Luise Bartholdt, Astrid Schütz: Stress im Arbeitskontext
Rezensiert von Prof. Dr. Rüdiger Falk, 19.06.2010

Luise Bartholdt, Astrid Schütz: Stress im Arbeitskontext. Ursachen, Bewältigung und Prävention.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2010.
186 Seiten.
ISBN 978-3-621-27660-3.
D: 34,95 EUR,
A: 35,90 EUR,
CH: 57,00 sFr.
Reihe: Programm PVU, Psychologie-Verlags-Union.
Autorinnen
Luise Bartholdt, Diplom-Psychologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik der Technischen Universität Chemnitz, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften. Frau Professor Dr. Astrid Schütz ist Inhaberin der genannten Professur und renommierte Autorin zahlreicher Veröffentlichungen in diesem Themenfeld.
Entstehungshintergrund
Stress ist in der Arbeitswelt weit verbreitet: jeder vierte Arbeitnehmer steht bei der Arbeit ständig unter Stress. Die Frage lautet daher, ob Stress und Arbeit untrennbar miteinander verbunden sind? Man könnte sogar noch weiter als die Autorinnen gehen und fragen, ob Stress bei Führungskräften nicht zu einem konstitutiven Element ihrer Arbeit geworden ist: wer nicht gestresst ist, arbeitet nicht richtig? Vor diesem Hintergrund wollen die beiden Autorinnen den aktuellen Stand der berufsbezogenen Stressforschung darstellen und insbesondere Möglichkeiten zeigen, wie dem Stress begegnet werden kann.
Stress betrifft vielfach Personengruppen, die emotional mit ihrer Arbeit verbunden sind wie die sozialen Berufe. Insofern ist es gerade für diese Berufsgruppen ein relevantes Thema.
Das Interesse an diesem Thema wurde durch Prof. Dr. Lothar Laux geweckt, mit dem Frau Dr. Schütz die Studie «Streßbewältigung und Wohlbefinden in der Familie» im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Band 108 der Schriftenreihe des BMFSFJ, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 2001) erstellt hatte.
Aufbau
Die Publikation bewegt sich im interdisziplinären Bereich von Psychologie, Medizin, Personalwirtschaft/Organisationslehre und Berufspädagogik. Sie soll Betroffenen und Personalverantwortlichen aufzeigen, wo Prävention und Abhilfe möglich sind. Hierbei geht es nicht nur um individuelle Hilfestellungen, sondern auch um Hilfen auf organisatorischer und struktureller Ebene. Damit verlassen die beiden Autorinnen den Boden der Persönlichkeitspsychologie und gehen auch auf die betrieblichen Arbeitsbedingungen als Determinanten von Stress ein. Entsprechend dieser Zielsetzung ist das Buch in zwei Teile gegliedert:
- Teil I «Stress am Arbeitsplatz: Was ist das?» zeigt die Auslöser von Stress im Arbeitsleben auf: zu viel oder zu wenig Arbeit, Probleme im Umgang mit Kollegen oder Kunden oder die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf. Zudem werden die Folgen des Stresses skizziert.
- In Teil II «Wie kann man mit Stress am Arbeitsplatz umgehen?» widmen sich die Autorinnen der Bewältigung von Stress. Auch hier werden entsprechend dem interdisziplinären Ansatz sowohl die persönlichen als auch die betrieblichen Möglichkeiten geschildert, die Stress reduzieren oder verhindern können.
Am Ende stehen ein kurzes Fazit sowie ausführliche Literatur- und Stichwortverzeichnisse.
Inhalte
In einer kurzen Einleitung werden die wichtigsten statistischen Angaben zum Stress dargestellt: von der Stressbetroffenheit über die hierdurch verursachten Kosten bis zum wissenschaftlichen Interesse. Zudem werden die Zielgruppen definiert.
Kapitel 1 geht auf den Kontext Arbeit ein. Es werden die Veränderungen der Arbeitswelt geschildert, Definitionen gegeben – im Layout hervorgehoben – und Anregungen zum Weiterdenken gemacht. Der zweite Teil dieses Kapitels beschäftigt sich mit den Verschiebungen der Belastungen in der Arbeitswelt und den daraus resultierenden Erkrankungen. Am Ende jedes Kapitels steht eine optisch gekennzeichnete Zusammenfassung.
