Peter Schallberger, Bettina Wyer: Praxis der Aktivierung
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Maier, 09.08.2010
Peter Schallberger, Bettina Wyer: Praxis der Aktivierung. Eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung.
UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2010.
200 Seiten.
ISBN 978-3-86764-237-8.
D: 24,00 EUR,
A: 24,70 EUR,
CH: 43,00 sFr.
Reihe: Analyse und Forschung - 65.
Hintergrund und Thema
Seit dreißig Jahren ist die Arbeit mit Arbeitslosen ein rasch wachsendes Arbeitsfeld Sozialer Arbeit. Mit der Philosophie des „aktivierenden Staates“ wurde der Sozialen Arbeit die zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe zugeschrieben, brachliegendes Humankapital zu aktivieren und tendenziell alle arbeitsfähigen in den Arbeitsprozess einzugliedern. Im Diskurs der Sozialen Arbeit wird diese neue Aufgabe teilweise euphorisch als Chance der Sozialen Arbeit begrüßt (exempl. Ronald Lutz), überwiegend wird diese Aufgabenzuschreibung jedoch als Zumutung empfunden für eine auf die Steigerung von Handlungsfähigkeit und Well-Beeing orientierte professionelle Soziale Arbeit, wie sie sich im „sozialpädagogischen Jahrhundert“ entwickelt hat. Diese Kritik beschränkt sich meist auf ideologiekritische theoretische Reflexionen (exempl. Dahme u.a.: Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, 2003). Empirische Untersuchungen über die Praxis dieser „Aktivierung“ erfolgen ganz überwiegend in Form von ökonometrischen Evaluationen aus der Perspektive der „Agenturen“ dieses aktivierenden Staates. Inzwischen liegen auch erste Untersuchungen über „Soziale Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in professioneller Reflexion Sozialer Arbeit“ vor (exempl. Burghardt/Enggruber 2010, vgl. die Rezension). Nun ist eine entsprechende „Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung“ in der Schweiz anzuzeigen.
Autoren und Adressaten
Die Untersuchung zur professionellen Praxis der Sozialen Arbeit bei den schweizerischen Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung wurde durchgeführt am Fachbereich Soziale Arbeit der Fachhochschule St. Gallen unter Federführung des Soziologen Peter Schallberger und unter Mitarbeit von Bettina Wyer. Die qualitativ angelegte Untersuchung wendet sich zunächst an alle, die mit der „Aktivierung“, Qualifizierung und Beschäftigung von Arbeitslosen befasst sind. Darüber hinaus bietet sie allen, die an Sozialer Arbeit interessiert sind, einen wichtigen Beitrag zur Frage der Professionalität wie auch der Frage nach einer spezifischen Sozialarbeitsforschung.
Inhalt
Nach einer knappen Darstellung der Regelungen in Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit in der Schweiz und einem informativen Überblick über einschlägige schweizerische und internationale Evaluationsuntersuchungen wird die Anlage der Untersuchung entwickelt: Als Grundannahme wird formuliert, dass die Soziale Arbeit im Dienste des Workfare-Staates zwar in einem gesetzlichen Auftrag tätig wird, dass der Staat die inhaltliche Präzisierung dieses Auftrages und insbesondere die Wahl der Mittel jedoch der fachlichen Kompetenz einer Profession überlässt. Daraus ergibt sich als Leitfrage, welche Formen und Muster der Ausgestaltung der professionellen Praxis sich herausbilden. Als Hintergrundfolie dient dabei das Professionskonzept von Ulrich Oevermann, der als Leitziel des professionellen Handelns die Erlangung bzw. Zurückerlangung von Handlungsautonomie definiert. – In einer fallrekonstruktiven und vergleichenden Analyse werden 15 Beschäftigungsprogramme untersucht, die Datenbasis bilden 41 nicht standardisierte, themenzentriert offen geführte Interviews mit 23 Programmverantwortlichen bzw. professionellen MitarbeiterInnen und 18 TeilnehmerInnen. Die Interviews wurden sequenzanalytisch ausgewertet unter Orientierung an der „objektiven Hermeneutik“ nach Oevermann. Die Bündelung der Fälle orientierte sich an der Bildung von Idealtypen im Sinne von Max Weber.
