Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Paul Mecheril, Mario do Mar CastroVarela et al.: Migrationspädagogik

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.04.2010

Cover Paul Mecheril, Mario do Mar CastroVarela et al.: Migrationspädagogik ISBN 978-3-407-34205-8

Paul Mecheril, Mario do Mar CastroVarela, Dirim İnci, Annita Kalpaka, Claus Melter: Migrationspädagogik. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2010. 192 Seiten. ISBN 978-3-407-34205-8. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 34,50 sFr.
Reihe: Bachelor, Master.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Das Zeitalter der Migrationsphänomene

Dass unsere Zeit als „Jahrhundert der Flüchtlinge“ angesehen werden muss, dass die Pull- und Push-Faktoren, die zu großräumigen Wanderungsbewegungen von Menschen aus ihren angestammten Herkunfts- und Heimatgebieten zwingen, sich durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde, globalisierte Welt dramatisch verändert haben, dass die Folgen von Migration nicht nur für Migrantinnen und Migranten von existentieller Bedeutung sind, sondern auch individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen auf die „Sesshaften“ haben, dass die Migrationsphänomene zu lokalen und globalen Veränderungen und Wandlungen des Denkens und Handelns der Menschen beitragen und dass nicht zuletzt Migration zu nationalen, inter- und transnationalen politischen Herausforderungen führen, die zur Sorge Anlass geben, und die mittlerweile gängigen Abwehrmaßnahmen, vor allem gegen illegale Zuwanderungen, zur Gefährdung von freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen führen. Die Analysen, Forschungs- und Erlebensberichte über Ursachen und Folgen von Migration sind mittlerweile beinahe unüberschaubar geworden. Die veröffentlichte Aufmerksamkeit für das Phänomen der Wanderungsbewegungen könnte den Schluss zulassen, dass das Problem im öffentlichen Bewusstsein der Menschen angekommen sei und gesellschaftliche und politische Aktivitäten in vollem Gange wären, diese Menschheitssituation human zu lösen. Doch dem ist nicht so! Im politischen und öffentlichen Bewusstsein herrschen eher das Mauerbauen und Zäune errichten, die Absicherung der nationalen Grenzen, der Ausbau von Grenzsicherungsanlagen auf dem Boden, zu Wasser und in der Luft und die Produktion von Nachtsichtgeräten vor. Für die schulische, außerschulische und universitäre Information über die Problematik der Migration gibt es bisher kaum praktikable Ansätze, etwa im Sinne einer Curriculumrevision, Lerninhalte zu formulieren. Betrachtet man die verschiedenen Versuche in den Lehrbüchern der Schule, die Bildungsangebote in Volkshochschulen und die Lehrveranstaltungen, wie sie von den Hochschulen zur Thematik bereit gestellt werden, so entsteht der Eindruck, dass die Themen sich weitgehend zufällig oder nach den Interessen und Vorlieben der Lehrenden formieren.

Autoren und Inhalt

In dieser Situation ist es verdienstvoll, dass der Beltz Verlag in der Reihe BACHELOR / MASTER ein Buch herausbringt, das sich an Lehramtsstudierende und an Studentinnen und Studenten von benachbarten (Bildungs-) Fächern richtet, um Schlüsselbegriffe zu klären, didaktische Zugänge zu erleichtern und Handlungskompetenzen zu vermitteln; nicht als Rezeptbuch, sondern zur Reflexion und zum eigenen Weiterdenken bestimmt. Das Kompendium beschränkt sich dabei auf wesentliche und ausgewählte Fragenbereiche, wie etwa die Bedeutung der “Macht“ bei Migrationsprozessen und konzentriert sich auf studien- und prüfungsrelevante Aspekte. Durch die didaktische Aufbereitung und Reflexions- und Arbeitsfragen soll das Interesse der Studierenden zur Auseinandersetzung mit dem Themenbereich angeregt werden; die Literaturhinweise dienen zum Weiterlesen. Das in der Form eines Hand- und Arbeitsbuches gestaltete Informations- und Lernheft wird vom Autorenteam in folgende Abschnitte gegliedert:

Paul Mecheril, der am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck tätig ist, begründet im ersten Teil den wissenschaftlichen Ansatz für die Etablierung einer „Migrationspädagogik“. Dabei stellt er klar, dass es sich dabei nicht um „Migrantenpädagogik“ handelt, in der die Lebensbedingungen von Migrantinnen und Migranten dargestellt werden, sondern „das Verhältnis von Migration und Pädagogik unter dem Thema natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit zu betrachten“ sei. Es geht also darum, das kulturell, ethnisch und national Andere unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, wie dieses Andere unter den Bedingungen von Migration erzeugt und verändert wird und welchen Beitrag der pädagogische Diskurs und das pädagogische Handeln dazu leisten können.

