Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen
Rezensiert von Prof. Dr. Jost W. Kramer, 01.11.2001
Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2002. 424 Seiten. ISBN 978-3-423-36264-1. 12,50 EUR.
Einführung in das Thema
Anders als es der Titel vermuten lässt, geht es Sen in seinem Buch nicht um die Frage, wie man eine gerechte und solidarische Marktwirtschaft aufbaut. Sein Erkenntnisinteresse geht weit darüber hinaus und stellt auf die (Weiter-)Entwicklung von Gesellschaften ab. Dabei versteht er den Entwicklungsgedanken durchaus multidimensional, wobei die wirtschaftliche Entwicklung lediglich eine dieser Dimensionen ist. "Entwicklung als Freiheit", so die wörtliche Übersetzung des englischen Originaltitels, benennt zugleich das Ziel von Entwicklung, nämlich eine möglichst freie Gesellschaft, als auch den Maßstab für die Messung eines erreichten Entwicklungsstandes, nämlich den Grad der existierenden Freiheiten. Diese Kernaussage findet sich denn auch bereits im ersten Satz der Einleitung, wenn Sen konstatiert: "Entwicklung läßt sich, so meine These, als Prozeß der Erweiterung realer Freiheiten verstehen, die den Menschen zukommen." (S. 13)
Aufbau und Inhalte des Buches
Anknüpfend an diese Feststellung werden die verschiedenen Facetten der gegenseitigen Bedingtheit von Freiheit und Entwicklung in den folgenden Kapiteln dargestellt. Dabei kommt es zu Wiederholungen, wodurch die ohnehin nicht leicht nachvollziehbare inhaltliche Struktur des Buches zusätzlich leidet. Jedenfalls drängt sich bei der Lektüre des Buches der Verdacht auf, dass dieses aus den Manuskripten verschiedener Artikel und Vorträge nachträglich zusammen gefügt wurde, ohne die inhaltlichen Redundanzen zu beseitigen.
Dessen ungeachtet ist die Argumentation von Sen durchaus erhellend, Freiheit und Entwicklung miteinander in Zusammenhang zu bringen. So weist er nicht nur darauf hin, dass sein Verständnis von Freiheit zweierlei beinhalte: Nämlich einerseits die Verfahren, aus denen Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten resultieren, und andererseits die tatsächlichen Chancen, die Menschen innerhalb ihrer Lebensumwelt erhalten. "Unfreiheit kann unzulänglichen Verfahren entspringen - beispielsweise der Verletzung des Wahlrechts oder anderer politischer bzw. bürgerlicher Rechte - oder den unzulänglichen Chancen, die man hat, um auch nur minimale Ziele zu erreichen - darunter das Fehlen solch grundlegender Chancen wie die Vermeidung von vorzeitigem Sterben, von Krankheiten oder Hungersnot" (S. 28f).
Sen gelangt auf der Basis dieser Überlegungen zu dem Ergebnis, dass Freiheiten grundsätzlich sowohl eine fundamentale Dimension als auch eine instrumentelle beinhalten. Die fundamentale Natur ergibt sich gewissermaßen ex definitionem, da die Erweiterung von Freiheit als oberstes Ziel von Entwicklung angesehen wird. Entsprechend lässt sich grundsätzlich für jeden Bereich, in dem Entwicklung statt findet (oder statt gefunden haben könnte), überprüfen, ob dies tatsächlich der Fall war. Wenn ja, muss es nämlich zu einer Zunahme an Freiheit gekommen sein, die sich - einen geeigneten Kriterienkatalog vorausgesetzt - auch messen lässt. Aufgrund der Vieldimensionalität kann es dabei durchaus zu Widersprüchen kommen, wie z. B. einer Zunahme an wirtschaftlicher Freiheit (gemessen an gestiegenen Einkommen), aber einer Abnahme an politischer Freiheit (gemessen am Grad politischer Zensur).
