Meinhard Miegel: Exit. Wohlstand ohne Wachstum
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.06.2010

Meinhard Miegel: Exit. Wohlstand ohne Wachstum. Propyläen Verlag (Berlin) 2010. 300 Seiten. ISBN 978-3-549-07365-0. D: 22,95 EUR, A: 23,60 EUR, CH: 41,50 sFr.
Wachstum über alles?
Es ist ja keine neue Entdeckung, dass das „Immer-weiter-immer-schneller-immer-mehr“ im wirtschaftlichen Denken und Handeln der Menschen die Menschheit an die „Grenzen des Wachstums“ gebracht hat, wie dies bereits Dennis L. Meadows u.a., im ersten Bericht an den Club of Rome 1972 prognostiziert und Eduard Pestel mit seinem Appell 1988 an die Politik formuliert hat, nämlich darüber nachzudenken, was „Jenseits der Grenzen des Wachstums“ zu tun sei. Von da an, bis hin zur Analyse über die aktuelle Lage der Welt im Jahr, dass wir Menschen auf einem Planeten lebten, der sich vor der Überhitzung befinde (vgl. die Rezension zu Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2009), ist ein weiter Weg, auf dem sich diejenigen, die im wirtschaftlichen Wachstum das Heil der Menschheit sehen, mit denen streiten, die in der trügerischen Beschleunigung exponentiellen Wachstums (Herman E. Daly) die sichere Katastrophe prognostizieren. Bisher jedenfalls ließen sich die Fronten zwischen diesen Expertenmeinungen relativ gesichert abstecken: Auf der einen Seite die konservativen, marktwirtschaftlich, wachstumsorientierten und neoliberalen Vertreter (vgl. die Rezension zu Sebastian Dullien u.a., Der gute Kapitalismus… und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, 2009), und auf der anderen die eher sozialistisch und marxistisch denkenden Theoretiker einer kritischen internationalen Politischen Ökonomie (vgl. dazu die Rezension zu Eva Hartmann / Caren Kunze / Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung, Macht und Hegemonie, Münster 2009; sowie: Christian Stenner, Hg., Kritik des Kapitalismus, Wien 2010). Die Aufforderung, wie sie 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ in die Welt gebracht hat, wurde dabei eher als Pflichtübung für ein „gutes Leben“ betrachtet, denn als Anlass gesehen, sich lokal und global tatsächlich daran zu orientieren: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Soweit der Tatbestand zum Zustand des menschlichen Denkens und Handelns Hier und Heute.
Autor und Entstehungshintergrund
Wenn sich jemand irrt, hat er das Recht, dies sich und seiner Umwelt einzugestehen. So könnte man damit beginnen, das neue Buch von Meinhard Miegel vorzustellen. Aber Polemik ist nicht angebracht, angesichts der Herausforderungen, denen wir Menschen uns in den Zeiten der Menschheitskrisen – von der Wirtschafts- und Finanz-, bis zur Umweltkrise – gegenüber sehen. Meinhard Miegel hat lange Jahre als Mitarbeiter in CDU-Gremien gewirkt; den Slogan im Grundsatzpapier der CDU - "Ohne Wachstum ist alles nichts", (an dem er mitgewirkt hat?) - steht er heute äußerst skeptisch gegenüber. Mit der Gründung eines gesellschaftlichen Diskussionsforums, „Denkwerk Zukunft“, 2007, will er zur Erneuerung der westlichen Kultur beitragen, „um diese wieder zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu machen“. Als wissenschaftlicher Leiter des von der Ernst Freiberger-Stiftung initiierten Ameranger Disputs im bayerischen Chiemgau, hat Meinhard Miegel 2009 mit dem Thema „Weniger Wohlstand – und doch zufrieden?“ an den Grundfesten des Selbstverständnisses der Menschen in den westlichen Industrieländern gerüttelt, mit der Kritik, dass ihre individuelle Zufriedenheit und ihr jeweiliger gesellschaftlicher Status entscheidend von der Mehrung ihres materiellen Wohlstands durch ein immerwährendes Wirtschaftswachstum abhänge. Was aber wird, wenn diese scheinbar naturgegebenen und als selbstverständlich erachteten Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind?
Inhalt
Da macht sich – ein Konservativer? – auf, um allen im Bundestag vertretenen Parteien, die in ihren Programmen allesamt den Satz stehen haben, gelegentlich etwas verklausuliert und sibyllinisch formuliert: „Die Wirtschaft muss wachsen“, weil es nur so Vollbeschäftigung, Konsumbereitschaft und Steuereinnahmen geben könne, weil nur so die Menschen zufrieden seien, die Leviten zu lesen; aber auch den Zockern und Krisengewinnlern überall in der Welt. Es ist die „Kettenbrief“- Mentalität, die zur jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt habe: „Wie bei diesem ging alles gut, solange sich immer neue Mitspieler fanden – Menschen und Institutionen, die bereit waren, jene hochspekulativen, undurchschaubaren Finanzprodukte und völlig überteuerten Immobilien zu erwerben“. Damit charakterisiert Miegel die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die unfähig ist, ein Umdenken im System und bei den Menschen zu bewirken, sondern bestrebt ist, „Zustände wiederherzustellen, wie sie vor der Krise bestanden“. Das ist Kapitalismuskritik pur! Wie geht der Autor damit um? Im ersten Kapitel setzt er sich mit dem „Wachstumswahn“ auseinander; und zwar sehr konkret an den Fragen nach den materiellen Bedürfnissen der Menschen orientiert. An den Grundbedürfnissen, die für eine humane Existenz notwendig sind – und in vielen Teilen der Erde fehlen – bis hin zu dem, was als „Zufriedenheit“ bei denen zum Ausdruck kommt, die die täglichen Sorgen des Überlebens nicht haben und im materiellen Mehr-Besitz nicht in erster Linie die Erfüllung ihrer Lebensziele sehen. Der Satz wird den Wachstumsbefürwortern wie Hohn klingen: „Wachstum vorrangig zum Zwecke der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen - … das ist unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts schlechterdings nicht mehr hinnehmbar“. Aber wie sollen die vielfältigen, gesellschaftlichen Anforderungen an die sozialen Sicherungssysteme und öffentliche Haushalte bewältigt werden? Ist es die Rente ab 67? Oder ist es gar, wie soeben der Bremer Sozialwissenschaftler und Ökonom Gunnar Heinsohn fordert, die Sozialhilfeleistungen auf fünf Jahr zu begrenzen? Es sind letztlich die allzu vage formulierten Alternativen, die sich als Argumentationsschwäche in Miegels Buch zeigen und vermutlich auch diejenigen aus ihm saugen lassen, die eigentlich nicht gemeint sein können.