Im zweiten Teil setzen sich Maria do Mar Castro Varela, die an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin Soziale Arbeit und Pädagogik lehrt und Paul Mecheril zum Thema „Grenze und Bewegung“ damit auseinander, wie Migration wissenschaftlich geklärt und definiert werden kann und welche Bedeutungen die Unterscheidungen im formellen und informellen gesellschaftlichen Diskurs haben.

Im dritten Teil reflektiert erneut Mecheril den erziehungswissenschaftlichen Diskurs und die Forschungsansätze, die sich in der Migrations- und Einwanderungsgesellschaft in den letzten Jahrzehnten von der „Ausländerpädagogik“ zur „Interkulturellen Pädagogik“ und „Inter- und Transkulturellen Bildung“ vollzogen haben und weiterhin vollziehen.

Im vierten Teil reflektieren die an der Hochschule Rhein/Main tätige Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin Annita Kalpaka und Mecheril die verschiedenen Forschungs- und methodischen Entwicklungsstränge, kulturalistische Ansätze und Konzepte des Interkulturellen. Dabei kritisieren sie sowohl das Konzept der „interkulturellen Kompetenz“ als ein von sich wegweisendes Bild, während sie den Paradigmenwechsel hin zum Eigenen Selbst einfordern: Das Interkulturelle bin ich!

Im fünften Kapitel weisen die Professorin für pädagogische Diagnostik und Förderplanungen an der Universität Hamburg, İnci Dirim und Mecheril auf die Bedeutung der Sprache(n) in der Migrationsgesellschaft hin. Dabei zeigen sie insbesondere die gesellschaftliche Dimension der Macht im Sprachgebrauch und –können auf. Sie legen drei Modelle sprachlicher Bildung vor und machen auf das Verhältnis von Nationalstaat, Monolingualität und Mehrsprachigkeit aufmerksam.

Im sechsten Teil diskutieren noch einmal Dirim und Mecheril die Problematik der „Schlechterstellung Migrationsanderer“, sowohl in der Schule wie in der Migrationsgesellschaft. So ergibt sich zwangsläufig, wenn auch in der schulischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit noch längst nicht vollzogen, dass beim schulischen Lernen „Differenzfreundlichkeit als Bildungsziel“ eingeführt und als institutionelle Bildungsvoraussetzung geschaffen werden muss.

Im siebten Kapitel beziehen Mecheril und der an der Universität Innsbruck lehrende Sozialwissenschaftler Claus Melter Position zum Rassismus in der Gesellschaft, und es werden pädagogische und erziehungswissenschaftliche Wege aufgezeigt, wie den verschiedenen Formen kultureller und institutioneller Rassismen und Diskriminierungswirkungen begegnet werden kann.

Im achten Kapitel schließlich ordnet Mecheril die Aspekte für eine normative Orientierung der Pädagogik auf migrationsgesellschaftliche Verhältnisse, indem er darauf verweist, dass pädagogische Reflexivität nicht allein im individuellen erzieherischen Handeln wirksam werden kann, sondern institutioneller Strukturen und Kontexte bedarf.

Fazit

Das Lehrbuch „Migrationspädagogik“ ist ein wichtiger Ansatz dafür, dass Lernen, ob in der Schule, Hochschule oder im Alltag, darauf angewiesen ist, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu reflektieren; denn „Migration ist eine universelle Praxis, eine allgemeine menschliche Handlungsform“. Die im Buch jeweils als Schlüsselbegriffe, Merksätze, Fragenkataloge und Statistiken ausgewiesenen, drucktechnisch herausgehobenen Kästen erleichtern es dem Lerner, es als Handbuch zu benutzen und die bereit stehenden Online-Materialien zusätzlich heranzuziehen. Vielleicht sollten die Herausgeber der Reihe daran denken, den jeweiligen Bänden eine CD-ROM beizufügen, auf der die Online-Materialien zusammengefasst sind.

