Michael Günter, Georg Bruns u.a.: Psychoanalytische Sozialarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Hermann Staats, 04.11.2010

Michael Günter, Georg Bruns, Beitr: Psychoanalytische Sozialarbeit. Praxis, Grundlagen, Methoden.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2010.
260 Seiten.
ISBN 978-3-608-94543-0.
27,90 EUR.
CH: 44,90 sFr.
Reihe: Konzepte der Humanwissenschaften
Thema
Günter und Bruns wollen mit diesem Buch „erstmals Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Sozialarbeit systematisch“ (S. 9) darstellen. Sie bieten eine an der Praxis Sozialer Arbeit orientierte Darstellung der Arbeitsfelder und Methoden psychoanalytischer Sozialarbeit mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Erfahrungen des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen. Das Buch wendet sich an den praktisch tätigen Sozialarbeiter.
Autoren
Michael Günter ist Professor und Ärztlicher Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen, Georg Bruns Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Arzt für Neurologie und Psychiatrie. Beide Autoren sind Psychoanalytiker mit breiter wissenschaftlicher und psychoanalytischer Tätigkeit, keine Sozialarbeiter.
Aufbau
Günter und Bruns integrieren in ihrem Buch psychoanalytische Theorien in die Darstellung von Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit. Alle Kapitel bieten einen dichten Bezug zur Praxis. Ein ausführlicher Abschnitt schildert die Arbeit des Vereins für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg/Tübingen mit Fallbeispielen. Kurzdefinitionen psychoanalytischer Konzepte fassen zentrale Theoriebestandteile am Ende des Buches für die Leser zusammen.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einer Darstellung Psychoanalytischer Sozialarbeit im Feld Sozialer Arbeit - etwa in ihren Verbindungen und Abgrenzungen zur systemisch orientierten Case management (Kleve 2005) und zur Sozialraumorientierung (Früchtel et al 2007). Die Autoren arbeiten die Beziehungsorientierung als zentrales Merkmal psychoanalytischer Sozialarbeit heraus – ein Aspekt, der sich durch alle Kapitel des Buches zieht. Leser können sich rasch ein Bild von den Zielen und dem zentralen Anliegen psychoanalytischer Sozialarbeit machen. Ein Kapitel zur – reichen – Geschichte psychoanalytischer Sozialarbeit schließt sich an. Hier werden vor allem die historisch frühen Ansätze dargestellt und mit der Entwicklung sozialer Arbeit in Beziehung gesetzt. Ein Abschnitt, der die verschiedenen psychoanalytischen Theorien und Methoden in ihrer Bedeutung für die Soziale Arbeit darstellt, hilft die im weiteren Verlauf aufgeführten Konzepte einzuordnen.
Ein großer Teil des Buches beschreibt dann
Praxisfelder psychoanalytischer Sozialarbeit. Die reiche
klinische Erfahrung der Autoren wird deutlich, wenn sie
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der von Ihnen beschriebenen
Sozialarbeit zur (Einzel-) Psychotherapie, zur Familientherapie, zur
Milieutherapie und zur Sozialpsychiatrie darstellen. Ausführlicher
wird psychoanalytische Sozialarbeit in Hinsicht auf das Umgehen mit
sozialen und therapeutischen Hilfen, mit Mediation, Frühförderung
und der Arbeit in Kinderkrippen dargestellt. Viele zu den
psychoanalytisch ausgerichteten Formen sozialer Arbeit zählende
Methoden (z. B. in der Arbeit mit kleinen Kindern und ihren Eltern
Programme aufsuchender sozialer Arbeit wie „STEEP“ oder
niederschwellige Programme für Alleinerziehende Eltern und ihre
Kinder wie „Palme“ ) werden nicht erwähnt. Auch die
stationäre Psychotherapie mit ihren Arbeitsfeldern für
Sozialarbeiter und Verbindungen zu vielfach von Sozialarbeitern
durchgeführten Gruppenangeboten fehlen. Bei der Darstellung der
Arbeit mit Klienten mit Borderline-Störungen sind die in der
Sozialen Arbeit mit diesen Klienten etablierten Konzepte des
„Antwortens“ und der Förderung von Mentalisieren
nicht erwähnt.
Die Anpassung von Setting und Rahmen
an die individuellen Erfordernisse von Klienten, die Notwendigkeit
von Supervision für ein psychoanalytisches Vorgehens in der
Sozialen Arbeit und Möglichkeiten der Qualifikation für
Sozialarbeiter werden beschrieben. Viele praktische Hinweise
bereichern das Buch, etwa zum Verfassen von Berichten.
Falldarstellungen im letzten Kapitel bieten noch einmal einen
direkten Einblick in die Arbeit des Vereins für
Psychoanalytische Sozialarbeit. Der Leser kann sich hier ein eigenes
differenziertes Bild von dieser Arbeit verschaffen.
