsohne haben die thematisierten Aspekte eine Rolle bei der Bestimmung des Objektbereichs und der wissenschaftlichen Fundierung einer Sozialarbeitswissenschaft gespielt. Allerdings ist der Versuch, umfassende und detaillierte Einblicke in die Komplexität des Themas zu geben, mit dem Nachteil verbunden, dass das Buch an vielen Stellen schlicht überfrachtet und die Diskussion einiger Aspekte auch überflüssig ist (u.a. Gehlens Ansatz vom Menschen als Mängelwesen, die Unterscheidung von Handlung und Verhalten oder von Produkt- und Prozessbegriffen). Man könnte hierbei auch etwas despektierlich von alten Hüten sprechen. Trotz der Strukturierung der Thematik in die o.a. Kapitel gelingt es dem Verfasser auch nicht überzeugend, Klarheit über den Diskussionsstand zu schaffen, z.B. dadurch, dass Irrwege und Sackgassen benannt werden (eine der wenigen Ausnahmen bilden die Ausführungen über Praxistheorien, die ja bereits in den 1960er Jahren als völlig unzureichend für eine Fundierung von Sozial- und Sozialarbeitswissenschaft(en) 'ausgemustert' wurden). Überhaupt sind manche Probleme in diesem Zusammenhang auch gar nicht mehr ernsthaft strittig (z.B. dass eine wie auch immer geartete Sozialarbeitswissenschaft eine datenverarbeitende Integrationswissenschaft im Sinne von Roth oder eine Handlungswissenschaft zu sein hat). Ebenso ist wenig problematisch, die vor längerer Zeit von Brezinka vorgeschlagene Gliederung der Pädagogik in einen Praxis-, einen Theorie- und einen Philosophiebereich für die Sozialarbeitswissenschaft zu übernehmen. Viele der vom Verfasser thematisierten Probleme sind innerhalb der Erziehungswissenschaft längst im wesentlichen abgearbeitet worden (vgl. u.a. Alischs "Grundlagenanalyse der Pädagogik als strenge praktische Wissenschaft" von 1995 oder die "Pädagogische Wissenschaftslehre" vom selben Autor, 1995).
Für die Weiterentwicklung einer Sozialarbeitswissenschaft wäre es insgesamt wohl förderlicher gewesen, den hinlänglich bekannten, zum Teil unfruchtbaren Diskussionen keine weiteren Interpretationen hinzuzufügen, sondern klar herauszuarbeiten, welche Wege hierfür erfolgversprechend sein könnten. Dies ist lediglich der Fall bei der erkennbaren Präferenz des Verfassers für eine handlungstheoretische Fundierung der Sozialarbeitswissenschaft (ob hierfür allerdings ein eigenständiger Handlungsbegriff für die Sozialarbeitswissenschaft notwendig ist, mag bezweifelt werden). Ebenfalls ist aber zu vermuten, dass durch die Einführung des "Widerfah-rens"-Gedankens in eine Handlungstheorie der Sozialarbeit die Konstruktion einer Sozialarbeitswissenschaft eher erschwert wird.
Andererseits bieten die Ausführungen für jemanden wie den Rezensenten, der die Entwicklung dieser Disziplin seit mehr als 25 Jahren verfolgt, wenig Neues. Solange immer nur die Heterogenität und die Unzulänglichkeit der Entwürfe beklagt und in immer neuen Diskussionen zusammenfassend erörtert werden, dreht sich die Sozialarbeitswissenschaft im Kreise. Sie wird das auch weiter tun, wenn nicht stärker ausserhalb der Sozialarbeitswissenschaft entwickelte Konzeptionen in sie integriert werden, wenn weiterhin längst entwickelte Problemlösungen nicht zur Kenntnis genommen werden, weil sie nicht in vorherrschende Wissenschaftsrichtungen 'passen' oder wenn weiterhin Fehlurteile transportiert werden (Beispiel: die klischeehafte Darstellung des kritisch-rational-technologischen Ansatzes, wobei der Verfasser lediglich die frühen Schriften des entsprechenden Vertreters seinen Ausführungen zugrunde legt).
Unter didaktischen Gesichtspunkten wäre dieses Buch sicherlich besser lesbar gewesen, wenn die Ausführungen des letzten Kapitels in die ersten sechs Kapitel jeweils passend eingearbeitet worden wären. Und - last not least - bei einem solch umfangreichen und detailreichen Werk dürfen Namens- und Sachregister nicht fehlen.
Fazit
Die im Titel des Buches gestellte Frage, was also die Sozialarbeitswissenschaft sei - eine Handlungswissenschaft, eine Praxiswissenschaft oder eine Praktische Wissenschaft - wird von Birgmeier nicht hinreichend klar beantwortet. Es bleibt weitgehend dem Leser bzw. der Leserin überlassen, in der Fülle von Informationen die klare Linie für eine tragfähige Fundierung der Sozialarbeitswissenschaft auszumachen. Aber dies war, siehe Kapitel "Einführung in das Thema" dieser Rezension, auch gar nicht Absicht des Verfassers.
Rezension von
Dr. Henning Imker
Technische Universität Braunschweig
Institut für Erziehungswissenschaft, Abt. Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik
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Es gibt 3 Rezensionen von Henning Imker.
Zitiervorschlag
Henning Imker. Rezension vom 28.10.2003 zu:
Bernd Rainer Birgmeier: Soziale Arbeit: "Handlungswissenschaft", "Praxiswissenschaft" oder "Praktische Wissenschaft"? BPB-Verlag diritto Publikationen
(Eichstaett) 2003.
ISBN 978-3-927728-47-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/933.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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