Treffen wir tatsächlich den Punkt, wenn wir zwischen „Wachstum“ und „Wohlstand“ unterscheiden? Ist das nicht so wie das Erzeugen eines Echos, das nur von einem bestimmten Standpunkt aus zu hören ist? Der Autor geht dem Zauberwort „Umverteilung“ zwar nicht aus dem Weg, doch er geht es auch nicht eindeutig genug an. Denn es ist einfach nicht richtig, dass der Reichtum, der sich auf eine dünne Schicht lokal und global verteilt, deshalb nicht verteilen ließe auf die Habenichtse, weil der Reichtum der Reichen sich überwiegend als Produktivkapital darstelle; die neueste Weltwirtschaftskrise hat eindeutig gezeigt, dass das nicht so ist. Es ist auch nicht redlich, wenn Miegel die Unterscheidung von Kapitaleigner und Arbeitgeber zu denen der abhängig Beschäftigten dadurch begründet, dass er letzteren empfiehlt, sich von der Vorstellung zu befreien, „die gleichzeitige Ausübung von zwei oder drei Erwerbstätigkeiten sei etwas Anormales oder gar Geringwertiges“. Unter welchen Bedingungen sollen denn abhängig Beschäftigte selbständige Unternehmer sein? Die „freiberufliche“ Altenpflegerin, die ihren getimten Job als Minutenleistungen abrechnet, wird ihm darauf eine andere Antwort geben können. Nur angedeutet und äußerst vorsichtig, aber doch eindeutig geht er mit der Frage um, wie sich die Sozialsysteme, von der Kranken-, Arbeitslosen-, Sozial- bis zur Rentenversicherung, verändern müssen, stagniert wirtschaftliches Wachstum. “In zwanzig Jahren werden staatliche Sozialleistungen allenfalls die Existenz der Menschen sichern können, nicht ihren gewohnten Lebensstandard“; und er erhebt den (sozialen?) Zeigefinger: „Der Sozialstaat ist nämlich nicht nur hilfreicher Vater und gütige Mutter. Er ist auch strenger Vormund und mitunter selbst Tyrann, der seine Mündel nicht mündig werden lässt“. Mit dieser Philippika eröffnet er das Feld, das immer dann herhalten muss, wenn alle anderen Argumente versagen: Der Bürger muss mehr selbst tun! Es ist der „Gemeinsinn“, das freiwillige soziale Engagement, das gefördert werden müsse. Das ist ja nicht falsch; und wir hätten eine friedlichere, gerechtere und humanere Gesellschaft, gäbe es mehr Gemeinsinn und Solidarität unter den Menschen. Ein schaler Beigeschmack bleibt jedenfalls dann, wenn der Appell sich vordringlich an diejenigen richtet, die sowieso auf dem Existenzminimum leben – und denen als Entlastung dient, die den Mehr-Wert des gesellschaftlichen Vermögens selbstverständlich in Anspruch nehmen. Hier gälte der Satz für alle: „Gemeinwesen, in denen individuelle Zufriedenheit und gesellschaftliche Stabilität zwanghaft von Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstandsvermehrung abhängen, sind prekäre Gebilde“.
Fazit
Angesichts der prekären Situation, dass lokal und global die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, ist jeder Versuch, diese menschenunwürdige Situation zu verändern – hin zu einem humanen und gerechten Dasein der Menschen überall auf der Erde – zu begrüßen. Meinhard Miegel hat in seinem Buch, das durchaus als Kultur- und Daseinskritik zu verstehen ist, an keiner Stelle den Begriff „Solidarität“ benutzt; das ist schade und vielleicht gleichzeitig symptomatisch für seinen Ansatz, der an manchen Stellen zu der Einschätzung reizt: „Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht nass!“. Vom Autor ist wohl nicht zu erwarten, dass er zum Systemwechsel aufruft; aber auf die Ursachen der „Schurkenwirtschaft“ (vgl. dazu die Rezension zu Loretta Napoleoni, Die Zuhälter der Globalisierung, 2008) und ihre Auswirkungen auf das lokale und globale Funktionieren des kapitalistischen Wirtschaftssystems hätte er eingehen sollen. Damit wäre dann nicht ein schiefes Bild entstanden, bei dem in erster Linie diejenigen aufgemalt werden, die von dem Wenigen, das sie zum Leben zur Verfügung haben, etwas abgeben sollen, während die anderen, die abgeben könnten, eher zurückhaltend gemeint sind. Trotzdem: Meinhard Miegel spricht in seinem Buch eine Reihe von Aufgaben an, die gesellschaftlich gelöst werden müssen, hoffentlich sozial und human und nicht neoliberal.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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