In einem ersten Teil werden aus den Interviews mit Programmverantwortlichen und professionellen ProjektmitarbeiterInnen fünf „Leitparadigmen“ im Sinne von Idealtypen beschrieben: „Rettung“, „Disziplinierung“, „Qualifizierung“, „Verwertung“ und „Rehabilitation“. Bei den Typenbeschreibungen wurden systematisch folgende Vergleichsdimensionen bearbeitet: (a) Zielvorstellungen des Handelns, Mandatsverständnis und soziale Ordnungsvorstellungen, (b) korrespondierende Habitusformationen sowie fachliche und weltanschauliche Orientierungen; (c) die Deutung der Klientel und ihrer „Probleme“, (d) die Ausgestaltung des Arbeitsbündnisses und die Förder-/ Aktivierungspraxis und (e) Potentiale und Gefahren, die mit dem jeweiligen Leitparadigma verbunden sind. Während die viel beachteten Untersuchungen von Nadai und Mäder zu dem Ergebnis kommen, dass es bei den Maßnahmen der Schweizerischen Sozialhilfe weder um Qualifizierung noch um berufliche Rehabilitation, sondern letztlich um einen „Konformitätstest“ geht, wird bei dieser Untersuchung deutlich, dass zumindest unter den Leitparadigmen „Rettung“ und „Rehabilitation“ die Programme darauf zielen, ein „professionelles Auffangnetz“ zu bieten und klientenzentriert die psychosozialen Beeinträchtigungen zu bearbeiten.
In einem zweiten Teil wird die Perspektive der Teilnehmenden an den Beschäftigungsprogrammen thematisiert. Bei der fallrekonstruktiven Erschließung des Materials wurden wiederum fünf Idealtypen beschrieben: „Die Realisten“ (transitorische Arbeitslosigkeit), „die Zukunftsorientierten“ (zwischen Autonomie und Anpassung); „die Ämterkarrieristen“ (Leben im Dauerprovisorium); „die Arbeitsmarktgeschädigten“ (die angstbesetzte Arbeit) und „die Schutzbedürftigen“ (gesundheitlich bedingter Ausschluss). Diese Idealtypen werden jeweils in ihren Fallkonstellationen, im Umgang mit den zuweisenden Stellen, sowie in ihrem Arrangement mit der Programmteilnahme dargestellt, wobei – ausführlicher als im ersten Teil – Fallschilderungen mit einfließen. Das offizielle Ziel der Beschäftigungsprogramme, eine rasche berufliche Wiedereingliederung, ist nur für die ‚Realisten‘ und ‚Zukunftsorientierten‘ aufgrund ihrer Fähigkeiten und schlicht ihres jungen Alters real erreichbar, für die ‚Ämterkarrieristen‘, die ‚Schutzbedürftigen‘ und die ‚Arbeitsmarktgeschädigten‘ fehlen die spezifischen Stellen im ersten Arbeitsmarkt. Dieser – überwiegend realistisch wahrgenommene – Widerspruch wird zu einer kaum überwindbaren Hürde für die Ziele der Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und der Identitätsentwicklung. Für diese Gruppen wird der Widerspruch zwischen dem Anspruch der Programme und der Realität des Arbeitsmarktes zu einer permanenten persönlichen Herausforderung und Belastung.
