Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit
Rezensiert von Prof. Dr. Hans-Peter Michels, 29.10.2010
Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen II Der Mut zur Wahrheit.
Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2010.
500 Seiten.
ISBN 978-3-518-58544-3.
D: 39,80 EUR,
A: 41,00 EUR,
CH: 64,50 sFr.
Vorlesung am Collège de France 1983.
Thema
Foucault erörtert im zweiten Teil der Vorlesungen zur „Regierung des Selbst und der anderen“ das „freimütige Sprechen“. Dies ist als Wahrsprechen (parrhesia) zu verstehen, das Mut bzw. den Einsatz der ganzen Person erfordert. Anhand zentraler Texte der abendländischen Philosophie, u.a. einiger Texte von Platon zu Sokrates, analysiert er, welche Lebensweisen und -perspektiven es sind, die es bestimmten Personen ermöglichen, sich Wahrheit über die Bildung des „ethos“ oder des Subjekts anzueignen und diese dann öffentlich unter Risiko des eigenen Lebens zu artikulieren. Das – so Foucault – sei die Intention von Sokrates gewesen, die er letztendlich mit seinem Leben bezahlt habe.
Autor
Michel Foucault (1926 – 1984) zählt zu bekanntesten Philosophen (respektive Psychologen oder Soziologen) des 20. Jahrhunderts.
Entstehungshintergrund
Foucault lehrte ab 1971 bis zu seinem Tode 1984 als Professor für „Geschichte der Denksysteme“ am Collège de France in Paris, der wissenschaftlichen Institution mit der höchsten Reputation in Frankreich. Etwa zur gleichen Zeit arbeiteten dort u.a. Pierre Bourdieu und Georges Duby.
Die Professoren am Collège de France sind an keine Ausbildungsaufgaben gebunden, sondern sie sind nur den Hörern zur Darstellung ihrer neuesten Forschungsergebnisse verpflichtet.
Foucaults Buch beinhaltet die letzten neun zweistündigen Vorlesungen, die er - schon schwer erkrankt - von Anfang Februar bis Ende März 1984 hielt.
Aufbau
Das Buch enthält ein Vorwort von François Ewald und Alessandro Fontana, dann folgen die 9 Vorlesungen von Foucault sowie ein Text des Foucaultkenners Frédéric Gros zur „Situierung der Vorlesungen“.
Aufbau und Inhalt
Foucault legt zunächst seinen Hörern ausführlich dar, was er unter parrhesia (Wahrsprechen) versteht: „Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit seitens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der Mut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert:“ (S. 29)
Foucault unterscheidet diese Art der parrhesia von anderen Formen des Wahrsprechens, der des Propheten, des Weisen, und des Lehrers bzw. Fachmanns. Solche Formen und weitere verallgemeinerte Arten der Veridiktion (z.B. logische und erkenntnistheoretische Verfahren), die in der Philosophie und den Wissenschaften Anwendung finden, sind hinsichtlich der Folgen für den Urheber erheblich risikoloser.
Foucault konzentriert sich in den weiteren Vorlesungen hauptsächlich auf Varianten des Wahrsprechens, die er als die „alethurgischen“ Formen der Veridiktion bezeichnet. Seiner Überzeugung nach sind sie für die Begründung der abendländischen Philosophie essentiell, aber in der weiteren Entwicklung der Philosophie vernachlässigt oder gar verschleiert worden. Um wahr zu sprechen, braucht es Selbsterkenntnis, die man sich alleine und zusammen mit anderen erarbeitet (z.B., indem man sich und anderen Rechenschaft über Lebensvollzüge und Handlungsweisen abgibt sowie spezifische Trainings und Exerzitien übt). Außerdem sollte man bereit sein über sich selbst gegenüber anderen wahrheitsgemäß zu reden, den anderen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und in der Öffentlichkeit, in politischen Angelegenheiten klare Aussagen zu treffen.