Kapitel 2 definiert, was Stress eigentlich ist. Hierbei werden unterschiedliche Ansätze dargestellt, wobei der weit verbreitete Eustress-/Distress-Ansatz von Hans Selye eher abgelehnt wird. Basis der weiteren Überlegungen zur Stressentstehung ist das kognitive transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus. Neben übersichtlichen Darstellungen finden sich auch hervorgehobene Beispiele oder praxisorientierte Kapitel wie «Stressreaktion am Beispiel Arbeitsplatzunsicherheit», die die theoretischen Ausführungen veranschaulichen. Dargestellt werden die vier Ebenen der Stressreaktionen: körperlich, kognitiv, emotional und behavioral. Ein für das Verständnis der weiteren Ausführungen wichtiges Kapitel sind die «hirnphysiologischen Veränderungen» mit den beiden Stressachsen (S. 35 ff.).
Den Folgen von Stress wird in Kapitel 3 nachgegangen. Die Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff sowie dem Salutogenese-Konzept als Gegenentwurf zum Pathogenese-Konzept bilden die Einleitung. Es folgen Erklärungen zu Stressreaktionen inklusive Erkrankungen, denen dann themenbezogen eine Untersuchung von Stressauswirkungen auf die Arbeitsleistung folgt. Auf der Verhaltensebene kann Stress den Schlaf rauben und die Ausführungen enden mit dem Burnout.
Was sind denn nun Stressoren? In Kapitel 4 werden diese übersichtlich dargestellt, aber auch auf deren Subjektivität hingewiesen. Es lassen sich jedoch einige intersubjektive Stressoren beschreiben: der Rollenstress, z.B. die Ambiguität, wenn man nicht weiß, was erwartet wird oder Über- und Unterforderung. Soziale Stressoren wie Mobbing oder die emotionale Dissonanz beim eigenen Erleben werden ebenso geschildert wie strukturelle und organisatorische Stressoren, z.B. den Konflikt zwischen Privat- und Berufsleben.
Menschen haben unterschiedliche Ressourcen persönlicher und externer Art zur Verfügung, um mit den Stressbelastungen umzugehen. Diese wirken, wie in Kapitel 5 gezeigt wird, direkt auf die Stressreaktion oder Puffern Stress. In der Persönlichkeit ist angelegt, wie gut Stress beherrscht werden kann: positiv gestimmte Menschen, die Veränderungen akzeptieren, sehen sich in der Lage, ihre Umwelt entsprechend zu verändern.
Der Teil II widmet sich den Fragen, wie man mit Stress am Arbeitsplatz umgehen kann. In Kapitel 6 werden kurz die Ansatzpunkte beschrieben: die Stressoren selbst, die individuelle Bewertung der Stressoren, die Bewältigungsstrategien, die Stressreaktionen oder die Stressfolgen.
Kapitel 7 beschreibt das betriebliche Gesundheitsmanagement. Arbeitsschutz ist die korrektive und Gesundheitsförderung die prospektive Perspektive. Das betriebliche Gesundheitsmanagement wird als ganzheitlicher Ansatz verstanden und es wird geschildert, wie stressbezogene Interventionen sowohl personen- als auch bedingungsorientiert angelegt sein können.
Bei den personenbezogenen Maßnahmen handelt es sich um Stressmanagement-Trainings, die sehr umfassend von Informationen, über kognitiv-behaviorale Techniken bis hin zu Entspannungstechniken und Veränderung der Arbeitssituation führen. In Kapitel 8 werden unterschiedliche Trainings beschrieben und hinsichtlich ihrer Wirkungen analysiert.
Entsprechend der Struktur der Publikation folgt folgerichtig in Kapitel 9 eine Darstellung der bedingungsbezogenen Maßnahmen. Themen wie Arbeitsgestaltung, Wirksamkeit verhältnispräventiver Maßnahmen und ausgewählte verhaltenspräventive Maßnahmen werden nur kurz skizziert. Mit Ausnahme der verhaltenspräventiven Maßnahmen handelt es sich eher um personal- bzw. organisationswirtschaftliche Themen, die nur kursorisch behandelt werden. Dieses ist angesichts der Vielzahl der anderen Informationen zu verschmerzen, zumal die Schnittstellen definiert sind und Personalverantwortliche hier selbst weiterarbeiten können.