Literatur

Aus der Fülle der zur Thematik „Migration“ bereit stehenden Literatur werden einige Bücher ausgewählt, die auch im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellt wurden:

  • Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003, 318 S.; siehe auch: Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, München 2009, 287 S.
  • Astrid Podsiadlowski, Interkulturelle Kommunikation und Zusammenarbeit. Interkulturelle Kompetenz trainieren. Mit Übungen und Fallbeispielen, München 2004, 165 S.
  • Silke Schuster, Minderheiten, Mehrheiten und soziale Identitätsprozesse. Perspektiven für eine antirassistische Pädagogik, Mainz 2004, 151 S.
  • Klaus Junschke / Bettina Paul (Hrsg.), Wer bestimmt denn unser Leben. Beiträge zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, Karlsruhe 2005, 254 S.
  • Claudia Mahler / Anja Mihr (Hrsg.), Menschenrechtsbildung. Bilanz und Perspektiven, Wiesbaden 2004, 303 S.
  • Rudolf Leiprecht / Anne Kerber (Hg.), Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Ein Handbuch, Schwalbach 2005, 478 S.
  • Deutschlandfunk / Deutschlandradio, Gefährlicher Transit. Die afrikanische Wanderung nach Europa, Hörbuch, 2006
  • Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt/M., 2007, 439 S.
  • Nicola Liebert / Barbara Bauer, Die Globalisierungsmacher. Konzerne, Netzwerke, Abgehängte, Berlin 2007, 111 S.
  • Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, 247 S.
  • Katrin Boege / Rolf Manz (Hrsg.), Traumatische Ereignisse in einer globalisierten Welt. Interkulturelle Bewältigungsstrategien, psychologische Erstbetreuung und Therapie, Kröning 2007, 171 S.
  • Loretta Napoleoni, Die Zuhälter der Globalisierung. Über Oligarchen, Hedge Fonds, ’Ndrangheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme, München 2008, 382 S.
  • Barbara Asbrand, Wissen und Handeln in der Weltgesellschaft. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum Globalen Lernen in der Schule und in der außerschulischen Jugendarbeit, Münster 2009, 264 S.
  • Matthias Lutz-Bachmann /Andreas Niederberger (Hrsg.), Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung, Weilerswist 2009,176 S.
  • Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand (Hrsg.), Globalisierung. Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Oekonomie, Münster 2009, 200 S.
  • Judith Schicklinski, Migration und europäische Zuwanderungspolitik, Stuttgart 2009, 215 S.
  • Witrud Gieseke / Steffi Robak / Ming-Lieh Wu (Hrsg.), Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens, Bielefeld 2009, 250 S.
  • Jörn Rüsen / Henner Laass (Hrsg.), Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwalbach 2009, 366 S.
  • Suzanne Kaplen, Wenn Kinder Völkermord überleben. Über extreme Traumatisierung und Affektregulierung, Gießen 2009, 390 S.
  • Alain Gresh / Jean Ravanyi / Philippe Rakacewicz / Catherin Samary / Dominique Vidal (Hrsg.), Atlas der Globalisierung. Sehen und verstehen, was die Welt bewegt, taz Verlag, Berlin 2009, 216 S. (mit CD-ROM)
  • Kai Hafez, Heiliger Krieg und Demokratie. Radikalität und politischer Wandel im islamisch-westlichen Vergleich, Bielefeld 2009, 279 S.
  • Ghodsi Hejazi, Pluralismus und Zivilgesellschaft. Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaft, Bielefeld 2009, 371 S.
  • Claas Christophersen, Kritik der transnationalen Gewalt. Souveränität, Menschenrechte und Demokratie im Übergang zur Weltgesellschaft, Bielefeld 2009, 279 S.
  • Willi Jasper (Hrsg.), Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur? Berlin 2009, 350 S.
  • Jutta Aumüller, Assimilation. Kontroversen um ein migrationspolitisches Konzept, Bielefeld 2009, 274 S.
  • Stefan Luft, Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration, Ffm, 2009, 417 S.
  • Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Ffm 2010, 468 S.
  • Fabrizio Gatti, Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa, München 2010, 460 S.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245