Nach Foucault sei Sokrates eine solche aufrichtige Person gewesen, jemand, der Mut zur Wahrheit gehabt habe. Er habe sich – aus Selbstschutz und um seine wirklichen Intentionen realisieren zu können - dem politischen Engagement in der Polis enthalten, gewöhnlich die politischen Debatten gemieden: Auch habe er nicht die politische Rede gewählt, um die Wahrheit zu verbreiten. Sokrates habe sich als eigentliche Aufgabe gestellt, Wahrheit in Bezug auf den „ethos“ zu sagen, also über „…die Art und Weise des Handelns, des Seins und des Verhaltens der Individuen…“ (S. 54) zu sprechen. Er wollte andere zur „Sorge um sich“ anleiten, damit sie ihre Lebensweise überdenken und eventuell verändern.
Sokrates Lebensweise ist nach Foucaults Schilderungen allerdings alles andere als außergewöhnlich. Er führte ein geordnetes – heute würde man sagen „kleinbürgerliches“ - Leben zusammen mit Frau und Kindern im eigenen Heim.
Anders dagegen die Kyniker, deren Mut zur Wahrheit untrennbar mit ihrer Lebensweise verbunden war. Die parrhesia der Kyniker und deren Lebensweise, die Foucault ausführlich erläutert, ist wesentlich radikaler als die von Sokrates. Von Regelmäßigkeit und „Kleinbürgerlichkeit“ sind die kynischen Protagonisten weit entfernt. Sie wählen bewusst ein Leben in Armut: Die selbst gewählte Bedürfnislosigkeit, das Prüfen und Trainieren von Verhaltensweisen (z.B. Hungern, Kälte ertragen) vollzogen sie mit der Absicht, sich unabhängig zu machen, um in jedem Fall die Wahrheit sagen zu können. Daher schreckten sie auch nicht davor zurück, die Herrschenden mit der Wahrheit zu konfrontieren und ein hohes Risiko in Kauf zu nehmen. Handeln und Sprechen standen im Einklang. Sie waren keine Taktiker, Schwätzer noch Politiker, die Wasser predigten, doch heimlich Wein tranken.
Der kynische „ethos“ – so zeigt Foucault – ist auch in der Moderne, in revolutionären Bewegungen, oder bei bestimmten Künstlern zu finden.
An Schriften haben die Kyniker so gut wie nichts hinterlassen, doch der „kynische Mut zur Wahrheit“, der untrennbar verbunden mit der Lebensform ist, scheint durch die Jahrhunderte virulent geblieben zu sein: Die Kyniker verkündeten nicht nur das Wort, sondern ihre Wirkung kommt daher, dass sie den erstrebenswerten „ethos“ lebten.
Diskussion
Foucaults Arbeiten sind im wesentlichen auf drei Dimensionen ausgerichtet: Wissen, Macht und Subjekt bzw. Subjektivierung.
In seinen letzten Vorlesungen zeigt er mögliche Wege auf, wie sich Subjekte aus Machtkonstellationen befreien können. Die Einbindung in Machtnetze ist nicht nur ein Prozess, der von anderen bestimmt wird, sondern das Subjekt selbst ist daran – bis hin zur Selbstunterwerfung und Selbstfesselung – beteiligt.
Am Beispiel der kynischen Lebensform demonstriert Foucault eine Möglichkeit, sich von der Unterwerfung, der Selbstfesselung frei zu machen.
Fazit
Michel Foucaults letzte Vorlesungen sind eine äußerst spannende Lektüre. Er entwirft hier eine neue Lesart hinsichtlich der fundamentalen Texte der abendländischen Philosophie. Diese ist hier keine trockene, nur für Experten zugängliche Disziplin, sondern sie ist Debatte um das „richtige Leben“. Foucault hat mit seinen letzten öffentlichen Reden die Philosophie wieder mehr mit den eigentlichen Intentionen der antiken Philosophen in Verbindung gebracht.
Rezension von
Prof. Dr. Hans-Peter Michels
Dipl.-Psychol.
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Zitiervorschlag
Hans-Peter Michels. Rezension vom 29.10.2010 zu:
Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen II Der Mut zur Wahrheit. Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2010.
ISBN 978-3-518-58544-3.
Vorlesung am Collège de France 1983.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9393.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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