Diskussion
Die Publikation ist interdisziplinär angelegt, weitgehend jedoch aus dem Blickwinkel der Persönlichkeitspsychologie geschrieben. Zudem finden sich starke Bezüge zur Medizin, insbesondere zur Neurologie. Dies entspricht einerseits den jüngeren Ansätzen zu einer Neuroökonomik, wie sie vor allem im Marketing entwickelt wird, und andererseits dem Spannungsfeld der Psychologie: immer schon gab es stärker naturwissenschaftlich ausgerichtete Ansätze mit den entsprechenden Hochschulabschlüssen im Widerstreit mit den eher geisteswissenschaftlich ausgerichteten Ansätzen. Die Zusammenführung und unterschiedlichen Erklärungsansätze sind einer der großen Herausforderungen der derzeitigen wissenschaftlichen Diskussion.
Wenn auf die umfassende psychosoziale Funktion der Erwerbsarbeit verwiesen wird, dann ist dies letztlich die Frage nach der Bedeutung eines «Berufs», einer Berufung entsprechend des lateinischen Begriffs (con-)vocatio für das Individuum und die Gesellschaft. Stress – auch wenn der Begriff uneinheitlich gebraucht wird – ist ein subjektives Phänomen: eine Person fühlt sich herausgefordert, eine andere durch dieselbe Situation überfordert. Hier hätte man sich eine stärkere Einbeziehung der berufspädagogischen Betrachtung gewünscht.
Aber dieses soll die Bedeutung der Publikation nicht schmälern, eher im Gegenteil: das Phänomen Stress ist eben nicht nur im einzelnen verankert, sondern auch in seiner beruflichen Umwelt. Es ist ein äußerst erfreulicher Ansatz, dieses Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. In einer in immer kleinere Teilwissenschaften sich aufteilenden Wissenschaftslandschaft ist es gar nicht hoch genug zu bewerten, dass die Autorinnen nicht der Versuchung erliegen, nur einen Teilaspekt zu untersuchen, sondern das Ganze.
Sehr positiv zu bewerten ist die verständliche Sprache, die auch Praktiker aus der Personalwirtschaft und Betroffene verstehen können. Es ist eines der wenigen Bücher, die im besten Sinn «amerikanisch» sind: einfach und allgemeinverständlich geschrieben, ohne dabei Plattitüden, Rezepte oder Allgemeinaussagen aneinander zu reihen. Unter der Allgemeinverständlichkeit leidet nicht die Wissenschaftlichkeit, im Gegenteil: es sind alle relevanten Theorien und empirischen Ergebnisse zitierfähig wiedergegeben. So schreiben Autorinnen, die ihr Fach beherrschen und die sich nicht hinter einer Fachsprache verstecken müssen.
Fazit
Diese Publikation ist sehr lesens- und empfehlenswert, da sie auf wenigen Seiten zahlreiche Informationen zum Thema Stress in der Arbeitswelt gibt. Der interdisziplinäre Ansatz dürfte es Personalverantwortlichen, die überwiegend betriebswirtschaftliche und juristische Fakultas haben, nicht immer einfach machen, alles zu verstehen und zu transferieren. Andererseits ist dieser «Blick über den Tellerrand» auch eine Chance, aus den gewohnten Bahnen auszubrechen. Die vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und die gute Sprache machen diese Publikation so spannend wie einen Krimi: fundiert informiert und Spaß am Lesen – was will man mehr?
Rezension von
Prof. Dr. Rüdiger Falk
em. Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Human Resource Management und Berufsbildung sowie Sportmanagement an der Hochschule Koblenz
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Zitiervorschlag
Rüdiger Falk. Rezension vom 19.06.2010 zu:
Luise Bartholdt, Astrid Schütz: Stress im Arbeitskontext. Ursachen, Bewältigung und Prävention. Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2010.
ISBN 978-3-621-27660-3.
Reihe: Programm PVU, Psychologie-Verlags-Union.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9386.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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