In einem abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung vor dem Hintergrund des Forschungsstandes und der Theoriediskussion reflektiert. Leitfrage ist dabei, ob die Programmteilnahme ermächtigend in dem Sinne wirkt hat, dass mit ihr eine psychosoziale Stabilisierung, eine Qualifizierung oder irgendeine andere Form der Verbesserung der Arbeitsmarktfähigkeit verbunden ist, oder ob der einzelne Teilnehmer frustriert, demotiviert und entmutigt aus dem Programm austritt. Als Erfolgsfaktoren erscheinen ein konsequent klientenzentriertes Mandatsverständnis sowie eine durchgehend professionelle Haltung der Projektmitarbeiter verbunden mit hohen falldiagnostischen Kompetenzen und das Angebot von potentiell Sinn stiftenden Tätigkeiten. Voraussetzung für ein erfolgreiches Operieren ist jedoch, dass das „Versprechen auf verbesserte Arbeitsmarktchancen auf Dauer nicht leer bleibt“. Erschwerend wirken die Unfreiwilligkeit und die oft unzureichende Passgenauigkeit des Angebots: Das Problem der Unfreiwilligkeit der Teilnahme kann nur überwunden werden, wenn „es den einzelnen Professionellen gelingt, die mit dem amtlichen Aufgebot dementierte Freiwilligkeit der Teilnahme sekundär wieder herzustellen“. Das „Passungsproblem“ ist von Anbietern mit einer breiten Palette von Angeboten am Ehesten zu erfüllen, insbesondere bei kleinen Anbietern scheitert der Erfolg der Aktivierung oft an der mangelnden „Passung“ des Angebots für die Teilnehmer. Als Ergebnis wird festgehalten, dass die Angebote zur vorübergehenden Beschäftigung nur sinnvoll sind, wenn sie auf die Probleme und Bedürfnisse der Teilnehmer „passen“.
Bei der Gesamtbeurteilung der Beschäftigungsprogramme wird festgehalten, dass die tatsächliche Reintegrationsquote kein geeigneter Indikator für den Erfolg der Maßnahmen darstellt, die positiven Effekte der Beschäftigungsprogramme werden erst sichtbar, wenn man davon ausgeht, dass diese Maßnahmen der (Re-)Integration in den ersten Arbeitsmarkt vorgelagert sind. Die (Wieder-)Erlangung von Handlungsfähigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstachtung wird am Ehesten erreicht unter dem Leitparadigma der „Rettung“ oder auch der „Rehabilitation“. Die Unterstützungsleistungen sind nur dann effektiv, wenn sie durch die Teilnehmenden erwünscht sind und ihnen kein bevormundendes „pädagogisierendes“ oder gar infantilisierendes Moment anhaftet.
Diskussion
Der Wert dieser Studie liegt zunächst darin, dass die professionelle Praxis der Sozialen Arbeit in „Aktivierungsmaßnahmen“ der Arbeitsmarktförderung untersucht wird und konsequent von einer eigenen professionellen Zielsetzung ausgegangen wird. Dabei werden auch jenseits der Integration in das Erwerbsleben positive Effekte dieser Arbeit sichtbar. Als zentrales Problem wird herausgearbeitet, dass für viele Teilnehmer dieser Maßnahmen keine „passenden“ Arbeitsplätze angeboten werden können und deswegen auch die erwarteten Effekte einer Stabilisierung der Persönlichkeit im Sinne eines Autonomiegewinns in Frage gestellt sind. Unbefriedigend bleibt die Feststellung, dass diese Diskrepanz zwischen Ziel und Erreichbarkeit den Teilnehmern aufgebürdet wird und damit das Lebenslaufregime der Erwerbsarbeitsgesellschaft zwar als problematisch erkannt, aber letztlich nicht hinterfragt wird. Damit stellt sich als zentrale Frage und Aufgabe, wie Soziale Arbeit mit den aus der Erwerbsarbeit tendenziell Ausgeschlossenen Perspektiven einer sinnvollen Biografie jenseits der Erwerbsarbeit entwickeln kann.
Fazit
Das Buch bietet wichtige Informationen über die Praxis und die Leistung der professionellen Sozialen Arbeit in Maßnahmen der „Aktivierung“ und der vorübergehenden Beschäftigung. Es bietet interessante Materialien und Überlegungen für die aktuelle Diskussion um Professionalität und Professionalisierung Sozialer Arbeit und ist zugleich ein gutes Beispiel für eine spezifische Sozialarbeitsforschung. Es wird jedoch auch deutlich, wie Soziale Arbeit hilflos wird, wenn sie dem traditionellen Lebenslaufregime der Erwerbsarbeit verhaftet bleibt und es nicht gelingt, alternative Perspektiven zu entwickeln.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Maier
Website
Es gibt 7 Rezensionen von Konrad Maier.
Zitiervorschlag
Konrad Maier. Rezension vom 09.08.2010 zu:
Peter Schallberger, Bettina Wyer: Praxis der Aktivierung. Eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2010.
ISBN 978-3-86764-237-8.
Reihe: Analyse und Forschung - 65.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/9423.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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