Hier zeigt sich zugleich auch der instrumentelle Charakter der verschiedenen Freiheiten, da ihre Ausweitung zugleich den Fortschritt fördern und die Entwicklung voranbringen. Freiheit ist somit sowohl Mittel der Entwicklung als auch ihr Zweck, wobei Sen fünf Arten instrumenteller Freiheit unterscheidet, ohne dass es sich dabei allerdings um eine abschließende Aufzählung handelt: "(1) politische Freiheiten, (2) ökonomische Einrichtungen, (3) soziale Chancen, (4) Transparenzgarantien und (5) soziale Sicherheit. Diese instrumentellen Freiheiten erweitern die Verwirklichungschancen eines Individuums, in größerer Freiheit zu leben, aber sie dienen auch dazu, sich wechselseitig zu ergänzen" (S. 52)
Die folgenden Seiten sind im Wesentlichen der Aufgabe gewidmet, diese definitorischen Vorgaben zu belegen, was Sen in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und in argumentativ bestechender Weise gelingt. So betont er beispielsweise, dass sich die fünf von ihm hervorgehobenen Arten instrumenteller Freiheit nur bedingt substituieren lassen, wie er am Beispiel der amerikanischen Sklaven während des Bürgerkriegs belegt: Ihr Güterkonsum war im Vergleich mit dem Einkommen freier Landarbeiter durchaus gut und ihre Lebenserwartung übertraf die von Industriearbeitern sogar deutlich; dennoch liefen sie weg und auch nach Abschaffung der Sklaverei scheiterten alle Versuche, sie wieder zur Feldarbeit zu bewegen. Selbst hohe Löhne konnten dies nicht bewerkstelligen (S. 42). Die gebotenen ökonomischen Vorteile und die soziale Sicherheit reichten nicht aus, um die anderen Freiheitseinbußen auszugleichen.
Zugleich übt Sen massive Kritik an aktuellen Entwicklungen, immer begründet über und getragen von dem Entwicklungs- und Freiheitskonstrukt, wobei sich diese Kritik an den unterschiedlichsten Freiheitseinschränkungen entzündet. Beispielhaft sei hier auf die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, das fehlende Krankenversicherungssystem in den USA, die rigide Ein-Kind-Politik in China oder die fehlende Selbstbestimmung von Frauen in den verschiedensten Regionen der Welt verwiesen.
Fazit und Anmerkungen
Das Buch fasziniert durch die Verknüpfung des Entwicklungskonzeptes mit dem Freiheitsgedanken, zumal die von Sen aufgeführten Belege für seine Thesen Zustimmung nicht nur hervorrufen, sondern geradezu unumgänglich machen, und der von ihm geübten Kritik an Freiheitseinschränkungen vorbehaltlos zuzustimmen ist. Vor diesem Hintergrund hat Sen ein spannendes Buch vorgelegt, das ein wichtiges Konzept für die gesamte wirtschafts- und entwicklungspolitische Diskussion vorstellt. Denn der Anwendungsbereich seiner These, wonach reale Freiheiten das Ziel von Entwicklung sind, lässt sich mit Fug und Recht nicht nur auf die so genannten "Entwicklungs"länder übertragen, sondern durchaus auch als Maßstab für den Entwicklungsstand von Industrieländern einsetzen (wie Sen auch am Beispiel der Arbeitslosigkeit demonstriert).
Vorbehalte ergeben sich denn auch nicht hinsichtlich des Einsatzes und der Anwendung von Sens Überlegungen, als vielmehr in methodischer Hinsicht: Dadurch, dass er Freiheiten sowohl eine Ziel- wie auch als eine Mitteldimension zuweist (S. 51), gerät seine These, dass Entwicklung als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten zu verstehen sei (S. 13), zur Tautologie. Denn dies bedeutet letztlich, dass durch die Vergrößerung realer Freiheiten (eingesetzt als Mittel) zugleich Entwicklung statt findet und direkt das Ziel erreicht wird, nämlich eben diese Vergrößerung realer Freiheiten. Unklar ist allerdings, ob diese Probleme nur aus einer unglücklichen Terminologie der Übersetzung resultieren oder ob sie bereits im englischen Originalmanuskript bestanden. Somit erscheint die zugrundeliegende Kernthese zwar grundsätzlich tragfähig, ggf. ist aber eine tiefergehende Ausarbeitung erforderlich, verbunden mit einer sprachlichen und sachlichen Differenzierung zwischen Ziel- und Mitteldimensionen.
Diese Rezension bezieht sich auf die im Hanser Verlag im Jahr 2000 erschienen Ausgabe zum Preis von € 23.50 (ISBN 3-446-19943-8).Rezension von
Prof. Dr. Jost W. Kramer
Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre
Hochschule Wismar, Forschungsgruppe für Kooperation, Netzwerke und Unternehmenstheorie
Adjunct Professor für Sozialwirtschaft, insbesondere Genossenschaftswesen, Universität Kuopio (Finnland)
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Zitiervorschlag
Jost W. Kramer. Rezension vom 01.11.2001 zu:
Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag
(München) 2002.
ISBN 978-3-423-36264-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/94.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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