Diskussion
Das Buch bietet eine ausgezeichnet
lesbare Einführung und Positionierung psychoanalytischer
Sozialarbeit. Der geschichtliche Abriss arbeitet auf wenig Raum die
Entwicklungen sozialer Arbeit in ihren Abhängigkeiten von
politischen und historischen Ereignissen heraus. Viele für die
Soziale Arbeit generell nützliche praktische Hinweise finden
sich. Einige Leser werden vielleicht Anstoß nehmen an manchmal
salopp oder normativ wirkenden Formulierungen in den
Falldarstellungen oder auch den dort sichtbar werdenden
Entscheidungen – etwa zu sehr aufwändigen hochfrequenten
Behandlungen.
Der hier gegebene Einblick in die Arbeit des
Vereins für psychoanalytische Sozialarbeit ist dadurch aber auch
für Sozialarbeiter und Therapeuten von Interesse, die sich mit
psychoanalytischer Sozialarbeit bereits auskennen.
Nicht glücklich
ist aus Sicht des Referenten die inhaltliche Einschränkung auf
eine Richtung psychoanalytischer Sozialarbeit. So werden z. B. die
psychoanalytisch orientierte Soziale Arbeit in Kliniken, die –
weitgehend von Sozialarbeitern geleistete - Soziale Therapie in der
Suchtkrankenhilfe, die seit Jahrzehnten verankerten Ausbildungsgänge
des Gesamtverbandes Suchtkrankenhilfe GVS und die in der Sozialen
Arbeit verbreiteten und für die von den Autoren beschriebenen
Aufgaben entwickelten Konzepte (in Deutschland zentral die
psychoanalytisch- interaktionelle Methode) und die entsprechenden
Weiterbildungsmöglichkeiten nicht genannt.
Möglicherweise
differenzieren die Autoren eine psychoanalytische Sozialarbeit (wie
sie von dem Verein für psychoanalytische Sozialarbeit in
Tübingen geleistet wird) von den psychoanalytisch orientierten
Konzepten, die in vielen Feldern sozialer Arbeit angewendet werden.
Für praktisch tätige Sozialarbeiter, an die sich das Buch
wendet, wäre ein solcher Hinweis aber notwendig, um die
dargestellten Fallbeispiele und Konzepte nicht für die Breite
der psychoanalytisch orientierten Sozialarbeit zu nehmen.
Fazit
Eine aktuelle Darstellung
psychoanalytischer Sozialarbeit ist höchst wünschenswert.
Günter und Bruns geben in ihrem Buch
„Psychoanalytische Sozialarbeit“ eine klare und
kenntnisreiche Einordnung dieses Vorgehens. Sie beschreiben
anschaulich das Besondere dieser beziehungsorientierten, langfristig
angelegten, praktisch und theoretisch anspruchsvollen Arbeitsweise.
Die Darstellung von Arbeitsfeldern Psychoanalytischer Sozialarbeit
scheint sich auf die Erfahrungen innerhalb eines regionalen Vereins
für Psychoanalytische Sozialarbeit zu konzentrieren. Dies ist
spannend, aber auch missverständlich. Die Breite
psychoanalytisch orientierter Arbeitsweisen in der Sozialen Arbeit
wird unvollständig abgebildet, in der Praxis wichtige
Entwicklungen sozialer Arbeit mit psychoanalytischem Hintergrund
bleiben unerwähnt.
Die Stärken des Buches liegen in der
Betonung zentraler Aspekte des „Psychoanalytischen“ in
der Sozialen Arbeit, in der Abgrenzung dieses Ansatzes von anderen
Vorgehensweisen sowie in vielen praktisch nutzbaren Hinweisen. Es ist
als ein Einführungstext geeignet, aber auch von Sozialarbeitern
und Therapeuten mit großem Gewinn lesbar, die sich in der
psychoanalytischen Sozialarbeit oder mit psychoanalytischen Konzepten
bereits auskennen und eine besondere Form der Anwendung der
Psychoanalyse kennen lernen möchten.
Rezension von
Prof. Dr. Hermann Staats
FH Potsdam, Sigmund-Freud Professur für psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie
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Es gibt 16 Rezensionen von Hermann Staats.
Zitiervorschlag
Hermann Staats. Rezension vom 04.11.2010 zu:
Michael Günter, Georg Bruns, Beitr: Psychoanalytische Sozialarbeit. Praxis, Grundlagen, Methoden. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2010.
ISBN 978-3-608-94543-0.
Reihe: Konzepte der Humanwissenschaften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9369.php, Datum des Zugriffs 16.05.2022.
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